12.12.2019

Friedliche Faust

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Friedliche Faust

Internationale Blaupause für den Regimewechsel

von Ana Otasević

Markus Weggenmann, ohne Titel (Nr. 435), 2011, Hochglanzlack auf Aluminium, 100 x 78 cm
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Die Legende beginnt an einem Herbsttag des Jahres 1998 in einem Café im Zentrum Belgrads. Die meisten der dort versammelten jungen Leute haben sich ihre ersten Sporen bei den Studentendemos von 1992 und 1996/97 verdient. Jetzt wollen sie mit der Gründung der Bewegung „Otpor!“ (Widerstand!) Präsident Slobodan Milošević stürzen, der seit 1986 im Amt ist und die Universitäten gerade wieder unter seine Kontrolle gebracht hat.

Nenad Petrović Duda zeichnet eine schwarze erhobene Faust auf ein Blatt Papier, um ein Mädchen zu beeindrucken. Diese Faust taucht eines Morgens im November auf den Mauern im Stadtzentrum auf. Otpor! Und dazu gesprühte Slogans gegen das Regime. Vier junge Aktivisten werden verhaftet und zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt. Die erhobene Faust schmückt auch die Titelseite der Tageszeitung Dnevni Tele­graf, dafür muss ihr Chefredakteur Slav­ko Ćuruvija vor Gericht.

„Otpor! war eine neue politische Kraft. Durch den Gerichtsprozess sind wir schnell berühmt geworden“, erzählt Srđa Popović, der damals Meeresbiologie studiert und Musik gemacht hat. Er hatte davon geträumt, Popstar zu werden, bevor er sich der Politik zuwandte. Anfangs waren sie etwa 30 Studierende, ein Jahr später schwenkten Tausende im ganzen Land das Otpor!-Symbol. „Wir haben in den Universitätsstädten rasch eine Infrastruktur aufgebaut. Die Oppositionsparteien waren zerstritten. Die Jungen kamen zu uns.“

Die überschaubare Größe der Organisation und ihre horizontale Struktur ohne offizielle Anführer erwiesen sich als Vorteil, wenn man das Regime mit den Mitteln der Satire schwächen und diskreditieren wollte. Die Bewegung wollte vor allem die Leute aufrütteln, zumal die Jungen, die sich nicht für Politik interessierten. Otpor! brachte Monarchisten, Sozialdemokraten und Liberale zusammen und beharrte darauf, keine bestimmte ideologische Haltung zu vertreten: „Wir machten nichts allzu Politisches, das ist langweilig; wir wollten, dass unsere Aktionen unterhaltsam sind und die Leute zum Lachen bringen“, sagt Popović, der ein großer Monty-Python-Fan ist.1

Als eine Otpor!-Gruppe in Kruševac einen mit falschen Militärorden drapierten Esel spazieren führte, verhaftete die Polizei die jungen Leute und war mit dem Esel sichtlich überfordert. „Das war eine unglaubliche Szene, die Polizisten versuchten das Tier mit Schlagstöcken in einen Lkw zu treiben“, erzählt der Ex-Aktivist Srdjan Mili­vo­je­vić. „Die Menge schrie: ‚Lasst den Natio­nalhelden in Ruhe!‘ “ Mit dieser humoristischen Glanzleistung und den anschließenden Verhaftungen schafften es die Aktivisten auf die Titelseiten der Zeitungen, die polizeiliche Repression untergrub die Legitimität

der Regierung und spaltete noch die letzten Anhänger Miloševićs. Die Ot­por!-Generation ist in der Zeit der exjugoslawischen Bruderkriege und der internationalen Isolierung Serbiens aufgewachsen. Sie hatte keine politischen Pläne und träumte von einem normalen Leben. „Wir sahen im Satellitenfernsehen, wie die jungen Leute in Paris oder London lebten, während bei uns die Geschäfte leer waren. Wir haben um unser Überleben gekämpft“, erzählt Predrag Lečić, Mitglied des Ot­por!-­Gründungszirkels. „Wir haben nicht für eine bestimmte Sache gekämpft, sondern gegen eine Person“, meint der ehemalige Otpor!-Sprecher Ivan Marović, der heute in Kenia lebt.

