09.04.2020

Die Stunde von Big Pharma

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Die Stunde von Big Pharma

von Quentin Ravelli

Yuya Suzuki, Archegraph Study Beijing, 2019, Buntstift auf Papier, 28 x 21 cm
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Wirtschaftskrisen sind bei der Wahl ihrer Opfer ebenso selektiv wie Epidemien: Als ­Mitte März die Börsenkurse einbrachen, stiegen die Aktien des US-Pharmaunternehmens Gilead gegen den Trend um 20 Prozent: Das Unternehmen hatte angekündigt, gegen Covid-19 erste klinische Studien mit dem ursprünglich gegen Ebola entwickelten Medikament Remdesivir zu starten.

Die US-Biotech-Firma Inovio Pharmaceuticals konnte einen Gewinn von 200 Prozent verbuchen, nachdem sie erste Experimente mit dem Impfstoff INO-4800 angekündigt hatte. Die Aktien des ebenfalls US-amerikanischen Schutzmaskenherstellers Alpha Pro Tech schossen um 232 Prozent nach oben, und bei der US-Firma Co-Diagnostics waren es sogar über 1370 Prozent, denn die Firma vertreibt die Tests zur molekularen Diagnostik des Virus Sars-CoV-2.

Wie ist es möglich, dass man sich mitten in der Katastrophe – jedenfalls kurzfristig – derart bereichern kann, während sogar für Ärzte und Pflegepersonal Schutzmasken fehlen und die Corona-Tests drei Monate nach Ausbruch der Epidemie für die meisten Franzosen nicht zur Verfügung stehen? Weltweit wird über Testkapazitäten diskutiert, von Südkorea über Deutschland, Australien und die Lombardei bis in die USA – aber nicht in Frankreich, wo Jérôme Salomon, Generaldirektor im Gesundheitsministerium, sie erst „nach Beendigung der Ausgangssperre“ großflächig einsetzen will.

Die französische Regierung sagt, wir befänden uns in einem Krieg gegen das Virus, in dem unsere einzige Waffe die Quarantäne sei. Doch in Wahrheit geht es um unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung: Es handelt sich um eine politische Krise im Gesundheitssystem und in der Arzneimittelforschung und -herstellung, in der die Pharmaindustrie eine entscheidende Rolle spielt, was jedoch in der Öffentlichkeit nicht debattiert wird.

Seit ein paar Wochen enthüllt die Coronavirus-Pandemie die Schwächen eines Gesellschaftsmodells, das den Gesundheitssektor allein an der Idee wirtschaftlicher Rentabilität ausgerichtet hat – ebendeshalb wurden ja immer massivere Mittelkürzungen beim medizinischen Personal und bei den Patienten durchgesetzt. In Frankreich sind die Notfallstationen und Intensivbetten voll belegt, obwohl die Rettungssanitäterorganisation Collectif Inter Urgences (CIU) seit den Streiks im Gesundheitswesen 2019 für eine bessere Ausstattung kämpft. Jetzt müssen Mediziner Entscheidungen von dramatischer Tragweite treffen: Wer – und diese Liste wird immer kürzer – erhält noch Intensivpflege? Wer – und das werden immer mehr – wird nicht mehr adäquat versorgt? In manchen Fällen, wie im Elsass, bedeutet das bereits die Entscheidung, wer am Leben erhalten wird und wen man sterben lässt.

Doch wie lässt sich erklären, dass es am 22. März im Osten Frankreichs bereits 271 Todesfälle gab, während auf der anderen Rheinseite in Baden-Württemberg, wo doppelt so viele Menschen leben und die Epidemie bedeutend früher begonnen hatte, erst 23 Patienten gestorben waren, also nur ein Zehntel?

Diese Frage lässt sich teilweise beantworten, wenn man die strategische Stellung der Pharmaindustrie im französischen Gesundheitssystem betrachtet. Sie produziert die Instrumente, mit denen man Menschen auf das Virus testen, sie behandeln oder impfen kann. Der aktuelle Test beruht auf dem Verfahren der Polymerase-Kettenreaktion (PCR), mit dem kleinste Mengen des Viruserbguts vervielfacht und aufgespürt werden können. Der Test ist leicht herzustellen – und trotzdem in Frankreich absolute Mangelware.

Zahlreiche europäische und US-amerikanische Firmen stürzen sich gerade auf diesen riesigen Markt, der wie ein Geysir aus dem Boden geschossen ist: Abbott, Quiagen, Quest Diagnostics, Thermo Fischer, Roche oder BioMérieux.

