09.10.2009

Verdeckter Krieg im Jemen

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Verdeckter Krieg im Jemen

von Pierre Bernin

Seit Juni 2004 bekämpft das jemenitische Militär in der nordwestlichen Grenzprovinz Saada eine Rebellengruppe. Anführer dieser Gruppe war zunächst der ehemalige Parlamentsabgeordnete Hussein al-Huthi, doch seit dessen Tod im September 2004 ging das Kommando über die „Huthisten“ auf Husseins jüngeren Bruders Abdulmalik über. Im Juli 2008 schien ein Waffenstillstand in Reichweite zu sein,1 doch Mitte August 2009 sind die Kämpfe wieder heftig aufgeflammt.

Die Welt hat diese zähe und brutale Auseinandersetzung, die bereits tausende Menschenleben gefordert und Zehntausende zu Vertriebenen gemacht hat, bislang noch kaum zur Kenntnis genommen. Doch der Konflikt in einer abgeschiedenen Region in der Nähe der Grenze zu Saudi-Arabien, in der die mächtigsten Stämme des Jemen zu Hause sind, könnte leicht eine fatale Kettenreaktion auslösen.

Die Huthi-Rebellen sind Zaiditen. Diese Glaubensrichtung des schiitischen Islams ist vor allem hier, in den Hochebenen des jemenitischen Nordens verbreitet. Insgesamt machen die Zaiditen ein Drittel der Bevölkerung des Landes aus, in dem sie lange eine bestimmende Rolle spielten. Mit der im Iran herrschenden „Zwölferschia“2 haben die Zaiditen wenig gemein. Sie gelten zu Recht als „gemäßigte“ Schiiten, und was Glaubensfragen und islamische Sittenregeln betrifft, so stimmt ihre Lehre weitgehend mit der schafiitischen Rechtsschule3 des sunnitischen Islams überein, zu der sich die Mehrheit der Jemeniten bekennt.

Von der Regierung in Sanaa wird den Rebellen unterstellt, dass sie die Wiedererrichtung des zaiditischen Imamats anstreben, das bis zur Revolution von 1962 Bestand hatte. Innerhalb der damals proklamierten ersten Republik Jemen entwickelte sich ein langer Bürgerkrieg, in dem Ägypten unter Gamal Abdel Nasser die Republikaner mit Truppen unterstützte, während sich Saudi-Arabien auf die Seite der Royalisten schlug. Die bis 1962 regierenden Imame galten als saiyid (als Nachkommen des Propheten) – ein Titel, den auch die Brüder al-Huthi für sich in Anspruch nahmen.

Die Staatsführung ist überzeugt, dass die „Huthisten“ vom Iran unterstützt werden und, ähnlich wie die libanesische Hisbollah, für die Ausweitung einer iranischen Einflusszone im Nahen Osten, des sogenannten schiitischen Halbmonds kämpfen. Natürlich wird diese Bedrohung in Sanaa auch beschworen, um sich die Unterstützung der saudischen Führung zu verschaffen, die den wachsenden Einfluss des Irans mit Misstrauen verfolgt.

Die „Huthisten“ weisen solche Verdächtigungen zurück. Sie wollen, versichern ihre Führer, die Republik keineswegs in Frage stellen, sondern nur die religiöse Identität der Zaiditen schützen, die sie durch besonders strenge Varianten des sunnitischen Islams – wie den Wahhabismus und den Salafismus – bedroht sehen.

Im Bürgerkrieg der 1960er-Jahre war die Region von Saada die letzte Bastion der Royalisten. Dafür rächten sich die republikanischen Führer nach ihrem Sieg, indem sie die Provinz lange Zeit nicht an den staatlichen Entwicklungsprogrammen partizipieren ließen. Als Reaktion auf diese Diskriminierung entstand in den 1980er-Jahren eine zaiditische Erneuerungsbewegung mit eigenen religiösen Zentren, Bildungseinrichtungen und Verlagen. Die Renaissance des Zaidismus blieb nicht auf Saada beschränkt, sondern strahlte insbesondere auch auf die Hauptstadt Sanaa aus. Zu der neuen zaidistischen Bewegung gehörten auch die „Huthisten“.