Der Kosovo-Krieg von 1999 und die Nato-Bombardements auf Restjugoslawien markierten eine Wende. „Am 24. März 1999 bin ich aufgewacht und musste feststellen, dass Frankreich nicht länger im Herzen Serbiens ist, sondern im Himmel darüber, von wo aus es hunderte Bomben abwarf, um das Regime zu bestrafen“, erinnert sich Mi­li­vo­je­vić. „Du engagierst dich nicht in der Opposition, wenn dein Land gerade bombardiert wird“, fügt Popović hinzu, dessen Mutter nur knapp dem Bombenangriff auf das Nationalfernsehen entkam, wo sie als Redakteurin arbeitete. Popović selbst konnte sich verstecken, aber Ćuruvija, der Chef des Dnevni Telegraf, wurde von Handlangern des Regimes ermordet.

Nach dieser Erschütterung war Otpor! die erste politische Vereinigung, die wieder zur Tat schritt. Sie nannte sich nicht mehr „studentisch“, denn sie wollte im allgemeinen Unmut ihre Basis vergrößern, und wuchs auch tatsächlich zu einer breiten Bewegung an. Trotz der verstärkten Repression läutete sie die Schaffung einer Antiregierungsfront ein, zu der sich Parteien, Vereine, unabhängige Medien und Gewerkschaften zusammenschlossen. Mitte 2000 war Otpor! zu einer mitgliederstarken Organisation geworden, die in der Opposition eine entscheidende Rolle spielen konnte.

Unter starkem Druck von innen und außen kündigte Präsident Milo­še­vić vorgezogene Neuwahlen für September 2000 an. Otpors Engagement trug zu einer hohen Wahlbeteiligung bei; der Präsident wurde abgewählt. Po­po­vić zog als Abgeordneter der Demokratischen Partei ins Parlament ein. Er wurde zunächst Berater des Ministerpräsidenten und Vorsitzenden der Demokratischen Partei Zo­ran Đinđić’, der am 12. März 2003 einem Attentat zum Opfer fiel, dann Mitarbeiter des Umweltministers und Berater für nachhaltige Entwicklung. Die Heldenjahre waren vorbei. Die Bewegung versuchte sich in eine Partei zu verwandeln, aber die Parlamentswahlen vom Dezember 2003 wurden zum Fiasko: Gewinner mit über 40 Prozent wurde die extrem-nationalistische Serbische Radikale Par­tei (SRS), Otpor! erhielt nur 1,6 Prozent der Stimmen.

Für den Mann, der sich selbst immer noch als „gewöhnlichen Revolu­tio­när“ vorstellt, war das Abenteuer aber noch lange nicht vorbei. 2003 gründete Popović mit dem Otpor!-Veteranen Slo­bo­dan Đinović das Zentrum für angewandte gewaltlose Aktionen und Strategien (Center for Applied Non­vio­lent Action and Strategies, Canvas). In den folgenden Jahren verbreiteten die Canvas-Trainer ihr Wissen in etwa 50 Ländern, darunter Georgien, Ukraine, Weißrussland, Albanien, Russland, Kirgistan, Usbekistan, Libanon und Ägypten.

In den winzigen Räumen von Canvas in einem trostlosen Einkaufs­zen­trum im Stadtteil Novi Beograd weist nichts auf ein derart umfassendes Netzwerk hin. „Unsere Aufgabe besteht im Training und in der Ausbildung von Aktivisten“, sagt Popović. „Bei der ersten Lektion geht es darum, mit einer starken Zukunftsvision Einigkeit zu erzeugen. Ich erkläre ihnen, wie sie Menschen mit verschiedenen politischen Überzeugungen für ein gemeinsames Ziel gewinnen können, um über 50 Prozent der Stimmen zu bekommen.“

Wenn Đinović, der Leiter der Organisation, nicht mit der Verwaltung des Zentrums beschäftigt ist, hält er irgendwo auf der Welt Seminare zu gewaltfreiem Widerstand. Die nächsten Kandidaten auf seiner Liste sind Viet­nam, Simbabwe, Swasiland, Syrien, Somalia, Westpapua, Aserbaidschan, Papua-Neuguinea, Venezuela und Iran.

