07.11.2019

Geboren in Falludscha

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Geboren in Falludscha

Vor 15 Jahren wurde Falludscha zum Schauplatz der zwei blutigsten Schlachten des Irakkriegs. Die Überreste der Phosphorbomben und mutmaßlichen Urangeschosse, die die US-Luftwaffe damals über der Stadt abwarf, wurden bis heute nicht beseitigt. Die schweren gesundheitlichen Folgen, wie Fehlbildungen bei Neugeborenen, sind ein Tabuthema.

von Kamal Al Ayash

Rückkehr nach Falludscha, 2016 KHALID MOHAMMED/picture alliance/ap
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Aboud Salaam wandert unruhig auf und ab. Vor einer Stunde ist seine Frau in Begleitung mehrerer Pflegerinnen im Kreißsaal verschwunden. Die Perlen der Gebetskette gleiten durch seine zitternden Finger, während er ununterbrochen murmelt: „Oh, mein Gott, bitte eine unkomplizierte Geburt, ein gesundes Kind!“

Dass sein Kind mit einem Geburtsfehler zur Welt kommen könnte, quält nicht nur Aboud. Auch die anderen Väter, die hier in Fallu­dscha vor der Entbindungsstation warten, haben Angst. Alle müssen daran denken, dass die Chance auf ein gesundes Kind seit 15 Jahren keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Seit den verheerenden Angriffen auf die Stadt, bei denen die US-Armee Phosphorbomben und mutmaßlich auch Urangeschosse einsetzte, ist die Zahl der Neugeborenen mit Fehlbildungen und anderen Erkrankungen massiv gestiegen.

Bei seinem ersten Kind, einem Jungen, hatte Aboud Salaam Glück gehabt: Sie nannten ihn Faraj („Erleichterung“ auf Arabisch) – vielleicht, weil sie so lange gezögert hatten, ein Kind zu zeugen. Damals waren sie schon drei Jahre verheiratet gewesen. Doch nachdem Abouds Neffe mit Leukämie auf die Welt gekommen war und seine jüngere Schwester ein einäugiges Mädchen bekam, das kurz nach der Geburt starb, waren sie so verschreckt, dass sie lieber erst mal verhütet haben.

„Was ist das für ein Leben? Es ist wie in einem Horrorfilm“, sagt Aboud. „Wir wollten keine Kinder mehr. Meine Frau hat verhütet, damit sich die Tragödie nicht wiederholt. Aber wie in aller Welt kann man das aushalten? Wir wollten doch so gern eine Familie gründen.“ Aboud hält inne: „Junge oder Mädchen, das ist völlig egal. Das Wichtigste ist, dass es gesund ist.“

Im zweiten Jahr der US-Besatzung des Irak war die Stadt Falludscha in der Provinz al-Anbar, etwa 60 Kilometer nordwestlich von Bagdad, Schauplatz von zwei der blutigsten Schlachten des Irakkriegs. Anfang April 2004 startete die US-Armee ihre erste Operation gegen die Aufständischen, die sich in der Stadt verschanzt hatten. Sie zog sich wochenlang ergebnislos hin.1 Unter dem Codenamen „Operation Phantom Fury“ begann dann am 7. November die zweite Schlacht von Falludscha, die im Dezember mit der Erstürmung der Stadt durch US-Marines und Einheiten der irakischen Nationalgarde endete. „Operation Phantom Fury“ richtete verheerende Zerstörungen in Falludscha an: Nachdem die US-Armee die Stadt mit tausenden Raketen und Artilleriegranaten aus der Luft bombardiert hatte, waren 70 Prozent der Gebäude ganz oder teilweise zerstört.

