09.01.2020

Ungleichheit per Gesetz

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Ungleichheit per Gesetz

Eine Bilanz nach fünfzehn Jahren Hartz IV

von Christoph Butterwegge

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Das im Volksmund als „Hartz IV“ bezeichnete Gesetzespaket trat am 1. Januar vor 15 Jahren in Kraft. Das Wort ist die bekannteste Chiffre für den „Umbau“, in Wahrheit den Abbau des Sozialstaats, der Mitte der 1970er Jahre begann und von allen Bundesregierungen beschleunigt fortgesetzt wurde.1

Der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Paradigmenwechsel war eine Richtungsentscheidung, die unsere Gesellschaft zutiefst geprägt hat: Erstmals wurde eine für Millionen Menschen existenzielle Lohnersatzleistung – die Arbeitslosenhilfe – abgeschafft. An ihre Stelle trat eine bloße Fürsorgeleistung: das Arbeitslosengeld II.

Aber das war erst der Anfang: Die Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und die nach dem damaligen VW-Manager Peter Hartz benannten Reformen – vornehmlich das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt –, haben Deutschland zu einer tief zerrissenen Republik gemacht.2 Die Hartz-Gesetze brachten zahlreiche materielle Verschlechterungen für Arbeitsuchende, Langzeiterwerbslose und „aufstockende“ Ge­ring­ver­die­ne­r:in­nen, die im Folgenden skizziert werden.

Gerhard Schröder hat in seiner berühmt-berüchtigten „Agenda 2010“-Rede mit der Forderung nach einer „Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ die zentrale Legiti­ma­tions­formel für Hartz IV präsentiert. Tatsächlich wurde am 1. Januar 2005 nichts zusammengelegt; vielmehr wurde mit der Arbeitslosenhilfe zum ersten Mal seit 1945 eine Lohnersatzleistung abgeschafft, die den Lebensstandard von Millionen Erwerbslosen (noch halbwegs) sicherte. An ihre Stelle trat mit dem Arbeitslosengeld II eine Für­sor­ge­leistung, die kaum mehr das soziokulturelle Existenzminimum sichert. Sie stellt im Grunde eine Lohnergänzungsleistung im Sinne eines „Kom­bi­lohns“ dar, hätte also eigentlich „So­zial­hilfe II“ heißen müssen.

Am 31. Dezember 2004 gab es fast 2,2 Millionen Bezieher:innen von Arbeitslosenhilfe, die für Kinderlose 53 Prozent und für Arbeitslose mit unterhaltsberechtigten Kindern 57 Prozent ihres letzten Nettogehalts betrug. Dass sich die Kinderarmut seitdem fast verdoppelt hat, ist wesentlich auf die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und den Bruch mit dem Prinzip der Lebensstandardsicherung zurückzuführen.

Mit der Einführung von Hartz IV war eine Pauschalierung der Regelsätze verbunden, die inzwischen Regelbedarfe heißen und bei Weitem nicht für ein würdiges Leben, für gesunde Ernährung und anständige Kleidung ausreichen. Besonders kinderreiche Familien leiden darunter, dass die wiederkehrenden einmaligen Leistungen unter dem Hartz-IV-Regime weggefallen sind, etwa für die Reparatur einer Waschmaschine und die Anschaffung eines Fahrrads oder eines neuen Wintermantels für schnell gewachsene Kinder.

Vorher Buchhalter, jetzt Nachtportier

Hartz IV ist mit verschärften Zumutbarkeitsregelungen für die Arbeitsaufnahme verbunden. Wer Arbeitslosengeld II bezieht, muss jeden Job annehmen, auch wenn dieser weder nach Tarif noch ortsüblich entlohnt wird. Von den immer noch knapp 4 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Bezieher:innen sind 1 Million gar nicht arbeitslos, sondern „Erwerbsaufstocker“, die so wenig verdienen, dass sie davon nicht leben können. An diese Gruppe sind seit dem Inkrafttreten von Hartz IV am 1. Januar 2005 über 140 Milliarden Euro ausgezahlt worden. Mit diesen Geldern wurden vor allem Unternehmen der Leiharbeitsbranche subventioniert, deren Geschäftsmodell auf Hungerlöhnen basiert.