Aus Sicherheitsgründen finden die Seminare meist in den Nachbarländern statt. Die Canvas-Lehrer unterrichten Strategien für einen Machtwechsel mit friedlichen Mitteln. Sie sind überzeugt, dass eine spontane Revolution nicht gelingen kann: Es brauche Planung und Taktik. Wie stellt man Einigkeit her, wie organisiert man einen Boykott, welche Slogans setzt man ein, welche Musik. Die Methode baut auf vier Phasen auf: Analyse der Situation, Entwurf einer Operation (was ist zu tun), Ausführung (wie gewinnt man, wer übernimmt wann, wie, warum welche Aufgabe) und schließlich die technischen Aspekte (Logistik, Koordination, Kommunikation). Sie identifizieren die wichtigsten lokalen Stützen und deren Besonderheiten in Polizei, Armee, Verwaltung und Medien; sie lehren Taktiken, wie man die Leute zum Ungehorsam bewegen kann, immer am praktischen Beispiel.

Verbreitet Canvas eine bestimmte Weltsicht? „Wir sind kein ideologischer Verein, sondern eine Bildungseinrichtung“, antwortet Popović. „Die politische Ausrichtung der Aktivisten spielt kaum eine Rolle. Wir versichern uns nur, dass sie keine Extremisten sind, weil extreme Ideologien nicht im gewaltfreien Kampf gedeihen können.“

Das Canvas-Team ist klein. „Fünf Leute, fünf Gehälter, ein Büro, dazu gratis Internetanschluss und Telefon“, erläutert Popović. „Zwölf Personen aus vier Ländern halten Seminare ab. Das ist nicht ihr einziger Job: Die Georgier unterrichten noch anderswo, eine Philippinin engagiert sich in einer NGO hier in Belgrad, einer arbeitet als Informatiker, ein anderer hat ein Buchhaltungsbüro.“

Die ersten Kunden kamen aus Westeuropa. Der Europäische Bildungsfonds, eine polnische Stiftung, kontaktierte Canvas im September 2002, um Aktivisten der Bewegung „Zubr“ (Bison) auszubilden, die den weißrussischen Diktator Alexander Lukaschenko stürzen wollte. Doch ein halbes Jahr später erklärte Minsk die Trainer zu unerwünschten Personen. Auch die Aktivisten der georgischen Bewegung „Kmara!“ („Genug!“) hatten im Juni 2003 in Serbien gelernt, bevor sie im November 2003 an der Rosenrevolution teilnahmen, die Präsident ­Eduard Schewardnadse stürzte. Im großen Maßstab kamen die Canvas-Methoden vor allem in der Ukraine 2003 und 2004 zur Anwendung. Anschließend bildeten die Ukrainer selbst Aktivisten in anderen Ländern aus, wie etwa in Aserbai­dschan, Litauen, Russland und Iran.

Strategien aus Serbien für den Arabischen Frühling

Die Regierungswechsel in Mittel- und Osteuropa weckten großes Interesse in der arabisch-muslimischen Welt sowie in Südamerika und Afrika. 2005 tauchte die schwarze Faust am Vorabend der Zedernrevolution im Libanon wieder auf, drei Monate später sah man sie auf den Malediven. 2009 kam ein Dutzend ägyptischer Aktivisten von der Jugendbewegung 6. April und von „Kifaya“ (Es reicht) nach Belgrad, um Strategien kennenzulernen, die ihnen beim Sturz des scheinbar unangreifbaren Präsidenten Husni Mubarak helfen sollten.

Die Workshops fanden am Palić-See nahe der ungarischen Grenze statt. „Das war ein einzigartiger Fall, denn da wurde unser ganzes Modell übernommen. Sie haben 50 Workshops in 15 ägyptischen Städten abgehalten“, berichtet Popović. „Die Ausbildung zu zivilem Ungehorsam, gewaltfreiem Kampf und wie man die Stützen des Systems angreift, hat die Aktionsformen unserer Bewegung maßgeblich beeinflusst“, bestätigt Tarek El-Khouly, ehemaliges Mitglied des 6. April, der die Demonstrationen damals organisiert hat.