Die genaue Zahl der zivilen Todesopfer durch die Operation Phantom Fury wurde niemals ermittelt.2 Weder das US-Militär noch die Regierungen in Bagdad machten sich in den Folgejahren die Mühe, die Stadt von den in den Trümmern verborgenen Projektilen zu säubern. Obgleich es zahllose Zeugenberichte, Fotos und Videos gab, die zum Beispiel den Einsatz von Phosphor- und anderen Brandbomben dokumentieren. Die US-Armee selbst hat zugegeben, in Falludscha Phosphorbomben eingesetzt zu haben. Allerdings steht diese Waffe nicht auf der Verbotsliste der Chemiewaffenkonvention – solange sie in ihrer „legalen“ Weise als Leuchtstoff und Nebelwaffe eingesetzt wird. Vieles spricht jedoch dafür, dass die US-Truppen im Irak Phosphor direkt gegen Personen eingesetzt haben.3

Die seit 2003 stark gestiegene Zahl von Fehlbildungen ist zudem ein klares Indiz dafür, dass auch Uranmunition zum Einsatz kam. „Meine Vermutung ist, dass sie diese Waffe eingesetzt haben, um Häuserwände zu durchbrechen“, sagte der britische Forscher Chris Busby dem Independent.4 Laut einem Bericht der niederländischen NGO Pax feuerte die US-Armee 2003 insgesamt über 300 000 solcher Geschosse teils auch auf Wohngebiete ab.5

In Falludscha sind die kranken Kinder ein Tabuthema. Viele tun sich schwer, darüber zu sprechen – auch aus Angst vor sozialer Isolation. So etwa der Vater eines 13-jährigen Mädchens, das mit einer deformierten Wirbelsäule auf die Welt kam: „Bitte, in unserer Familie gibt es keine Kranken!“ Er bat uns, ihn nicht noch einmal zu kontaktieren. Selbst die politischen Verantwortlichen in der Stadt geben keine Informationen heraus – aus Angst vor unangenehmen Folgen oder dem Verlust ihrer Jobs. Solche Befürchtungen äußerten mehrere Funktionäre im Provinzrat von al-Anbar und Angestellte des Gesundheitsministeriums in Bagdad.

Nazem al-Hadidy, Pressesprecher im Krankenhaus von Falludscha, war einer der wenigen, die bereit waren, mit uns zu reden. Kurz nach dem Interview verlor er allerdings seinen Posten in Falludscha und wurde versetzt. Bei unserem Treffen führte uns al-Hadidy durch die verschiedenen Abteilungen des Krankenhauses bis in die Bibliothek, wo zahlreiche Studien und Berichte lagern. An den Wänden hingen dutzende Fotos von Neugeborenen mit Fehlbildungen. In einer Reihe Babys mit deformierten oder fehlenden Körperteilen. In einer anderen Neugeborene mit nur einem Auge, mit nach außen gestülpten Organen, seltenen Hautkrankheiten oder deformierten Lippen, Nasen und Ohren. Auf manchen Fotos waren die Körper und einzelnen Gliedmaßen kaum noch zu erkennen. „Wie ihr mit eigenen Augen sehen könnt, sind Geburtsfehler hier alles andere als eine Ausnahme. Und in Zukunft könnten es noch mehr werden“, sagte al-Hadidy. Er zeigte auf ein Foto, das Ende 2018 aufgenommen wurde: „Dieses Baby starb kurz nach der Geburt, wie so viele andere auch.“

Nach offiziellen Schätzungen leben etwa 450 000 Menschen im Großraum Falludscha, die Hälfte davon in der Stadt. Für all diese Menschen gibt es nur zwei Krankenhäuser. Im Educational Hospital, mit lediglich 200 Betten, wurden noch bis 2012 alle Patienten, also auch die Gebärenden, versorgt – so lange dauerten die Instandsetzungsarbeiten des zweiten Krankenhauses, des Gynecological and Pediatric Hospital, in dem heute zwölf Gynäkologinnen und elf Kinderärzte arbeiten.

„Unser Ärzteteam schafft es nicht, die notwendige Gesundheitsversorgung für die Menschen in der Stadt und den umliegenden Dörfern sicherzustellen, vor allem wenn es um die Früherkennung von Krankheiten und Fehlbildungen geht“, erklärt eine Ärztin. Laut Melderegister werden jedes Jahr etwa 6000 Babys in Falludscha geboren. Wie viele davon krank sind oder Geburtsfehler haben, kann niemand genau sagen. Alle Anfragen dazu ans Gesundheitsministerium in Bagdad blieben unbeantwortet.

Mit Hilfe einer Gruppe von Ärzten und Angestellten bekamen wir jedoch Zugang zu den Aufzeichnungen der beiden Krankenhäuser in Fallu­dscha über die Anzahl der Fälle von Geburtsfehlern im Zeitraum zwischen 2010 und Anfang 2014, als die Stadt vom IS eingenommen wurde.

