10.10.2019

Die Tugenden des Monsieur Trudeau

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Die Tugenden des Monsieur Trudeau

Kanadas Premier gibt sich feministisch, umweltfreundlich und solidarisch – tatsächlich folgt er in vielem seinem konservativen Vorgänger

von David Carment und Richard Nimijean

Es wird eng für den Regierungschef SEAN KILPATRICK/ap
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Für die Kanadier, die an die langweiligen Anzüge des konservativen Premierministers Stephen Harper gewöhnt waren, bedeutete der Sieg des coolen, stets strahlenden Justin Trudeau bei der Unterhauswahl im Oktober 2015 einen Bruch. Während Harper es stets abgelehnt hatte, über „Frauenprobleme“ zu sprechen, etwa die ungleiche Bezahlung oder sexualisierte Gewalt, ließ Trudeau wissen, dass er seine Söhne zu überzeugten Feministen erziehe. In ostentativer Abgrenzung zu dem Zynismus, den man den Konservativen vorwarf, versprach der neue Premier „sunny ways“. Unter seiner Führung sollte Kanada aus dem Schatten der USA heraustreten und auf die Bühne der internationalen Politik zurückkehren – so versprach es Justin Trudeau am Abend seines Wahlerfolgs.

Solche Reden begeisterten nicht nur die Kanadier, sondern auch die internationale Presse, die Trudeau zum Gegenpol Trumps stilisierte – als personifiziertes Antidot gegen den Europa wie in den USA erstarkenden Na­tio­na­lismus und Rechtsextremismus. Zunächst schien Trudeau den Erwartungen gerecht zu werden. Kurz nach seinem Amtsantritt reiste er nach London und schwärmte dort von Kanadas Vielfalt als „Stärke“. Und auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos erklärte Trudeau im Januar 2016, Diversität sei gut fürs Geschäft.

Auf der UN-Klimakonferenz in Paris brach Trudeau mit der jahrzehntelangen Verweigerungspolitik seines Vorgängers. Kanada sei „hier, um seine Hilfe anzubieten“, verkündete der Premier im Plenum – zur Freude der Umweltaktivistinnen und der Länder, die den Klimawandel aktiv bekämpfen. Und er propagierte einen Neuanfang in der Migrationspolitik: Während die Europäer über die Verteilung der syrischen Kriegsflüchtlinge stritten, fuhr der Kanadier im Dezember 2015 zum Flughafen in Toronto und nahm die Ankömmlinge mit den Worten „Ihr seid hier zu Hause!“ in Empfang.

Vier Jahre später ist der Stern von Justin Trudeau verblasst. Die Kana­dier sind misstrauisch geworden. Viele einst enthusiastische Kommentatoren erkennen inzwischen eine Kontinuität mit Harpers Politik, vor allem in außenpolitischen Belangen. Seinen Kritikern erscheint Trudeau mittlerweile vor allem als Vertreter des „virtue signalling“: Gemeint ist damit eine Kommunikationstechnik, bei der es darum geht, während viel beachteter Ereignisse möglichst oft in den Medien ­aufzutauchen – vor allem in den sozialen Netzwerken –, um die eigene Tugendhaftigkeit zur Schau zu stellen, ohne dass darauf auch Taten folgen müssen.

So brüstet sich der Premier mit einer internationalen Entwicklungshilfepolitik, die auf „empowerment“ von Frauen durch Bildung, Mikrokredite und Gründerhilfe setzt. Tatsächlich hat die kanadische Regierung hier nicht nur wenig investiert – Trudeau findet sogar das Ziel, auf das sich die Vereinten Nationen immerhin schon vor 50 Jahren geeinigt haben, nämlich mindestens 0,7 Prozent des BIPs für Entwicklungshilfe auszugeben, „zu ambitioniert“. Da wundert einen auch nicht mehr folgendes vernichtendes Fazit der Canadian International Development Platform: „Die kanadische Rhetorik über internationale Entwicklungszusammenarbeit wird nicht flankiert von einem ernsthaften und gezielten finanziellen Engagement.“1

Gleiches gilt für das Thema Menschenrechte. Nach einem Streit mit Saudi-Arabien über dessen Umgang mit Menschenrechtsaktivisten versicherte Außenministerin Chrystia Freeland am 6. August 2018 bei einer Pressekonferenz: „Wir werden die Menschenrechte und die Rechte der Frau immer verteidigen, und daran wird sich nichts ändern.“ Im Januar 2019 ließ es sich die Ministerin dann auch nicht nehmen, die 18-jährige Rahaf Mohammed al-Kunun am Flughafen persönlich in Empfang zu nehmen. Die junge Frau aus Saudi-Arabien war vor ihrer Familie geflohen und hatte sich per Twitter an die Weltöffentlichkeit gewandt, woraufhin ihr mehrere Länder Asyl angeboten haben – Kanada reagierte am schnellsten.