Testen, behandeln, impfen

Die Technik selbst kostet nicht viel: Die Herstellungskosten liegen bei 12 Euro, verkauft wird der Test in Frankreich für 112 Euro, von denen die Patienten 54 Euro selbst zahlen müssen. Die Preise könnten allerdings noch kräftig steigen, wenn wenige große Konzerne wie Abbott oder Roche, die jetzt schon den Labors vor Ort überteuerte Technologieplattformen verkaufen,1 den Markt unter sich aufteilen.

Ökonomische Hindernisse allein können jedoch nicht erklären, dass in Frankreich bis zum 20. März nur annähernd halb so viele Corona-Tests durchgeführt wurden wie in Iran oder in Österreich: Im Gegensatz zu Südkorea (316 644), Deutschland (167 000), Russland (143 619) oder Australien (113 615) waren es in Frankreich bis zu diesem Datum noch nicht einmal 40 000.2 In Südkorea kann man sich in seinem Auto oder in Glaskabinen testen lassen, wo Ärzte mit Gummihandschuhen Rachenabstriche nehmen.

Mit einer solchen systematischen Massentestung und der genauen Rückverfolgung aller Infizierten lässt sich die Übertragungskette durchbrechen; dabei werden nur die Kranken isoliert, nicht der Rest der Bevölkerung. Demzufolge gibt es keine so einschneidenden Ausgangssperren, die Sterblichkeit unter den Infizierten ist niedriger, und vor allem ist die Zahl der Toten geringer als in Frankreich.

Neben dem Test wäre die zweite grundlegende Waffe in diesem Krieg gegen das Virus ein Medikament, mit dem man Covid-19 heilen könnte. Einer Mitteilung der chinesischen Regierung zufolge konnten dortige Kliniker mit Favipiravir, dem Wirkstoff des von der japanischen Firma Fujifilm hergestellten Grippemedikaments Avigan, „sehr gute Ergebnisse“ bei der Hemmung des Virus erzielen und den Heilungsprozess beschleunigen.

Ein weiterer Kandidat wäre Kezvara, ein von Sanofi und Regeneron gemeinsam entwickeltes Mittel gegen rheumatoide Arthritis: Der Wirkstoff Sarilumab aus der Gruppe der „monoklonalen Antikörper“ wirkt entzündungshemmend und immunsuppressiv. Bei Covid-19-Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf könnte er die Entzündungsreaktion in der Lunge bremsen.

Solche aus der Not geborenen Umwidmungen medizinischer Wirkstoffe zeugen von mangelnder Vorausschau, wenn nicht gar von opportunistischem Aktivismus. Auch das Argument, man könne Pandemien nicht voraussehen und die Forschung hinke naturgemäß den Entwicklungen hinterher, zieht nicht. Wir sind zwar keine Propheten, aber man kann doch weitblickend handeln und die Forschung an einer ganzheitlichen Vision von Wissenschaft, Medizin und Ökologie ausrichten.

Eine derartige Forschung liefe dann nicht kurzfristig und unter Profitdiktat, sondern würde sich an den realen Bedürfnissen der Menschen auf lange Sicht orientieren. Diese Bedürfnisse werden allerdings von den Märkten nicht adäquat abgebildet: 85 Prozent der Medikamente werden in den Ländern verbraucht, in denen lediglich 17 Prozent der Weltbevölkerung leben, und es gibt mehr Arzneimittelforschung zu Depression und zu Fettleibigkeit als zu Infektionskrankheiten, die nach wie vor an der Spitze der weltweiten Todesursachen rangieren.

Zur ausbleibenden Behandlung dieser „armutsbedingten Krankheiten“ heißt es etwa vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung: „Die für die neuen Medizinprodukte notwendigen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sind kostenintensiv. Aufgrund der Armut der Betroffenen können diese Kosten aber nicht finanziert werden. Für die forschende Pharmaindustrie fehlt daher der wirtschaftliche Anreiz. Die Folge: Seit Jahrzehnten sind kaum neue Medikamente gegen diese Krankheiten erforscht und entwickelt worden.“3

Grundlagenforschung braucht Zeit und Geld

Wenn eine Krise eintritt, führt dieses Missverhältnis zu hanebüchenen Situationen, wie man bei der dritten Waffe gegen das Virus, den Impfstoffen, beobachten konnte. So soll Donald Trump der deutschen Firma CureVac Anfang März im Weißen Haus ein Angebot zum Kauf eines in der Entwicklung befindlichen Impfstoffs gemacht haben, um diesen „allein in den USA“ einzusetzen.