Entfallen ist der Berufs- und Quali­fikationsschutz. Wenn das ­Jobcenter darauf besteht, muss eine medizinisch-technische Assistentin im Getränkemarkt und ein Buchhalter als Nachtportier arbeiten, wenn sie ihren Anspruch auf Unterstützung nicht einbüßen wollen. Zudem kann das Jobcenter die Arbeitswilligkeit eines langzeitarbeitslosen Diplomingenieurs testen, indem es ihn zwingt, für einen zusätzlichen Euro pro Stunde einen öffentlichen Park zu fegen oder in einer Schule bei der Essensausgabe zu helfen.

Solche Zwangsmaßnahmen können die Jobcenter mittels harter Sanktionen durchsetzen. Schon bei der ersten Pflichtverletzung wird der Regelbedarf um 30 Prozent gekürzt. Der Anlass kann sein, dass er oder sie einen Job ablehnt, weil dieser der eigenen Qualifikation nicht entspricht; oder ein (vielleicht schon mehrfach absolviertes) Bewerbungstraining nicht antritt oder eine (ungeeignet erscheinende) Weiterbildung abbricht.

Bei der zweiten Pflichtverletzung wurde der Regelbedarf bisher um 60 Prozent gekürzt (was durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 aufgehoben wurde). Bei der dritten Pflichtverletzung drohte eine Totalsanktionierung, bei der das Jobcenter die Mittel für den Lebensunterhalt strich, aber auch die Miet- und Heizkosten nicht mehr übernahm.

Noch härter traf es Jugendliche, Heranwachsende und junge Erwachsene unter 25 Jahren, die bereits bei der zweiten Pflichtverletzung riskierten, ihre Wohnung zu verlieren. Schon die Androhung solcher Sanktionen stellt einen so massiven Druck dar, dass die Betroffenen häufig in Resignation und manchmal in Depressionen verfallen.

Kaum ein Gesetzespaket war so umstritten wie das nach Peter Hartz benannte Regelungswerk für den Arbeitsmarkt. Hartz IV polarisiert nicht nur die politische Öffentlichkeit, sondern die gesamte Gesellschaft. Dieser zen­tra­le Aspekt verdient sehr viel stärkere Beachtung: Als gigantisches Umverteilungsprogramm verschärft Hartz IV die sozioökonomische Ungleichheit und trägt maßgeblich dazu bei, dass die Reichen in Deutschland reicher und die Armen zahlreicher werden.

Wie fast alle anderen „Agenda“-Reformen zielten die sogenannten Hartz-Gesetze auf eine weitreichende Deregulierung des Arbeitsmarkts und eine Demontage des Wohlfahrtsstaats. Der Abbau der sozialen Grund- und Schutzrechte von Beschäftigten hat das Lohnniveau gesenkt und damit Produkte vom „Standort D“ auf den Weltmärkten noch konkurrenzfähiger gemacht.

Insgesamt haben die rot-grünen Arbeitsmarktreformen das Armutsrisiko von (Langzeit-)Erwerbslosen und ihren Familien, aber auch von prekär Beschäftigten spürbar erhöht und einschüchternd auf weitere Bevölkerungskreise gewirkt. Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften wurden genötigt, schlechtere Arbeitsbedingungen und niedrigere Löhne zu akzeptieren.

Niedrige Löhne und Gehälter bedeuten hohe Gewinne. Indem den Unternehmen dank Hartz IV ständig willige und billige Arbeitskräfte zugeführt wurden, hat das Programm wesentlich zur weiteren Zentralisation des (Finanz-)Kapitals und zur Konzentration des Vermögens in wenigen Händen beigetragen.