Die Kinderärztin Samira al-Aani und einige ihrer Kollegen haben die Daten während ihrer Arbeitszeit gesammelt. Laut den Aufzeichnungen von al-Aani wurden 2010 im 116-tägigen Untersuchungszeitraum 345 Kinder mit Fehlbildungen des Nervensystems, der Wirbelsäule und des Gehirns oder mit Lippen-Kiefer-Gaumensegel-Spalten geboren. Im gleichen Zeitraum 2011 registrierte al-Aani 309 Fälle, 2012 waren es 363 und 2013 zählte sie 334 Fehlbildungen.

Auf 2292 Geburten kamen durchschnittlich 334 Fehlbildungen – das sind 14,6 Prozent aller Neugeborenen. Der weltweite Durchschnitt liegt bei etwa 6 Prozent. Als der IS Anfang 2014 für fast drei Jahre die Kontrolle in Falludscha übernahm, flüchteten die meisten an der selbst initiierten Studie beteiligten Ärztinnen und Ärzte aus der Stadt. Danach zählte niemand mehr die auftretenden Fehlbildungen.

Einer der letzten Ärzte, denen es Ende 2015 gelang, Falludscha zu verlassen, war Ahmad al-­Shami. „Die Kämpfe erreichten ihren Höhepunkt, kurz nachdem Daesh die Macht in der Stadt übernommen hatte“, erinnert er sich. „Es war praktisch kein medizinisches oder administratives Personal mehr in der Stadt, und die Verwundeten hatten Vorrang vor anderen Patienten. Damals interessierte sich keiner für das Thema Geburtsfehler.“ Al-Shami sitzt in seiner Privat­bi­blio­thek, vor ihm ein Stapel mit Krankenakten auf Arabisch und Übersetzungen auf Englisch. „Bei den gesammelten Daten handelt es sich nur um die Kinder, die im Krankenhaus zur Welt gekommen sind“, erklärt er.

Von einem anderen Arzt, der seinen Namen nicht nennen will, erfahren wir, dass viele Frauen in Falludscha aus alter Tradition ihre Kinder zu Hause zur Welt bringen. Kommt es bei diesen Hausgeburten zu Komplikationen oder hat das Kind Fehlbildungen, taucht dies in keiner Akte auf: „Man kann also davon ausgehen, dass die tatsächliche Zahl von Geburtsfehlern noch höher liegt.“

Samira al-Aani war die erste Ärztin, die die Fälle von Fehlbildungen systematisch dokumentiert hat. „In den Jahren 2005 und 2006 haben wir auch einige Geburtsfehler registriert, aber die Zahl war lange nicht so hoch wie heute“, sagt al-Aani. „2009 hatten wir innerhalb von drei Wochen 37 Fälle. 13 allein an einem Tag. Damals haben wir verstanden, dass wir es mit eine Katastrophe zu tun haben, die außerordentliche Maßnahmen erfordert. Also haben wir angefangen, alle Fälle zu dokumentieren und auch Hausbesuche zu machen.“

Al-Aani gab die Ergebnisse ihrer Untersuchungen nicht nur an die Medien weiter, sondern auch an das Gesundheitsamt der Provinz al-Anbar und an das Gesundheitsministerium in Bagdad. Doch obwohl die Daten zeigen, dass die Fallrate in Falludscha deutlich über dem Durchschnitt liegt, gab es keinerlei Reaktion von offizieller Stelle.

Eine der Ärztinnen am Gynecological and Pediatric Hospital, die ihren Namen ebenfalls nicht nennen wollte, hat die Tragödie in der eigenen Familie erlebt. Ihre Schwägerin bekam ein Kind, dessen untere Gliedmaßen zusammengewachsen waren. „Die Stadt ist durch den Krieg verstrahlt, und die zuständigen Ministerien tun so, als ginge sie das nichts an. Die Kosten für die chirurgischen Eingriffe müssen wir selbst tragen. Wir bekommen zwar Unterstützung von europäischen Organisationen, aber bis heute nichts von der irakischen Regierung.“

Das einzige offizielle Dokument zur Frage der Fehlbildungen ist die achtseitige Zusammenfassung eines Berichts, den das irakische Gesundheitsministerium 2013 in Zusammenarbeit mit der WHO erstellt hat. Die Ergebnisse dieses Berichts „über die häufigsten Geburtsfehler in 18 irakischen Regionen“6 werden allerdings von vielen Experten angezweifelt.

