09.01.2020

Bagdad und die Wut der Jugend

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Bagdad und die Wut der Jugend

Nach der Tötung von Qassem Soleimani, dem Kommandanten der iranischen Al-Quds-Einheiten, durch eine US-Drohne Anfang Januar droht der Irak endgültig zum Schlachtfeld der Konfrontation zwischen den USA und Iran zu werden. Dabei richteten sich die Proteste der jungen Generation seit Oktober 2019 gerade auch gegen den Einfluss aus Teheran und Washington.

von Feurat Alani

Je repressiver das Regime, desto mehr Zulauf bekamen die Proteste: Bagdad, 12. Dezember 2019 KHALID AL-MOUSILY/reuters
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Die Bilanz ist schrecklich. Über 500 Tote und mehr als 20 000 Verletze zwischen dem 1. Oktober 2019 und Anfang Januar 2020. Vom Tahrir-Platz im Herzen Bagdads bis zu den Städten im Süden des Landes lehnen sich die Menschen gegen die Regierung und die sie stützenden Milizen auf. Sie fordern das Ende des Systems, das 2003 installiert wurde – nachdem Diktator Saddam Hussein in Folge der Invasion US-amerikanischer Truppen und ihrer Verbündeten, allen voran die Briten, gestürzt worden war.

Der Dialog zwischen den Demonstranten und den politischen Machthabern ist völlig zum Erliegen gekommen. Seit dem Rücktritt von Ministerpräsident Adel Abdel Mahdi am 29. November 2019 ist die herrschende Klasse taub für die Forderungen der Jugend und sucht nach einem neuen Regierungschef. Junge Aktivisten werden reihenweise ermordet oder entführt; selbst nach dem Blutbad vom 6. Dezember, der damit endete, dass in einem Parkhaus, das als Versammlungsort genutzt wurde, 20 Demonstranten von unbekannten Milizionären getötet wurden.1

Alles begann am 27. September. Zwei Ereignisse brachten an diesem Tag das Pulverfass zum Explodieren: Erstens lösten Sicherheitskräfte gewaltsam eine friedliche Versammlung von jungen Hochschulabsolventen auf, die vor dem Büro des Ministerpräsidenten standen und angemessene Jobs forderten. Zweitens musste Generaloberst Abdel Wahab al-Saadi seinen Posten räumen. Der stellvertretende Kommandeur der irakischen Antiterroreinheiten (CTS) genießt wegen seiner Rolle im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) den Status eines Na­tio­nal­helden.

Milizionäre außer Kontrolle

Schnell hieß es, Teheran stecke hinter der Entlassung al-Saadis. Der Generaloberst galt als Mann Washingtons und der CTS, die er auch als Bollwerk gegen die hegemonialen Bestrebungen der Haschd al-Schaabi (Volksmobilisierungseinheiten) benutzte. Diese Koalition aus mehreren schiitischen Milizen wurde 2014 gegründet, um nach dem Fall Mossuls einen heiligen Krieg gegen den IS zu führen. Finanziert wurden diese Einheiten vor allem von Iran, und die iranischen Revolutionsgarden – der bewaffnete Arm Teherans in der Region – übernahmen ihre Ausbildung.

Repression gegen junge Arbeitslose und die Kaltstellung eines Nationalhelden, um Teheran zu gefallen – diese beiden Ereignisse verdeutlichen gut die doppelte Motivation der irakischen „Hirak“ (Bewegung): erstens die Wut über eine katastrophale soziale und ökonomische Situation und zweitens den Verdruss über den Einfluss Irans.

Die aktuellen Proteste der irakischen Zivilbevölkerung sind zwar spontan entstanden, doch gleichzeitig gehören sie in eine Serie von Demonstrationen, die 2003 ihren Anfang nahm und angesichts der vielen nicht gehaltenen Versprechen nie abgebrochen ist. Viele der ungelösten Probleme waren schon damals Thema: Korruption, Klientelismus, Arbeitslosigkeit, bewaffnete Gewalt und ein dahinsiechendes, ineffektives politisches System.

Dabei war das Land nie so reich wie heute: Als Profiteur des hohen Ölpreises lag der Staatshaushalt 2019 bei 112 Milliarden US-Dollar (99 Prozent der irakischen Exporte kommen aus dem Ölsektor). Gleichzeitig hat aber auch die staatliche Korruption zugenommen. Anfang 2019 bestätigte eine parlamentarische Kommission, dass in den vergangenen 16 Jahren über 300 Milliarden US-Dollar in dunklen Kanälen verschwunden sind.