Überrascht von den spontanen Protesten in Tunesien und dem plötzlichen Sturz von Präsident Ben Ali, stürmten mehrere junge Aktivisten im Januar 2011 auf den Tahrir-Platz in Kairo. Sie trugen Transparente mit einer geschlossenen Faust und dem Slogan: „Die Faust erschüttert Kairo!“ Am Vorabend kursierte im Netz eine Liste der öffentlichen Einrichtungen, die besetzt werden sollten – Radio- und Fernsehsender, Polizeistationen, der Präsidentenpalast – und Anleitungen zur Umgehung der Ordnungskräfte. Die Demonstranten wurden aufgefordert, Rosen zu tragen, aufmunternde Slogans zu rufen, Soldaten zu umarmen und Polizisten zum Seitenwechsel zu überreden. Nach dem Sturz Mubaraks schlossen sich einige der Aktivisten dem Putschgeneral Abdel Fattah al-Sisi an, andere landeten im Gefängnis.

Popović, der bei manchen als heimliches Mastermind hinter dem ägyptischen Aufstand gilt, führt das Scheitern der Bewegung darauf zurück, dass sie kein konkretes Projekt hatte: „Sie wollten nur Mubarak stürzen, aber sie hatten nicht an die Zeit danach gedacht. In der Ukraine und in Serbien war es einfach: Wir wollten so leben wie der Rest Europas. Aber für die arabischen Länder gab es kein positives Vorbild. Die Muslimbrüder und die Armee füllten das Vakuum, und die Aktivisten landeten im Gefängnis. Es ist todtraurig.“

Popović dementiert zwar, Juan Guaidó, den selbsternannten Oppositionspräsidenten Venezuelas, ausgebildet zu haben, aber er bezeichnet den Gegner des Maduro-Regimes als einen Freund: „Natürlich würde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um ihm gegen ein Regime zu helfen, das nicht einmal von der Armee vor seinen eigenen Bürgern geschützt werden kann.“

Seit der Wiederwahl von Hugo Chávez im Dezember 2006, die mit 62 Prozent der Wählerstimmen eigentlich deutlich genug ausgefallen war, hatte Canvas die venezolanische Jugendbewegung „Generación 2007“ beraten und in Mexiko und Serbien venezolanische Aktivisten ausgebildet. Mehrere Mitglieder von Guaidós Team nahmen 2007 an einem Workshop in Belgrad teil: Guaidós Pressechefin Geraldine Ál­va­rez und Elisa Totaro, die sich für die Öffentlichkeitsarbeit der Bewegung von den Methoden und dem visuellen Auftritt Otpors inspirieren ließ, sowie Rodrigo Diamanti, zuständig für humanitäre Hilfe aus Europa.

In einem Text vom Juni 2017 umrissen die Zuständigen bei Canvas, wie in ihren Augen eine wirkungsvolle Strategie aussehen könnte: „Die Opposition in Venezuela muss mit den Polizisten reden und Musik, Umarmungen und Blumen einsetzen, statt sie mit Molotowcocktails, Steinen oder Fäkalienbomben zu bewerfen.“2 In einer Analyse vom September 2010 diagnostizierte Canvas, dass die Stromversorgung Venezuelas größte Strukturschwäche darstellt: „Die Oppositionsgruppen könnten daraus Profit ziehen.“3 Unzufriedene in der Armee könnten sich zum Eingreifen entschließen, allerdings nur vor dem Hintergrund massiver Proteste, so das Kalkül des Canvas-Papers: „Das war die Matrix der drei letzten Putschversuche. Die Armee glaubte ausreichend Unterstützung zu haben, aber die öffentliche Meinung reagierte nicht positiv beziehungsweise sogar negativ, und der Staatsstreich schlug fehl.“ Nach Chávez’ Tod im März 2013 und Venezuelas fortschreitendem ökonomischen Niedergang verschärften sich die Destabilisierungsversuche.

Im März 2019 versagte das Wasserkraftwerk Simón Bolívar. Ein Großteil Venezuelas einschließlich der Hauptstadt Caracas versank im Dunkeln. Die Infrastruktur war inzwischen so marode, dass man eine Intervention von außen, etwa über das Internet, nicht hätte nachweisen können. Und als US-Außenminister Mike Pompeo prompt twitterte: „Kein Essen mehr, keine Medikamente und jetzt auch noch kein Strom. Die Folge: kein Maduro mehr“, ergänzte Guaidó, an die Streitkräfte gerichtet: „Das Licht wird wieder angehen, wenn man die Usurpation beendet.“

Während Canvas in den letzten Monaten auch in Bolivien mitgemischt hat (siehe Artikel auf Seite 17), fällt auf, dass sich die Organisation bisher nie in mit den USA verbündeten Ländern engagiert hat, wie Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Pakistan.

