09.01.2020

Die pränatale Klassengesellschaft

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Die pränatale Klassengesellschaft

von Laura Hercher

SIGRID GOMBERT/picture alliance/Cultura RF
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Würden Sie einen Gentest machen, um Ihr noch ungeborenes Kind vor einem Leben mit einer unheilbaren Krankheit zu bewahren? Was vor noch nicht allzu langer Zeit nach Science-Fiction klang, ist für viele werdende Eltern zu einer sehr konkreten Fragestellung geworden.

Der 2011 zuerst in den USA und in Hongkong eingeführte nichtinvasive molekulargenetische Test (NIPT) nach Blutentnahme bei der Schwangeren gehört inzwischen weltweit zu den am meisten angewandten Gentests überhaupt – in der Schweiz und in Deutschland ist er seit 2012 verfügbar. Die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland soll „in begründeten Einzelfällen“ die Kosten übernehmen, der Beschluss dazu wird voraussichtlich Ende 2020 gefasst. Im Vergleich mit den invasiven Methoden mit erhöhtem Fehlgeburtsrisiko – wie etwa bei der Entnahme von Fruchtwasser – ist der NIPT-Test risikoarm, schnell und schon ab der 9. Schwangerschaftswoche möglich.

Umfragen ergeben selten Einwände gegen Gen- und Reproduktionstechnologien, mit denen unheilbare Krankheiten diagnostiziert oder verhindert werden können. In einer Studie, die 2018 von der Universität Chicago in Auftrag gegeben wurde,1 befürworteten die Befragten zum Beispiel Eingriffe, die das lebenslange Krebsrisiko verringern. Dass Eltern die Augenfarbe oder Intelligenz für ihren Nachwuchs aussuchen können, wurde hingegen abgelehnt. „Designerbabys“ sind wie Designerjeans etwas für die Bessergestellten, und die Leute reagieren unwirsch, wenn sie sehen, dass die Chancenungleichheit nun schon vor der Geburt beginnen soll.

Dabei werden uns in nächster Zeit wahrscheinlich gerade die negativen Auswirkungen der Verhinderung von Krankheiten herausfordern – also das Einzige an Designerbabys, das wir gut finden. Doch was kann schlecht daran sein? Haben wir nicht alle etwas davon, wenn es keine Erbkrankheiten mehr gibt? Leider nein – und eine erste Warnung ist der Umgang mit Trisomie 21 (Downsyndrom), der am meisten verbreiteten Chromosomenanomalie.

Seit Jahrzehnten schon bietet man Schwangeren dementsprechende Tests an. Doch Trisomie 21 ist wie viele genetische Mutationen komplex und variabel. Es ist eine Abweichung und keine Krankheit, auch wenn Menschen mit Downsyndrom gesundheitlich eingeschränkt sind, etwa durch angeborene Herzfehler. Über ihre Selbstwahrnehmung befragt, antworteten 99 Prozent von 284 Personen mit Downsyndrom, die 2011 von dem Forscherteam um Brian Skotko, Sue Levine und Richard Goldstein befragt wurden, sie seien zufrieden mit ihrem Leben.2

Nicht alle werdenden Eltern lassen einen Trisomie-21-Test machen, und wenn das Ergebnis positiv ist, beschließen auch nicht alle, die Schwangerschaft abzubrechen; eine signifikante Mehrheit aber doch. Die bislang umfassendste Langzeitstudie über Schwangerschaftsabbrüche bei Downsyndrom in den USA wurde 2012 publiziert: Zwei Drittel der Schwangerschaften mit positivem Trisomie-21-Test wurden abgebrochen – wobei Traditionen, Glaubensüberzeugungen, der Wohnort und die Einkommensverhältnisse offensichtlich maßgeblich dazu beigetragen, ob eine Frau ein Baby mit Downsyndrom austrägt oder nicht.3

Bald wird der Trisomie-21-Test jedoch nur einer unter vielen sein, die Embryos auf Chromosomenanoma­lien, Erbkrankheiten und erblich bedingte Behinderungen testen. Welcher Gebrauch dann von diesen Informationen gemacht wird, sagt einiges darüber aus, welche Risiken die werdenden Eltern für noch oder nicht mehr vertretbar halten. Test und Testergebnis treffen auf den großen Kummer der werdenden Eltern, die abwägen müssen, ob sie eine gewollte Schwangerschaft nun tatsächlich beenden wollen.

Anders sieht die Sache aus, wenn man bei einer künstlichen Befruchtung den oder die Embryos auswählen kann, die eingepflanzt werden sollen. In den USA ist die In-vitro-Befruchtung dank der Präimplantationsdiagnostik (PID) eine Wachstumsbranche, die allerdings auch ihren Preis hat – finanziell, emo­tio­nal und gesundheitlich.

Heute sind immer mehr Screenings auf dem Genanalyse-Markt erhältlich, dank derer hunderte seltene Krankheiten identifiziert werden können. Die Screenings müssen meist aus eigener Tasche bezahlt werden. Doch die Kosten der Untersuchung sind nichts im Vergleich zu den Kosten, die entstehen, wenn man ihren Ergebnissen entsprechend handeln will.