Mit einer Arbeitslosenquote, die in manchen Regionen des Landes fast bei 50 Prozent liegt, ist die junge Gene­ra­tion die Hauptleidtragende dieser Misswirtschaft. Die Anzahl der Selbstmorde ist nach Angaben der parlamentarischen Menschenrechtskommis­sion zwischen 2016 und 2018 um mehr als ein Drittel gestiegen, von 383 auf 519. Obwohl die tatsächlichen Zahlen vermutlich höher sind, hat die Bevöl­kerung auf die Veröffentlichung sehr emotional reagiert. Ein weiterer Schock:

2019 haben einige der Opfer ihren Selbstmord live in den sozialen Me­dien übertragen.

Alle Regierungen seit 2003 haben den Bildungssektor stark vernachlässigt. Heute fehlen im Irak mehr als 20 000 Schulen; in einem Klassenzimmer drängen sich zuweilen über 80 Schulkinder. Noch alarmierender ist es, dass im Schuljahr 2017/18 etwa 130 000 Kinder nicht eingeschult wurden. Dabei ist die Lage in den ehemals vom IS kontrollierten Gebieten besonders desolat.2

„Diese Generation hat zwar keine Möglichkeit zu reisen, ist aber über die sozialen Medien sehr gut vernetzt“, erklärt Mustafa Saadoun, Gründer der irakischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte. „Die jungen Leute sehen, dass ihre Altersgenossen im Ausland sehr gut leben, auch in Ländern, die ärmer sind als der Irak. In einem rechtlosen Land zu leben, mit bewaffneten Milizen überall, das ist für sie nicht länger akzeptabel.“ Die aktuelle Krise gehe sehr viel tiefer als alle vorangegangenen, meint Saadoun. „Der Protest richtet sich gegen das gesamte System, und deswegen bleiben die politischen Verantwortlichen stumm. Ihre persönlichen Interessen sind bedroht.“

Saadoun arbeitet als Journalist in Bagdad und war einer der Köpfe der Proteste auf dem Tahrir-Platz 2015. Damals forderten die Demonstranten soziale Reformen von der Regierung Haidar al-Abadi. „2015 war alles sehr viel weniger gewalttätig. Und wir haben uns auch nur jeden Freitag versammelt. Heute haben wir nach weniger als zwei Monaten fast 500 Tote, alles friedliche Demonstranten, von denen war niemand bewaffnet!“

Neben dem sozioökonomischen Zerfall des Landes ist vor allem die Allgegenwart Irans ein Brandbeschleuniger. 2003 versprachen die US-Invasoren Demokratie, tatsächlich aber befindet sich der Irak in großen Schwierigkeiten: die Anwesenheit ausländischer Truppen auf seinem Territorium, die Zerschlagung der Strukturen des alten Regimes, das Verschwinden einer Reihe von Institutionen, die konfessionellen Spannungen, der maßgebliche Einfluss Oppositioneller, die lange Zeit im Ausland gelebt haben und wenig von der ­Realität im Land verstehen – all dies hat den Staatsapparat stark geschwächt. Und es hat der Einflussnahme durch ­Teheran und Washington den Weg geebnet.

Seit dem von US-Präsident Obama 2011 beschlossenen Abzug der US-Truppen hat Teheran allerdings die Oberhand über seinen US-amerikanischen Rivalen gewonnen. Im November 2019 veröffentlichte die Website The Intercept Geheimdokumente,3 die enthüllten, was für die meisten Iraker ohnehin ein offenes Geheimnis war: Teheran durchdringt den irakischen Staatsapparat in einem erschreckenden Ausmaß.

Man könnte fast von einer nationalen Unterwanderung sprechen, so groß ist der Einfluss Irans überall im Nachbarland. Nach dem Abzug der US-Truppen wurden die irakischen CIA-Informanten unverzüglich von den iranischen Geheimdiensten rekrutiert. Dass es irakische Quellen waren, die diese Geheimdokumente geleakt haben, verdeutlicht zudem die Verbitterung eines großen Teils der Sicherheitskräfte.