Um den Einfluss der kleinen Canvas-Truppe in so vielen Ländern zu verstehen, muss man bis ans Ende der 1990er Jahre zurückgehen. In einem Sonderbericht des United States Institute of Peace (Usip) vom 14. April 1999 heißt es: „Die Regierung der Vereinigten Staaten sollte ihre Unterstützung für die Demokratie in der Bundesrepublik Jugoslawien deutlich verstärken und noch in diesem Steuerjahr den aktuellen Betrag von etwa 18 auf 53 Millionen Dollar anheben. Mit diesen Geldern könnten Auslandsreisen für Studentenführer finanziert und Studienprogramme sowie Praktika in Europa und den USA unterstützt werden.“4 Der Bericht ist mit einer erhobenen schwarzen Faust illustriert.

„Zahlreiche internationale Akteure hatten ein Interesse daran, ‚Sloba‘ zu stürzen“, erklärt Popović. „Wir hatten zu vielen Leuten in der Clinton-Administration Kontakt. Mit denen konnte man über Politik reden, und sie gaben einem Geld, wie die NED, das National Endowment for Democracy, IRI, das International Republican Institute, das NDI, National Democratic Institute for International Affairs, oder das Freedom House, das mit den Medien zusammenarbeitet.“ Die vier Institutionen gelten offiziell als NGOs, sind aber aus den beiden großen US-Parteien hervorgegangen oder werden vom Kongress oder der US-Regierung finanziert.

William Dale Montgomery, ehemaliger US-Botschafter in Sofia und Belgrad, berichtet, wie die Außenministerin Albright den Sturz Miloševićs zur obersten Priorität erhob und dafür vor allem Otpor! unterstützte.5 „Die Opposition zeigte sich mit Madeleine Albright. Vuk Drašković küsste ihr die Hand; dieses Foto benutzte die Regierung dann gegen ihn. Solche Fototermine sind keine echte Unterstützung. Deshalb haben wir uns nie mit ihnen fotografieren lassen“, kommentiert Po­po­vić.

„Wir wussten nicht, wie wir Milo­še­vić stürzen sollten. Doch dann hat er zu vorgezogenen Neuwahlen aufgerufen, und wir hatten plötzlich die Möglichkeit, eine Kampagne gegen ihn zu lancieren“, berichtet James C. O’Brien, damals Clintons Sondergesandter auf dem Balkan.6 Der ehemalige Leiter der strategischen Planung im Außenministerium ist heute Vice Chair der Consultingfirma Albright Stone­bridge Group (ASG), eines der vielen von ehemaligen Spitzenbeamten, Offizieren und Di­plo­maten der USA gegründeten Unternehmen, die nach dem Krieg im Kosovo öffentliche Betriebe aufkauften beziehungsweise, wie im Fall der ASG, als Mittler fungierten.7

Nach Aussage des damaligen NED-Regionalleiters Paul B. McCarthy erhielt Otpor! den größten Teil der 3 Millionen Dollar, die die US-Stiftung ab September 1998 in Serbien ausgab. Damit wurden Demonstrationen organisiert, Propagandamaterial hergestellt (T-Shirts, Plakate, Aufkleber mit der schwarzen Faust) sowie die Ausbildung und Koordination der Aktivisten finanziert. „Wir haben zwei Mil­lio­nen Exemplare des Flugblatts ‚Es ist aus‘ gedruckt und in ganz Serbien verteilt. Wir hatten Komitees in 168 Städten und Gemeinden. Es war das größte Netzwerk von Aktivisten, keine serbische Partei verfügte über eine derartige Struktur“, erzählt Lečić.