Obwohl die politische Führungsschicht um Präsident Ali Abdallah Saleh aus zaiditischen Familien stammt, blieben die huthistischen Erneuerer eine kleine Minderheit. Während diese ihre sehr spezielle Identität in Bezug auf die Scharia und die religiösen Praktiken pflegen, unterliegt die Bevölkerungsmehrheit, einschließlich vieler Zaiditen, seit langem einem Prozess der Nivellierung religiöser Identitäten, der durch den republikanischen Staat und sein Bildungssystem gefördert wird. Damit hat die sunnitische wie die schiitische Opposition an Einfluss verloren und kann das politische Geschehen nur noch marginal bestimmen.

Doch diese Nivellierung der Identitäten konnte nicht verhindern, dass die Zaiditen immer stärker ausgegrenzt wurden – stigmatisiert vor allem durch eine salafistische Bewegung, die ein Zweckbündnis mit den Machthabern eingegangen ist. Auch der Konflikt um Saada ist so stark durch diese Spannungen mit den Salafisten geprägt, dass er in einen Kampf der Glaubensrichtungen umzuschlagen droht. Ende August 2009 berichteten einige Medien, dass es bei Kämpfen zwischen „Huthisten“ und Studenten des salafistischen Instituts Dar al-Hadith, das Ende der 1980er-Jahre von Muqbil al-Wadii gegründet worden war, mehrere Opfer gegeben habe.4 Die Huthisten dementierten diese Meldungen auf ihrem Internetportal. Aber bereits 2007 waren zwei ausländische Studenten, einer davon ein Franzose, bei ähnlichen Konflikten ums Leben gekommen.

Die Regierung pflegt den Konflikt als ideologische Auseinandersetzung zwischen der Republik und einer extremistischen Sekte darzustellen, die Huthisten dagegen als Widerstand einer religiösen Minderheit gegen staatliche Unterdrückung. Und während sie von unablässigen Provokationen und Übergriffen sprechen, verweist die Regierung auf ihr umfassendes Wiederaufbauprogramm, das sie seit dem Waffenstillstand vom Juli 2008 betreibe. Doch jenseits solcher wechselseitigen Schuldzuweisungen gibt es eine ganze Reihe objektiver Gründe, die seit 2004 eine Beilegung des Konflikts verhindert haben (trotz Waffenstillstand und verschiedener Vermittlungsbemühungen wie zuletzt im Abkommen von Katar von 2007).

Teils Stammesrivalitäten, teils Diadochenkämpfe

Ein wichtiger Faktor sind die wirtschaftlichen Interessen, die sich mit den Rivalitäten innerhalb der Machteliten verschränken. Ein höchst profitables Geschäft ist der Schmuggel von Dieselkraftstoff und Waffen über die Grenze nach Saudi-Arabien sowie von der Küste des Roten Meers in Richtung Horn von Afrika. Manche Offiziere können Waffen aus den Beständen der Armee abzweigen und verkaufen. Die gehen zum Teil ins Ausland, zum Teil aber sogar an die Rebellen, und zwar über Zwischenhändler, die in der Region Saada besonders aktiv sind.

Innerhalb des Regimes ist bereits der Wettstreit um die Nachfolge des seit 1978 regierenden Staatspräsidenten Saleh entbrannt, wobei gegen Ahmed Ali Saleh, den Sohn des Präsidenten – und Befehlshaber der Republikanischen Garde und der Sondereinsatztruppen – einige Rivalen aus der Armee antreten. Damit könnte die Region Saada zum Schauplatz eines Auftragskriegs werden, in dem rivalisierende Clans zum einen wirtschaftliche Ressourcen erobern, zum anderen ihre militärische Effizienz demonstrieren wollen. Im Mai 2008, als sich das Kampfgebiet auf die Region Bani Huschaisch – und damit bis in die Nähe von Sanaa – ausweitete, kamen erstmals Spezialtruppen zum Einsatz. Dabei schlugen sich die Truppen von Ahmed Ali Saleh sehr erfolgreich – im Gegensatz zu den Misserfolgen der regulären Armee in der Provinz Saada.