„Im Laufe seiner Geschichte hat der Irak sich stets gegen Besatzer und jegliche Form der Unterdrückung gewehrt“, sagt Muntadhar Nasser, ein Menschenrechtsaktivist, der seit 2015 bei keiner Kundgebung auf dem Tahrir-Platz gefehlt hat. „Die Angriffe der Regierung auf die Bildung, die endemische Korruption, die schlechte Verwaltung des Landes – all das hat die Wut der Jugend angestachelt.“

Am 1. Oktober ging es in einem der ersten Slogans der Protestbewegung nicht um die Stromausfälle oder um die Arbeitslosigkeit, sondern um eine nationale Vision, die seit 2003 mit Füßen getreten wird: „Nurid Watan“ (Wir wollen eine Heimat/Nation). „Um die Zukunft eines Landes aufzubauen, ist Bildung die Basis“, meint Hatem al-Zaidi, ein Demonstrant auf dem Tahrir-Platz. „Und der Motor dafür ist politische Unabhängigkeit. Wir lehnen jede ausländische Einmischung in die Angelegenheiten Iraks ab. Wir wollen weder Iran noch die USA.“

Während der ersten Protesttage weigerte sich die Regierung, den Demonstranten Gehör zu schenken. Das Internet wurde abgeschaltet, andere Kommunikationswege gestört. Zweifellos haben diese Maßnahmen der Bewegung noch mehr Zulauf verschafft. Abgeschnitten vom Rest der Welt haben die Demonstranten dem Tod und den Milizen des Regimes getrotzt. Letztere wurden teils direkt von iranischen Einheiten unterstützt, deren Identität in den sozialen Netzwerken aufgedeckt wurde.

Der Groll gegen Iran wird regelmäßig durch Zwischenfälle genährt, die deutlich machen, wie sehr Bagdad unter dem Einfluss Teherans steht. Im April 2019 brachten irakische Abgeordnete, die der Islamischen Republik nahestehen, überstürzt ein Gesetz im Parlament ein, das den Abzug der US-Truppen forderte, die 2014 im Rahmen des Anti-IS-Kampfs ins Land gekommen waren. Kurz zuvor hatte Ajatollah Ali Chamenei Ministerpräsident al-Mahdi bei dessen Besuch in Teheran aufgefordert, so schnell wie möglich für den Abzug der US-Truppen zu sorgen.

Groll gegen Iran und gegen die USA

Nach der Tötung Qasim Suleimanis wird der Druck auf die verbleibenden US-Truppen im Land allerdings weiter wachsen. Zudem droht die Gefahr einer bewaffneten US-iranischen Auseinandersetzung auf irakischem Boden. Bereits kurz vor dem Jahreswechsel kam es zu massiven Protesten vor und auf dem Gelände der US-Botschaft in Bagdad, nachdem bei einem US-Luftschlag gegen das Hauptquartier der zu den Haschd al-Schabi gehörende Kata’ib-Hisbollah-Miliz Ende Dezember Dutzende Menschen gestorben waren.

Gleichzeitig allerdings ist die irakische Bevölkerung besorgt über den zunehmenden Einfluss der Haschd al-Schaabi. Diese unterstehen mittlerweile, zumindest theoretisch, dem staatlichen Sicherheitsapparat. Von Teheran unterstützt, agieren sie aber in Wahrheit wie ein Staat im Staate und mischen sich in die politische Debatte ein.

Nach dem Blutbad vom 6. Dezember hatte ihr Kommandeur den Mili­zio­nä­ren befohlen, sich von den Demons­tran­ten fernzuhalten. Dieser Befehl wird allerdings nicht immer befolgt – und er nährte den Verdacht, dass die Paramilitärs für das Massaker verantwortlich waren. Zahlreiche Kämpfer der Volks­mobi­lisie­rungs­ein­heiten sind mittlerweile unkontrollierbar geworden.

So überraschte es nicht, dass die Demonstranten die Symbole iranischer Macht im Irak angegriffen haben. Am 4. November wurde das iranische Konsulat in der für Schiiten heiligen Stadt Kerbala attackiert. Am 27. November steckte eine aufgebrachte Menge das iranische Konsulat im ebenfalls heiligen Nadschaf in Brand. Dazu waren Parolen zu hören, die zur Hymne der Proteste geworden sind: „Raus mit Iran – Bagdad bleibt frei!“.

Derselbe Schlachtruf ertönte auch am 9. Dezember in Kerbala bei der Beerdigung des bekannten Bürgerrechtsaktivisten Fahem al-Taï. Männer auf Motorrädern hatten ihn tags zuvor vor seinem Haus erschossen. Für die revoltierende Jugend ist die Forderung nach einem „freien Land“ die Wiederbelebung einer Idee, die nach Saddam Husseins Sturz verloren gegangen war: eine irakische Identität.