Die Workshops zu Strategien gewaltfreier Aktionen basierten auf der Lehre des US-Politikwissenschaftlers und Pazifisten Gene Sharp (1928–2018).8 Im Sommer 2000 wurden Po­po­vić und andere Otpor!-Führer vom IRI zu einem Seminar nach Budapest eingeladen und lernten dort Sharps engen Mitarbeiter Robert Helvey kennen. Der Vietnamveteran bildete die serbischen Studenten nach Sharps Methode aus: „Strategie ist bei einer gewaltfreien Aktion ebenso wichtig wie bei einer militärischen.“

Popović erzählt eine andere Version der Geschichte: „Sie haben uns nichts beigebracht“, betont er. „Wir haben Helvey in Budapest vier Tage lang gesehen, und daraus wurde dann die Geschichte mit den bösen Amerikanern gestrickt. Aber wir waren schon vorher auf die Idee gekommen.“ Dennoch unterhält Po­po­vić seither gute Beziehungen zu Hel­vey, der sein „Freund und Professor“ und „persönlicher Yoda“ (Meister der Jedi in „Krieg der Sterne“) wurde.

Westliche Stiftungen als Geldgeber

Dafür nannte Helvey seine Katze nach Po­pović’ Vornamen Srđa. „Seine Aussprache lässt allerdings zu wünschen übrig“, witzelt Popović und erzählt von seinem Besuch bei Helvey in den USA und einer Diskussion über dessen Waffensammlung. „Darin ist er ein echter Amerikaner. Wir machen ständig Witze über dieses Thema.“ Hat er gezögert, mit einem früheren Oberst der US-Armee zusammenzuarbeiten? „Ich betrachte ihn nicht als Oberst der Armee. Und außerdem ist die Lehre von Otpor! ganz klar gewaltfrei.“ Gleichzeitig bezeichnet Popović die Strategie, die beide unterrichten, als Kriegsführung mit anderen Mitteln in „einem asymmetrischen Krieg. Wir waren keine Truppe naiver Bürschchen, sondern ernsthafte politische Aktivisten.“

Nach Angaben der Washington Post hat die Operation gegen Milošević die USA 41 Millionen Dollar gekostet: „Es war der Beginn einer außerordentlichen Maßnahme, um einen ausländischen Staatschef mit den Techniken eines modernen Wahlkampfs zu stürzen und nicht mit einer CIA-Geheimoperation, wie in Iran oder Guatemala.“9 Ein internationales Netzwerk war daran beteiligt, darunter NGO Freedom House und private Stiftungen wie Ford, Carnegie, Rockefeller, das Open Society Institute von George Soros oder die Mott Foundation. Zu diesem Netzwerk gehörten auch Diplomaten mit Verbindungen zu Oppositionsparteien und Vertretern der Zivilgesellschaft.

Die Unterstützung und die Zuwendungen aus dem Ausland findet Po­pović nicht problematisch, schließlich han­dele es sich „um Organisationen, die transparent arbeiten“. Marović aber reagiert gereizt auf dieses Thema: „Für wen arbeiten Sie, für Putin? Diese Hilfen kamen ja erst in den letzten Monaten unseres Kampfs gegen Milošević. Warum glauben Sie, dass Sie die Entscheidung herbeigeführt haben? Das ist die Propagandamaschinerie des Kreml, die seit der Revolution in der Ukraine 2004 solche Geschichten verbreitet. Sie versucht den gewaltfreien Widerstand zu diskreditieren, indem sie ihn als vom Ausland gesteuert darstellt.“

Weniger auskunftsfreudig ist Popo­vić hingegen, wenn man ihn konkret danach fragt, woher das Geld für Canvas stammt: „Die Fixkosten (Gehälter und Büro) werden aus privaten Spenden bezahlt, damit wir unabhängig bleiben können und nicht dem Geld hinterherlaufen müssen. Deshalb bleibt Canvas klein: So sind wir billig.“ Und die Finanzierung bestimmter Projekte? „Wir haben schon mit mehr als 30 Organisationen zusammengearbeitet.“ Weiter geht er nicht ins Detail, lediglich zur Rolle von Freedom House in Ägypten äußert er sich. Auf der Canvas-Website sind auch nur die „Freunde“ gelistet, nicht Geldzuflüsse aus dem Ausland. Aus anderen Quellen ist zu erfahren, dass die belgische König-­Bau­douin-­Stiftung (Motto: Working together for a better society) über ihren US-amerikanischen Zweig zwischen 2006 und 2015 für Projekte in Syrien und Ägypten 2,5 Millionen Dollar an Canvas überwiesen hat.