So kommt der Bericht zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass Falludscha und Basra im Vergleich zu anderen Städten, die nicht Ziel intensiver Bombardements waren, die niedrigste Zahl an Geburtsfehlern aufweisen würden. In Fal­lud­scha habe man bei durchschnittlich 14,5 von 1000 Neugeborenen Fehlbildungen festgestellt, also nur ein Zehntel dessen, was al-Aani und ihre Kollegen in den beiden Krankenhäusern der Stadt registriert hatten. „Das sind völlig falsche Zahlen“, sagt al-Aani. „Jeder Arzt in Falludscha weiß das.“

Keith Baverstock, Mediziner am Department of Environmental Science der University of Eastern Finland, arbeitete 13 Jahre als regionaler Berater für die WHO. Sein Spezialgebiet ist die Strahlenbelastung etwa durch die Verwendung von Uranmunition und deren Auswirkungen auf die Gesundheit. Baverstock bezeichnete die Irak-Studie der WHO als „sehr frustrierend“: „Es wurde von vornherein ausgeschlossen, dass geprüft wird, inwieweit die Zunahme von Geburtsfehlern mit der Verwendung von abgereichertem Uran zusammenhängt“, sagte er dem britischen Guardian.7 Zudem habe die Studie die Patientenakten der irakischen Krankenhäuser völlig ignoriert, so Baverstock. „Statt solch wertvolle Quellen zu nutzen, stützte sich die Studie auf Interviews mit Müttern.“

Baverstock war schon 2001 Mitglied in dem Redaktionsteam einer WHO-Studie gewesen, die sich mit den gesundheitlichen Auswirkungen von Uranmunition beschäftigte, die 1991 im Ersten Golfkrieg zum Einsatz kam. Seine Empfehlungen und Hinweise auf neuere Forschungsergebnisse über die genverändernde Wirkung von Uranmunition wurden schlicht ignoriert. „Mein Beitrag wurde nicht in die Studie aufgenommen, obwohl er in Teilen auf Forschungen des Pentagons basiert, die bereits veröffentlicht wurden“, sagt Baverstock. Das Verteidigungsministerium ließ damals US-Soldaten untersuchen, die durch „friendly fire“ mit abgereichertem Uran in Berührung gekommen waren und nachweislich Genmutationen aufwiesen.

Auch al-Aani hegt große Zweifel an der WHO-Studie: „2012 haben uns Experten der WHO kontaktiert. Sie wollten einen Besichtigungstermin in unserem Krankenhaus. Aber niemand kam.“ Später habe sie erfahren, dass einige Ärzte betroffene Familien besucht haben und einen Fragebogen über Geburtsfehler erstellt haben. „Ich habe die Krankenhausverwaltung darauf angesprochen, aber die hat abgestritten, dass es überhaupt einen Fragebogen gab.“

„Wir haben ausgewählte Adressen bekommen“, erzählt eine Ärztin, die an der Umfrage beteiligt war und ihren Namen nicht nennen will. Insgesamt sollen 10 800 Personen in 18 Regionen des Irak an der Studie teilgenommen haben.

Der Zusammenhang zwischen der Metallbelastung durch Munitionsrückstände (Uran, Blei, Quecksilber) und Gendefekten war in den vergangenen Jahren auch Gegenstand anderer wissenschaftlicher Studien. So veröffentlichten Forscher der University of Michigan 2012 einen Bericht, der sich mit der Situation in Falludscha und Basra beschäftigt.8

In Zusammenarbeit mit irakischen Ärzten fanden die britischen Wissenschaftler heraus, dass die Bleikonzentration in den Haaren von Kindern, die in Falludscha mit Fehlbildungen geboren wurden, fünfmal höher war als bei gesunden Kindern. Zudem stellte die Studie eine im Vergleich zu anderen irakischen Städten dreimal höhere Bleikonzentration in den Zähnen von Kindern aus Basra fest. Bei einer chronischen Bleivergiftung wird das Nervensystem geschädigt, was zu Lähmungen, Gehirnschäden und sogar zum Tod führen kann.