Dass es sich bei diesem Lohndumping nicht etwa um einen Missbrauch der Hartz-Gesetze handelt, geht aus eine Rede hervor, die Gerhard Schröder am 28. Januar 2005 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos gehalten hat: Vor den versammelten Führungskräften der internationalen Wirtschafts- und Finanzwelt brüstete sich der so­zial­demokratische Bundeskanzler damit, „einen der besten Niedriglohnsektoren“ in Europa geschaffen zu haben: „Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt.“3

Verteilungspolitisch gesehen hat das Reformwerk einerseits die Machtposition des Kapitals gestärkt und die großen Unternehmen begünstigt, andererseits die arbeitende Klasse enorm geschwächt. Vor allem vertiefte Hartz IV die Aufspaltung der abhängig Beschäftigten in Mehr- und Minderprivilegierte.

Zum Beispiel in den großen Industriebetrieben des Automobilbaus, wo die Liberalisierung der Leiharbeit den Graben zwischen Kern- und Randbelegschaften verbreitert hat. Aufgrund der vom Staat legalisierten Lohnspreizung verdienen Zeitarbeiter:innen am selben Band nur einen Bruchteil dessen, was der festangestellte Kollege bekommt.

Der ausufernde Niedriglohnsektor, der inzwischen fast ein Viertel aller Beschäftigten umfasst, ist nur eine Erscheinungsform der Entsolidarisierung und der allgemeinen sozialen Kälte. Diese Tendenz zur Auslese und Polarisierung trifft die ärmsten Gesellschaftsmitglieder oft am härtesten.

Auch unter denen, die Hartz IV beziehen, werden Menschen, die weniger gebildet sind und mangels Schonvermögen fast nichts besitzen, eher sanktioniert als Personen mit akademischer Ausbildung. Sie legen selten Widerspruch ein, kennen ihre Rechte kaum, artikulieren sich weniger elegant und rufen fast nie das Sozialgericht an. Durch das Sanktionsregime von Hartz IV wird also selbst unter den Betroffenen die soziale Ungleichheit noch reproduziert und verstärkt.4

Wie das Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) errechnet hat, werden Hartz-IV-­Be­zie­her:innen immer mehr von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgekoppelt. Absolut wie relativ hat sich der Abstand zwischen dem Regelbedarf (ohne Miet- und Heizkosten) und der Armutsgefährdungsschwelle, die laut einer EU-Konvention bei 60 Prozent des mittleren Einkommens liegt, seit Einführung von Hartz IV erheblich vergrößert.5 Die Zahlen dokumentieren, was wir alle sehen können: eine zunehmende Verarmung.

1 Vgl. Christoph Butterwegge, „Krise und Zukunft des Sozialstaates“, 6. Aufl., Heidelberg (Springer VS) 2018, S. 113 ff.

2 Vgl. Christoph Butterwegge, „Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“, 3. Aufl., Weinheim/Basel (Beltz Verlag) 2018; ders., „Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“, Weinheim/Basel (Beltz Verlag) 2020.

3 Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem World Economic Forum in Davos, 28. Januar 2005.

4 Siehe Franz Zahradnik u. a., „Wenig gebildet, viel sanktioniert? Zur Selektivität von Sanktionen in der Grundsicherung des SGB II“, in: Zeitschrift für Sozialreform, 2/2016, S. 141 ff.

5 Diese Lücke betrug 2006 noch 401 Euro oder 53,8 Prozent, 2018 aber bereits 619 Euro oder 59,8 Prozent. Vgl. Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe, BIAJ-Materialien: Absolute und relative Lücke zwischen Regelbedarf (Hartz IV) und Armutsgefährdungsschwelle 2006–2018.

Christoph Butterwegge ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln.

© LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 09.01.2020, von Christoph Butterwegge