Aber auch die Stammesführer sind für die Fortdauer des Konflikts mitverantwortlich. Die Rekrutierung von Milizen durch die Huthisten wie die Regierung (die im Juni 2008 eine „Volksarmee“ aus Mitgliedern der Stämme rund um die Provinz Saada bilden wollte) setzte eine neue Spirale der Gewalt in Gang. Dabei speisten sich die Rache- und Vergeltungsaktionen aus den Stammesloyalitäten, die sich in der Folge verselbständigten: Als die Regierung Anfang 2009 Gelder für den Wiederaufbau bewilligte, sperrten sich einige Stämme, die noch Monate zuvor zu den Verbündeten der Armee gehört hatten, gegen einen solchen Kompromiss mit den Huthisten. Sie errichteten Straßensperren und nahmen Geiseln, um Druck auf die Regierung auszuüben.

Diese „Tribalisierung“ des Konflikts ist umso bemerkenswerter, als sie die gängigen Interpretationen in Zweifel zieht, die den Streit entweder auf die politischen Ambitionen der Huthisten zurückführen oder auf eine Konfrontation zwischen Schiiten und Sunniten – inszeniert im Dunstkreis der Macht.

Seitdem verschränkt sich der Konflikt um Saada mit der alten Rivalität zwischen den beiden großen Stammesverbänden der Hochebenen des Nordens. Dabei kämpfen die Haschid auf Seiten der Regierungstruppen, während zahlreiche Stämme der Bakil die Rebellen unterstützen.5 Diese Interpretation bedarf zwar noch einer feineren Differenzierung, hat aber den Vorzug, dass sie erklären kann, warum sich das Kampfgebiet von der Provinz Saada nach Süden ausgeweitet hat, bis in eine Region unweit der Stammesgebiete der al-Usaymat, eines der bedeutendsten Clans der Haschid. Diese etappenweise Ausweitung lässt das volle Destabilisierungspotenzial des Kriegs erkennen. Denn der könnte sich, wenn erst mal die Mechanismen der Stammessolidarität greifen, auf weitere Regionen im Nordjemen ausweiten, insbesondere auf die Provinzen al-Jauf, Amran und Hadscha.

Ein weiterer Faktor ist die wenig hilfreiche Rolle, die andere regionale Akteure spielen. Die Vermittlungsbemühungen von Katar (2007 bis 2008) und das von den Konfliktparteien unterzeichnete Abkommen von Doha hatten nicht die erhoffte Wirkung. Als dann die Kämpfe wieder aufflammten, zog sich Katar aus seiner Vermittlerrolle zurück und widerrief auch seine Zusage von finanziellen Mitteln für den Wiederaufbau und die Entwicklung der Region Saada.

Jemens Nachbar Saudi-Arabien spielt eine zumindest zwiespältige Rolle. Einige Beobachter beschuldigten die Führung in Riad sogar, sie habe die Vermittlungsgespräche in Doha torpediert, um den Einfluss des kleinen Emirats Katar in der traditionellen saudischen Einflusszone Jemen begrenzt zu halten. Offiziell erklärt das saudische Königshaus den Krieg in Saada zur innenpolitischen Angelegenheit des Jemen; andererseits fließen Gelder aus saudischen Quellen sowohl an die Regierung als auch an die Stammesmilizen und tragen damit zur Verlängerung des Konflikts bei.

Die USA und die Europäische Union hingegen sind zu einseitig auf den Kampf gegen den Terrorismus fixiert, um sich für eine friedliche Lösung des Saada-Konflikts einzusetzen. Diese Haltung läuft allerdings auf eine indirekte Blankovollmacht für Sanaa hinaus. Weil die Regierung Saleh jedoch von ihren Verbündeten, vor allem von den USA, wegen ihres mangelnden Engagements im „weltweiten Krieg gegen den Terrorismus“ kritisiert wurde, ist es für sie ganz praktisch, die Rebellion einer Terroristengruppe zuzuschreiben. Sie behauptet sogar, die Aufständischen unterhielten Verbindungen zu al-Qaida, was freilich wenig glaubhaft ist, weil die Huthisten zaiditische Schiiten sind und die salafistische Lehre ablehnen.