Das International Center on Nonviolent Conflict (ICNC) taucht unter den Partnern von Canvas nicht mehr auf. Doch Marović und Popović arbeiten seit 2003 mit dieser von Jack DuVall und Peter Ackerman 2002 in Washington gegründeten Institution zusammen. Ackerman hat bei Sharp in Harvard studiert. Später hat er mit Hochrisikoanleihen ein Vermögen gemacht. Als sein damaliger Geschäftspartner wegen Betrugs ins Gefängnis kam, wandte er sich der Demokratieförderung zu. 2005 wurde er Verwaltungsratsvorsitzender von Freedom House und folgte in dieser Funktion auf den ehemaligen CIA-Direktor James Woolsey, der auch US-Unterhändler bei den Verhandlungen zum Vertrag über Konventionelle Streitkräfte (KSE-Vertrag) in Europa und Berater des Militärausschusses im US-Senat war. Ackerman führte seine Geschäfte jedoch weiter und leitet heute noch die beiden Investmentgesellschaften Crown Capital Group und RockPort Capital.

Popović traf DuVall und Ackerman bei den Dreharbeiten zu dem von Ackerman produzierten ICNC-Dokumentarfilm über Otpor!: „Bringing Down A Dictator“ (2002). Marović beteiligte sich an der Konzeption zweier vom ICNC produzierten Videospiele: „A Force ­More Powerful“ (2006) und „People Power“(2010). Die Geschichte dahinter ist allerdings recht dünn: Es gibt böse Diktatoren und gute Demokraten auf der Welt, die besser wird, wenn man die Bösen loswird. Marović verfasste auch ein Handbuch für das ICNC, „The Path of Most Resistance“ („Der Weg des größten Widerstands“), und gründete 2016 die NGO Rhize, die soziale Bewegungen berät.

Viele ehemalige Aktivisten arbeiten inzwischen für angesehene Institutionen wie Freedom House oder private Stiftungen wie die von George Soros. Andere haben wichtige Posten in ihren jeweiligen Regierungen inne. Popović und Đinović geben Onlineseminare für die Harvard University; Popović wurde 2017 von den Studierenden der schottischen University of Saint Andrews für drei Jahre zum Rektor ernannt und hält jedes Jahr einen Vortrag an der US-Luftwaffenakademie in Colorado Springs.

„Meine Theorie ist immer noch dieselbe: 4 Prozent der erfolgreichen Re­gimewechsel werden durch gewaltsame Umstürze erzielt und 96 Prozent durch gewaltlosen Widerstand. Der Tag wird kommen, an dem diese Kadetten entscheiden müssen: ‚Wir bombardieren‘ oder ‚Wir bombardieren nicht‘. Wenn Sie eine solche Entscheidung beeinflussen können, retten Sie damit möglicherweise viele Menschenleben“, erklärt Popović, den die Zeitschrift Foreign Policy 2011 zu einem der „100 Top Global Thinkers“ kürte. 2012 wurde er gemeinsam mit Sharp für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, und das Weltwirtschaftsforum von Davos nahm ihn 2013 in die Community der „Young Global Leader“ auf.

1 Vgl. Srđa Popović, „Protest! Wie man die Mächtigen das Fürchten lehrt“, Frankfurt am Main (Fischer) 2015.

2 Srđa Popović und Slobodan Đinović, „The blueprint for saving Venezuela“, RealClear World, 2. Juni 2017, www.realclearworld.com.

3 „Analysis of the situation in Venezuela“, Canvas Analytic Department, Belgrad, September 2010.

4 „ ‚Yugoslavia‘: Building democratic institutions“, United States Institute of Peace, Washington, D. C., 14. April 1999.

5 Roger Cohen, „Who really brought down Milošević?“, The New York Times, 26. November 2000.

6 Valerie J. Bunce und Sharon L. Wolchik, „Defeating Leaders in Postcommunist Countries“, Cambridge (Uni­versity Press) 2011.

7 Matthew Brunwasser, „That crush at Kosovo’s business door? The return of US heroes“, The New York Times, 11. Dezember 2012.

8 Siehe Gene Sharp, „Von der Diktatur zur Demokratie. Ein Leitfaden für die Befreiung“, München (C. H. Beck) 2014.

9 Michael Dobbs, „US advice guided Milošević opposi­tion“, The Washington Post, 11. Dezember 2000.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Ana Otasević ist Journalistin und Filmemacherin in Belgrad.

Le Monde diplomatique vom 12.12.2019, von Ana Otasević