Nur einige Monate zuvor hatte es die kanadische Regierung abgelehnt, einen Vertrag mit Saudi-Arabien über die Lieferung militärischer Ausrüstung in Höhe von umgerechnet 15 Milliarden Euro zu annullieren – Ausrüstung, die Riad auch im Krieg in Jemen einsetzt, das übrigens humanitäre Hilfe von Kanada erhält.

„Das ist ein bisschen so, wie wenn man jemandem beim Kauf von Krücken unterstützt, obwohl man vorher mitgeholfen hat, seine Beine zu brechen“,2 sagt Cesar Jamarillo von der kanadischen Friedens-NGO Project Plough­shares. Trudeau versuchte die Lieferung im Januar 2019 während einer Konferenz an der Universität der westkanadischen Stadt Regina so zu rechtfertigen: In einer Demokratie müsse jeder „die von den Vorgängerregierungen unterzeichneten Verträge respektieren“.

Außenpolitik im Kielwasser der USA

Und entgegen seinen Ankündigungen richtet Trudeau wie sein Vorgänger die eigene Außenpolitik an der Linie Washingtons aus. Beim G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 überrumpelte der Premier Angela Merkel mit der Forderung, in der Erklärung zur Umweltpolitik das Klimaübereinkommen von Paris nicht zu erwähnen. Dies wurde als Versuch interpretiert, US-Präsident Trump zu besänftigen, denn kurz darauf standen die Neuverhandlungen über das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) an.

Viel gebracht hat dieser Versuch allerdings nicht: Der neue Text (United States-Mexico-Canada Agreement), der im November 2018 unterzeichnet wurde, enthält zwar ein paar zaghaft progressive Schritte – etwa in Bezug auf die Personenfreizügigkeit und beim Handel mit Medikamenten –, vor allem aber enthält er Zugeständnisse an Washington.

Eine der Klauseln räumt den USA ein nie dagewesenes Vetorecht in Bezug auf künftige Freihandelsvereinbarungen zwischen Kanada und China ein. Zudem behält sich Washington die Möglichkeit vor, im Namen seiner nationalen Sicherheit hohe Zölle auf Aluminium und Stahl einzuführen.

Eigentlich wollte Ottawa die Handelsbeziehungen mit Peking stärken, um von Washington weniger abhängig zu sein. Aber die kanadische Regierung hat ihr eigenes Projekt versenkt. Das wurde auch deutlich, als sie Anfang Dezember 2018 die Finanzchefin des chinesischen Huawei-Konzerns, Meng Wanzhou, auf Washingtons Ersuchen am Flughafen in Vancouver festnehmen ließ. Das Weiße Haus wirft der Chinesin Betrug und Verstöße gegen die Iran-Sanktionen der USA vor.

Eine der wenigen Kritiker des kanadischen Vorgehens im Fall Wanzhou ist Kanadas früherer Botschafter in Peking, John McCallum. Er musste seinen Posten verlassen, nachdem er bei einer Pressekonferenz angemerkt hatte, die USA würden Extraterritorialität als Waffe einsetzen.4

Ottawa beruft sich dagegen auf bestehende Abkommen mit den Vereinigten Staaten. Was jedoch nichts daran ändert, dass es sich bei den Sanktionen der USA gegen Iran, die letztlich der Grund für den Auslieferungsantrag sind, um unilaterale Maßnahmen handelt, für die es keinen Beschluss des UN-Sicherheitsrats oder irgendeine formelle Abstimmung zwischen Washington und seinen Verbündeten gibt.

Nach Meinung des britischen Magazins Economist versucht Ottawa lediglich, die alten Prinzipien des liberalen Internationalismus an die von der Trump-Administration geschaffenen Realitäten anzupassen.5 Dabei ist der Spielraum von mittelgroßen Volkswirtschaften wie der kanadischen wegen des US-chinesischen Handelskriegs ohnehin schon eingeschränkt.