„Wir erleben einen Moment, den wir alle seit Langem herbeisehnen“, sagt der Demonstrant Nasser. „Das ist ein historischer Augenblick. Seit 2003 waren wir gespalten und isoliert. Die irakische Identität wurde von der Regierung mit Füßen getreten, weil diese sie immer mit einer Nostalgie für das Regime von Saddam Hussein gleichgesetzt hat. Dabei haben die meisten jungen Demonstranten diese Zeit gar nicht wirklich erlebt!“ Heute wolle man, so Nasser, diese Identität zum Fundament des irakischen Staats machen. „Wir wollen einfach nur als Staatsbürger anerkannt werden.“

Bis Mitte Dezember beschränkte sich der Wutausbruch auf Bagdad und große mehrheitlich schiitische Städte wie Nasirija, Nadschaf, Amara und Basra. Im überwiegend schiitischen Süden des Landes fordern die Jungen laut und deutlich den Bruch mit einem Regime, das auf konfessioneller Klientelwirtschaft gründet.

Dieses Anliegen teilen sie mit ihren sunnitischen Landsleuten, die allerdings, zumindest für den Moment, still bleiben. Der Hauptgrund für diese Zurückhaltung ist in der jüngeren Geschichte der größeren Städte in den Provinzen al-Anbar und Ninawa – Falludscha, Ramadi und Mossul – zu suchen. Seit 2004 haben die bewaffneten Aufstände gegen die US-amerikanische Präsenz und später der Kampf dschihadistischer Gruppen gegen die Zentralmacht in Bagdad stets gewalttätige Antworten und eine gnadenlose Re­pres­sion nach sich gezogen.

Dennoch pflegt ein Großteil der irakischen Sunniten ein starkes Nationalbewusstsein – trotz ihres Außenseiterstatus: „Für die Regierung sind wir Terroristen“, sagt Udai al-Halbussi, der aus Ramadi stammt. „Wir sind schon oft auf die Straße gegangen. Außer zu Repression hat das aber zu nichts geführt. Seit 2004 hatten wir viele Märtyrer zu beklagen, unsere Städte sind voll von Witwen und Waisen. Die Leute haben einfach Angst, vor allem vor den regierungstreuen Milizen.“ Zudem habe man keine Anführer, keine Unterstützung aus dem Ausland und keine Kräfte zum Selbstschutz wie die De­mons­tran­ten in Bagdad, meint al-Halbussi – eine Anspielung auf die „Blauhelme“, eine unbewaffnete Truppe aus den Reihen der Gefolgschaft des Imams Muq­ta­da al-Sadr.

„Solange die Hirak die Regierung nicht zu Reformen bewegt und solange die Haschd al-Schaabi die Straßen kontrollieren, werden die Sunniten in Wartestellung bleiben“, meint Mohanad al-Alwani, der in der überwiegend sunnitischen Stadt Falludscha lebt. Das erklärt, warum es – abgesehen von einigen sunnitischen Studentenabordnungen auf dem Tahrir-Platz in Bagdad – in den meisten Städten im Westen und im Norden des Landes bisher ruhig geblieben ist: Man hat Angst vor den Repressalien der Milizen.

Jahrelang hat die irakische Bevölkerung unter der Vernachlässigung durch ein politisches System gelitten, das sich zwei ausländischen Mächten verpflichtet hat, die ganz offen eine Interventionspolitik betreiben. Auch deshalb bleibt die Forderung nach einer nationalen Identität die notwendige Voraussetzung für eine Mobilisierung, die über die konfessionellen Grenzen hinausgehen soll.

1 Die Angaben zur Zahl der Opfer an jenem 6. Dezember schwanken zwischen 29 und 80 Toten; siehe Human Rights Watch, „Iraq: State appears complicit in massacre of protesters“, 16. Dezember 2019.

2 „Das irakische Bildungsprogramm, Einblick in eine Katastrophe“ (Arabisch), Daraj, Beirut, 10. März 2019.

3 James Risen, Tim Arango, Farnaz Fassihi, Murtaza Hussain und Ronen Bergman, „A spy complex revealed“, The Intercept (zusammen mit der New York Times), 18. November 2019, www.theintercept.com.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Feurat Alani ist Journalist. Zusammen mit Léonard Cohen veröffentlichte er die Graphic Novel: „Le parfum d’Irak“, Paris (Éditions Nova) 2018.

Le Monde diplomatique vom 09.01.2020, von Feurat Alani