Allerdings dementierte das Unternehmen Mitte März, dass es ein solches Angebot gegeben habe: „CureVac hat vor, während und seit dem Treffen der Task Force im Weißen Haus am 2. März kein Angebot von der US-Regierung oder verwandten Stellen erhalten“, teilte das Management mit.4 Zuvor hatte bereits Kanzlerin Angela Merkel das Thema als „gelöst“ bezeichnet: Die Bundesregierung habe sich „sehr frühzeitig darum gekümmert“.

Letztendlich erhielt das Unternehmen jedenfalls einen EU-Sofortkredit in Höhe von 80 Millionen Euro. Diese peinliche, sicherlich auch im Hinblick auf Wählerstimmen erfolgte Krisendiplomatie verweist auf die Realität in der Industrie: Da die Forschung hauptsächlich durch finanzielle Anreize und die Aussicht auf Patente gesteuert wird, reduzieren die großen Pharmakonzerne ihre Investitionen in wichtigen Bereichen – eben auch bei Arzneimitteln gegen virale oder bakterielle Infektionen.

Die Defizite in der privatwirtschaftlichen Forschung werden durch öffentliche Forschungsträger nicht aufgefangen. Haushaltskürzungen bedeuten häufig ein jähes Ende geduldig vorangetriebener Projekte. Am 4. März erklärte Bruno Canard, Experte für RNA-Viren wie das Coronavirus, in einem Brandbrief: „Seit 2006 interessiert sich die Politik nicht mehr für Sars-CoV. Europa hat sich im Namen der Steuerzahler von großen Präventionsprojekten verabschiedet. Und wenn jetzt ein Virus auftaucht, dann sollen die Forscherinnen und Forscher bis zum nächsten Tag eine Lösung finden.“ Bereits vor fünf Jahren habe er gemeinsam mit belgischen und niederländischen Kollegen die Europäische Kommission zu mehr Voraussicht gemahnt, so Canard.5

Die Forschung mochte noch so oft versichern, dass „Grundlagenforschung unsere beste Versicherung gegen Epidemien ist“.6 Immer wieder musste sie feststellen, dass bestimmte Zweige der Virologie und Bakteriologie finanziell vernachlässigt werden – ob es um angewandte Pharmaforschung oder mikrobiologische Grundlagenforschung geht. Der „Blitzaufruf“ der französischen nationalen Forschungsbehörde, die jetzt 3 Millionen Euro verspricht, wirkt nach Jahren der Mittelkürzungen und anderer, ähnlicher Epidemien ziemlich peinlich.

Nach der in China ausgebrochenen Sars-Epidemie von 2003 mit 8096 Infizierten und 774 Toten in etwa 30 Ländern und dem Mers-Coronavirus, das 2015 zunächst auf der Arabischen Halbinsel schwere Lungeninfektionen auslöste, hat Südkorea seine Gesundheitspolitik neu ausgerichtet und damit die Grundlagen für seine heutige Effizienz gelegt. Offenbar braucht es große, wiederholte Katastrophen, um das Gedächtnis der Regierungen wachzuhalten – und selbst inmitten einer solchen Katastrophe gewinnt häufig die Amnesie.

1 Pressemitteilung der französischen Beobachtungsstelle für Transparenz in der Arzneimittelpolitik (Observatoire de la Transparence dans les Politiques du Médicament) vom 18. März 2020.

2 Esteban Ortiz-Espina und Joe Hasell, „How many tests for Covid-19 are being performed around the world?“, Our World in Data, 20. März 2020.

3 „Armutsbegünstigte Krankheiten“, Bundesministerium für Bildung und Forschung.

4 Siehe Spiegel Wissenschaft, CureVac dementiert US-Übernahmeangebot, 17. März 2020.

5 Bruno Canard, „Coronavirus: la science ne marche pas dans l’urgence!“, Website der Offenen Universität (Université ouverte), 4. März 2020.

6 Bruno Canard, „La science fondamentale est notre meilleure assurance contre les épidémies“, CNRS Le Journal, 13. März 2020.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Quentin Ravelli ist Soziologe, er forscht am Nationalen Forschungszentrum in Frankreich (CNRS) und ist der Autor von „La stratégie de la bactérie“, Paris (Le Seuil) 2015.

Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, von Quentin Ravelli