Taleb al-Janabi, der zwischen 2008 und 2012 Vorsitzender der Gesundheits- und Umweltkommission im Provinzrat von al-Anbar war, sagt: „Einige der Kommissionsmitglieder haben versucht eine Resolution durchzubringen, die quantitative Studien zu diesem Thema ermöglicht hätte. Aber weder das Gesundheits- noch das Umweltministerium haben in dieser Sache kooperiert.“ Er sei mehrmals zum Gesundheitsministerium in Bagdad gefahren und habe jede Möglichkeit ergriffen, um eine Lösung für das Problem zu finden, erzählt al-Janabi: „Aber es gab viele Hindernisse, entweder politische oder finanzielle. Meiner Meinung nach liegt das am internationalen Druck.“ Ähnlich sieht es ein anderes ehemaliges Mitglied des Provinzrats in al-Anbar: „Die Lokalpolitiker vollführen einen Balanceakt zwischen dem internationalen Druck einerseits und den Forderungen aus der Bevölkerung andererseits.“

Al-Aani berichtet, dass sie nach der Veröffentlichung einiger Fakten zur Befragung ins Gesundheitsministerium einbestellt wurde. „Hätte ich nicht die Unterstützung einiger Freunde in dieser Sache, hätte ich wahrscheinlich meinen Job verloren.“ Gleichzeitig habe es Versuche gegeben, die gestiegene Rate von Geburtsfehlern durch Munitionsbestände zu erklären, die noch aus der Zeit von Saddam Hussein stammten, was die US-Armee vom Verdacht eines Kriegsverbrechens entlastet hätte. Auch für eine andere Ärztin des Krankenhauses in Falludscha, die zuerst nicht mit uns sprechen wollte, ist die Verantwortung klar: „Wenn ihr meine Meinung hören wollt – ich bin hundertprozentig davon überzeugt, dass die Hauptursache für die Fehlbildungen die US-Munition ist.“

Die Kinder auf den Fotos ausfindig zu machen, die an den Wänden des Falludscha-Krankenhauses hängen, ist alles andere als einfach. Viele von ihnen sind kurz nach der Geburt gestorben und die Familien der Überlebenden sprechen nicht gern mit der Presse. Raed Saleh ist eine Ausnahme. Der 36-jährige Tagelöhner hat zwei Töchter: Aischa, 5 Jahre, die unter einer Hirnatrophie leidet, und Malak, 4 Jahre, die seit ihrer Geburt auf einem Auge blind ist. Mit seinen beiden Kindern im Arm empfängt uns Saleh in seiner Ein-Zimmer-Wohnung im Al-Shorta-Viertel im Norden von Falludscha.

„Meine beiden Töchter können im Irak nicht behandelt werden“, sagt Raed, und mit leiser Stimme fügt er hinzu: „Ich mache mir schreckliche Sorgen, wenn ich höre, wie die anderen Kinder auf der Straße meine jüngere Tochter Malak hänseln und sie ‚Einauge‘ rufen. Ich mache mir Sorgen um ihre Zukunft und um die ihrer Schwester. Wir leben in einer Gesellschaft, die Menschen mit Behinderungen als Aussätzige betrachtet.“ Wie viele andere Familien in Falludscha haben Raed und seine Frau beschlossen zu verhüten. Das ist kein Einzelfall: Laut einer nichtrepräsentativen Apothekenumfrage kaufen in Falludscha 14 Prozent der Kunden Verhütungsmittel, im Nachbardistrikt al-Hit sind es nur 2 Prozent.

Mithilfe von internationalen NGOs konnte das Krankenhaus in Falludscha zwei moderne Ultraschallgeräte zur Früherkennung von Fehlbildungen anschaffen. Diese wurden 2014 allerdings von den IS-Kämpfern beschlagnahmt und an einen unbekannten Ort gebracht. Doktor S., die einzige Spezialistin für Pränataldiagnostik in Falludscha, erzählt, wie sie den Müttern damals in den Aufklärungsgesprächen von weiteren Schwangerschaften abgeraten hat.