Erfahren zum Beispiel Joe und Jane durch ein Screening vor der Zeugung, dass sie mit 25-prozentiger Wahrscheinlichkeit ein Baby bekommen, das schon im Kindesalter stirbt, werden sie sich vielleicht für eine künstliche Befruchtung entscheiden; und die kostet etwa 20 000 Dollar pro Zyklus, plus weiteren 10 000 für die maßgeschneiderten Laborarbeiten, bei denen festgestellt wird, welcher der Embryonen die Krankheit nicht bekommen wird.

Bezahlen das die Krankenversicherungen? Da gibt es erhebliche Unterschiede. Vielleicht kommen sie für die künstliche Befruchtung und die hormonellen Stimulationsmedikamente auf, nicht aber für die Laborarbeiten, die für die pränatale Gen­dia­gnos­tik notwendig sind; oder sie zahlen Letztere und nicht die künstliche Befruchtung – eine Kombinationen, die ein Arzt einmal so beschrieb: „Es ist, als zahle man für die Bypass-OP, aber nicht dafür, den Brustkorb zu öffnen.“ Die meisten Versicherungen zahlen ohnehin gar nichts, und wenn doch, dann womöglich nicht für Joe und Jane, weil die nicht im eigentlichen Sinne unfruchtbar sind.

Wohlhabende Familien mit BRCA-1- oder BRCA-2-Mutationen im Erbgut, die das Risiko für Brust- und Eierstockkrebs massiv erhöhen, können sich binnen einer einzigen Generation von dieser Geißel befreien. Für ärmere Familien, einerlei welche Risiken bestehen, schließt der finanzielle Aufwand eine künstliche Befruchtung von vornherein aus.

In den USA entstehen im Durchschnitt nur 2 Prozent der Neugeborenen durch künstliche Befruchtung, während es in Ländern, in denen die Kosten von den Krankenkassen übernommen werden, wie in Israel, Dänemark oder Belgien, zwei- oder dreimal so viele sind. Vierzig Jahre nach ihrer Einführung in den USA bleibt die künstliche Befruchtung für einen Großteil der US-amerikanischen Bevölkerung unerschwinglich.

Das US-amerikanische Gesundheitssystem ist ungerecht. Macht man sich nun aber klar, dass weltweit vor allem reiche Eltern die Gefahr einer genetisch bedingten Krankheit reduzieren oder ganz bannen können, andere aber nicht, geht es um viel mehr. Bestimmte Erbkrankheiten sind in bestimmten Bevölkerungsgruppen immer schon weiter verbreitet gewesen als in anderen – Sichelzellenanämie bei Afroamerikanern, das Tay-Sachs-Syndrom bei aschkenasischen Juden, ein rarer Typ von Kleinwüchsigkeit bei den Amischen. Doch nun müssen wir damit rechnen, dass von Erbkrankheiten überproportional die ohnehin schon Unterprivilegierten betroffen sein werden.

Wohlhabende Familien sind einflussreich und erheben ihre Stimme für Betroffenengruppen, wenn eine Krankheit eine der ihren betrifft. Sie schaffen Öffentlichkeit und besorgen Geldmittel für Forschungen und Selbsthilfegruppen. Für weniger begüterte Familien, die schon mit einem kranken Kind oder Elternteil über Gebühr gefordert sind, ist es ein ungleich höherer Aufwand, zusätzlich auch noch als Aktivisten für Aufklärung zu sorgen.

Am schlimmsten jedoch ist, dass die Familien, die sich kein Gehör verschaffen können, mit immer weniger Empathie rechnen müssen. Ihre Mitmenschen, die ihre Familienangehörigen nicht einmal rein theoretisch in Gefahr sehen, denken vielleicht nicht instinktiv: „Oh Gott, es hätte auch mich treffen können.“ Im Gegenteil, sie halten sich vielleicht sogar für die besseren, planvoller agierenden Eltern. Und damit werden die ohnehin als „Härtefälle“ der Gesellschaft Stigmatisierten noch weiter ausgegrenzt.

Was früher als Schicksalsschlag beklagt, aber auch anerkannt wurde, wird nun als persönliches Fehlverhalten abgewertet. Mit dem zunehmenden Einsatz von Gentechnologie müssen wir uns nicht nur davor hüten, keine Monster zu schaffen; wir müssen vor allem darauf achten, nicht selbst welche zu werden.

1 „The December 2018 AP-NORC Center Poll“.

2 Siehe Brian Skotko, Sue Levine und Richard Goldstein, „Self-perceptions from people with Down syndrome“, American Journal of Medical Genetics, Bd. 155, Nr. 10, Hoboken (New Jersey) Oktober 2011.

3 Jaime Natoli u. a., „Prenatal diagnosis of Down syndrome; A systematic review of termination rates (1995–2011)“, Prenatal Diagnosis, Bd. 32, Nr. 2, Charlottesville (Virginia) Februar 2012.

Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier

Laura Hercher forscht im Fach Humangenetik am Sarah Lawrence College in Yonkers, NY, und produziert den Podcasts„The Beagle Has Landed“.

Le Monde diplomatique vom 09.01.2020, von Laura Hercher