Der destabilisierende und äußerst brutale Krieg in Saada hat vor allem zur Folge, dass der Einfluss der Zentralmacht in den Nordprovinzen weiter geschwächt wird. Die politische Repression und die chronische Instabilität in dieser Region begünstigen – zusammen mit der Kriegswirtschaft – die Entstehung radikaler Gruppierungen, von denen einige auch al-Qaida nahestehen. Diesen unseligen Mechanismus illustriert eine Begebenheit vom Juni 2009: Damals wurden mehrere ausländische Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation aus einem Krankenhaus in Saada gekidnappt, von denen drei umgebracht wurden. Obwohl die Regierung das Verbrechen anfangs den Huthisten zuschrieb,6 erscheint es inzwischen als wahrscheinlicher, dass die Täter zu gewalttätigen sunnitischen Gruppen gehören.

Anfang 2009 verkündete Nasir al-Wuhayshi, ein Jemenit, der häufig als ehemaliger persönlicher Sekretär von Ussama Bin Laden bezeichnet wird, die Fusion der jemenitischen und saudischen Kader zur „al-Qaida der arabischen Halbinsel“. Dazu passt, dass die Häufigkeit der Attentate, die al-Qaida zugeschrieben wurden – wie der Anschlag auf die US-Botschaft im September 2008 –, schon seit Anfang 2007 zugenommen hatte, wenn auch nur in Sanaa und im Süden des ehemaligen Südjemen, während die Nordprovinzen weitgehend verschont blieben. Dagegen kam es in den Provinzen des ehemaligen Südjemen seit 2007 – als verspätete Nachwirkung der 1990 vollzogenen Vereinigung von Nord- und Südjemen – zu heftigen Protestaktionen der Bevölkerung, die sich im neuen Einheitsstaat diskriminiert fühlte. Diese Bewegung artikulierte ihre sezessionistischen Ziele umso offener, je deutlicher die Regierung ihre Repression verstärkte.7

Das Regime von Ali Abdallah Saleh hat sich, entgegen vieler Voraussagen, lange an der Macht gehalten und sich dabei einigermaßen stabilisiert. Das erreichte fragile Gleichgewicht erscheint heute jedoch durch die immer neuen Krisen und die Diadochenkämpfe um die Staatsführung ernsthaft gefährdet.8 Sollte diese Entwicklung zum Zerfall des jemenitischen Staats führen, hätte dies unabsehbare Folgen für die gesamte Region.

Fußnoten: 1 Siehe International Crisis Group, Yemen: „Defusing the Saada Time Bomb“, Nr. 86, Brüssel, Mai 2009. 2 Die Zwölferschia, die im Iran dominiert und auch im Irak und im Libanon viele Anhänger hat, sieht im Unterschied zur Orthodoxie des sunnitischen Islams in Ali Ibn Abi Talib, dem Schwiegersohn Mohammeds, den einzig rechtmäßigen Nachfolger des Propheten. Für die Schiiten sind Alis Nachkommen die zwölf legitimen Imame, deren letzter im Kindesalter „entrückt“ wurde. Die Wiederkehr dieses zwölften, „verborgenen“ Imams soll den Beginn einer gerechten Herrschaft markieren. Die Zaiditen gehören zum schiitischen Islam, erkennen aber nur sieben legitime Imame an und teilen nicht die chiliastischen Hoffnungen der Zwölferschia. 3 Der sunnitische Islam kennt vier große Rechtsschulen (madhab), die in der muslimischen Welt ihre regionalen Schwerpunkte haben – die Malikiten vor allem im Maghreb, die Schafiiten im Nahen Osten, vor allem im Jemen sowie in Südostasien, die Hanbaliten auf der arabischen Halbinsel und die Hanafiten in Zentral- und Südasien. 4 Siehe al-Quds al-Arabi (panarabische Tageszeitung), London, 27. August 2009. 5 Siehe al-Sharea (unabhängige jemenitische Wochenzeitung), Sanaa, 2. Juni 2007. 6 Die Rebellen wiesen die Anschuldigung zurück und organisierten nach dem Auffinden der drei toten NGO-Mitarbeiter sogar eine Protestkundgebung gegen die Entführung. 7 Franck Mermier, „Yémen: le Sud sur la voie de la sécession?“, Echogéo, Juni 2008; echogeo.revues.org/index5603.html. 8 Siehe dazu Laurent Bonnefoy, „Saleh, Jongleur der Macht“, Le Monde diplomatique, Oktober 2006.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Pierre Bernin ist Forscher.

Le Monde diplomatique vom 09.10.2009, von Pierre Bernin