Wegen des konservativen Klimas in der Stadt hat sich Doktor S. vorsorglich Rechtsgutachten, sogenannte Fatwas, von Geistlichen in Ägypten, in Saudi-Arabien und von der islamischen Gesellschaft in London ausstellen lassen, die eine Abtreibung in den ersten Schwangerschaftsmonaten erlauben, wenn eine Fehlbildung diagnostiziert wird. Viele Geburten fänden allerdings zu Hause mithilfe von Hebammen statt, sagt Doktor S. Zudem würden viele Männer eine Untersuchung im Krankenhaus vor der Geburt des Kindes ablehnen. „Diese Fälle werden nicht registriert und fehlen dann auch als Beweismittel gegen diejenigen, die diese Katastrophe zu verantworten haben.“

Die Stammes- und Clantraditionen sind auch dafür verantwortlich, dass viele Familien mit der Geburt eines fehlgebildeten Kindes nicht zurechtkommen. Die Männer lassen sich oft scheiden, wenn ihre Frauen ein krankes Kind zur Welt bringen. Während unserer Recherche hörten wir zudem zahlreiche Geschichten von Familien, die ihre Kinder mit Fehlbildungen von der Außenwelt isolieren und nicht auf die Straße lassen.

Der 37-jährige Adel Kamel, der im Al-Shu­hada-Viertel von Falludscha wohnt, hat bisher rund 15 000 Dollar für die Behandlungen seines 6-jährigen Sohns Abdullah bezahlt. Abdullah leidet an einer Harnblasenfistel und anderen Fehlbildungen seiner Geschlechtsorgane. „Die Ärzte in Irakisch-Kurdistan, die die Diagnose gestellt haben, haben gesagt, dass die Kosten für die Behandlung und die plastisch-chirurgischen Ope­rationen mindestens 30 000 Dollar betragen. Ohne Garantie, dass die Operationen erfolgreich sind.“

Von der irakischen Regierung bekommt Kamel keinerlei finanzielle Hilfe; jetzt sucht er Unterstützung bei einer französischen NGO. Weil es in Falludscha keine Spezialisten gibt, muss Abdullah in der jordanischen Hauptstadt Amman operiert werden. Kamels Sohn ist nur eines der vielen Opfer in einer Stadt, die mit den Folgen des Kriegs seit 15 Jahren alleingelassen wird. Und wie es aussieht, wird sich daran so schnell nichts ändern.

1 Kurz zuvor waren in Falludscha vier Mitarbeiter des privaten Sicherheitsunternehmens Blackwater gelyncht worden. Die Bilder der geschändeten Leichen gingen um die Welt.

2 Das Internationale Rote Kreuz spricht von mindestens 800 zivilen Toten. Etwa 1200 bis 2000 Aufständische wurden getötet. Siehe: „Red Cross Estimates 800 Iraqi Civilians Killed in Fallujah“, Democracy Now, 17. November 2004.

3 Siehe George Monbiot „The US used chemical weapons in Iraq – and then lied about it“, The Guardian, 15. November 2005.

4 Siehe Patrick Cockburn, „Toxic legacy of US assault on Fallujah‚ ­worse than Hiroshima“, The Independent, 24. Juli 2010. Das extrem dichte Metall Uran wird in Granaten verbaut, um deren Durchschlagskraft zu erhöhen, etwa um gepanzerte Ziele zu zerstören.

5 „Laid to waste. Depleted uranium contaminated military scrap in Iraq“, PAX-Bericht, 19. Juni 2014.

6 Siehe www.reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Congenital_birth_defects_report.pdf.

7 Siehe Nafeez Ahmed „How the World Health Organisation covered up Iraq’s nuclear nightmare“, The Guardian, 13. Oktober 2013.

8 „Metal Contamination and the Epidemic of Congenital Birth Defects in Iraqi Cities“, Bulletin of Environmental Contamination and Toxicology, Nr. 89 (5), November 2012.

Aus dem Englischen von Jakob Farah

Kamal al-Ayash ist Journalist in al-Anbar. Diese Reportage entstand in Zusammenarbeit mit NIRIJ (Network of Iraqi Reporters for Investigative Journalism) und erschien zuerst auf www.daraj.com.

© Für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin

Le Monde diplomatique vom 07.11.2019, von Kamal Al Ayash