Andere Kommentatoren sind mittlerweile weniger nachsichtig. Ihrer Meinung nach legen die Entscheidungen von Trudeaus Team nahe, dass Kanadas Regierung den Einfluss des mächtigen Nachbarn nicht einfach nur erduldet, sondern dass sie dessen Vision übernommen hat. So schreibt Thomas Walkom im Toronto Star von einer „Rückkehr der liberalen Falken“, und der Ex-Diplomat Daryl Copeland sorgt sich: „Es hat den Anschein, dass Außenministerin Freeland von der ‚hard power‘ nicht nur fasziniert, sondern in beträchtlichem Maße geblendet ist.“6

2018 wurde Chrystia Freeland vom peking- und moskaufeindlichen US-Magazin Foreign Policy zur Diplomatin des Jahres gekürt. Unter Freelands Anleitung hat die Trudeau-Regierung Venezuela, Syrien, Russland, Iran und Nordkorea ganz oben auf ihre außenpolitische Prioritätenliste gesetzt. Damit imitierte – und unterstützte – sie die Initiativen der Trump-Administration: Gipfeltreffen, Sanktionen, politischer Druck und militärisches Aufgebot.

Freeland hat etwa das von ihr im Februar 2019 in Ottawa hastig anberaumte Treffen der Lima-Gruppe zur Situa­tion in Venezuela als ein Musterbeispiel für Diplomatie und Verständigung im Sinne Südamerikas gepriesen. Dabei zeichnet sich die Lima-Gruppe vor allem durch ihre Feindseligkeit gegenüber dem Regime in Caracas und seine Entschlossenheit, Präsident Maduro zu stürzen, aus.7

Freeland hielt es nicht für notwendig, Moskau und Peking zu diesem Treffen einzuladen, die beiden finanziellen Hauptförderer Venezuelas. Auch beim Nordkorea-Gipfel, den Kanada 2017 ausrichtete, waren keine Vertreter Russlands und Chinas zugegen. Die Trudeau-Regierung meint offenbar, dass sich die Krisen, die den Planeten bedrohen, ohne die beiden Mächte entschärfen ließen. Dabei würde Ottawa, wenn es etwa beim Thema Arktis weiter mitreden will, zweifellos von Gesprächen mit Moskau profitieren. Und seine wirtschaftlichen Ziele stimmen in vielem mit denen Pekings überein. Trotz alledem ist Ottawa offenbar nicht an einem Dialog interessiert.

Allerdings droht nun ein Skandal die angebliche moralische Überlegenheit Kanadas zu unterminieren: Das Büro des Premierministers wird des Versuchs verdächtigt, Einfluss auf ein Strafverfahren gegen den kanadischen Baukonzern SNC-Lavalin genommen zu haben, dem Korruption vorgeworfen wird.

Zudem wurden jüngst Fotos aus dem Jahr 2001 veröffentlicht, die Tru­deau auf einer Kostümparty mit schwarz geschminktem Gesicht zeigen. „Blackfacing“ ist eine Praxis, die seit den Tagen der Bürgerrechtsbewegung als rassistisch erachtet wird. Trotzdem sich der Premier für sein damaliges Verhalten entschuldigt hat – diese Angelegenheit torpediert die Bemühungen der Regierung, vor der anstehenden Wahl am 21. Oktober die eigene vermeintliche Tugendhaftigkeit zur Schau zu stellen, um von ihrer dürftigen diplomatischen Bilanz abzulenken. Liberale und Konservative liegen in Umfragen derzeit gleichauf.

Werden die Mitte-links-Wähler und die Jungen, die Trudeau vor vier Jahren ins Amt gewählt haben, die Liberalen dafür bestrafen, dass sie ihre Versprechen nicht gehalten haben? Oder werden sie widerwillig erneut für Trudeaus Partei stimmen, allein um die Konservativen zu verhindern? Die Entscheidung der Liberalen, nicht an einer Fernsehdebatte über die Außenpolitik teilzunehmen – ein Thema, das bei der Wahl 2015 mit zu ihrem Erfolg beigetragen hatte –, zeugt von der Angst, mit eigenen Widersprüchen und Fehlschlägen konfrontiert zu werden. Denn ungeachtet der schönen Reden hat Kanada seinen Platz auf der internationalen Bühne noch immer nicht gefunden.

1 Matthew Gouett und Bridget Steele, „How Canada’s G7 summit fell short for women“, Policy Options, 22. Juni 2018.

2 Zitiert in Brendan Kennedy und Michelle Shephard, „Canada’s dual role in Yemen: Arms exports to Saudi coalition dwarf aid sent to war-torn country“, The Star, 30. April 2018.

3 Siehe Lori Wallach, „Nafta à la Trump“, LMd, November 2018.

4 Siehe Jean-Michel Quatrepoint, Fahnder im Dienst des Imperiums“, LMd, Januar 2017.

5 „Canada in the global jungle“, The Economist, London, 9. Februar 2019.

6 Zitiert in Thomas Walkom, „The liberal hawk has ­made a comeback“, The Star, 28. Januar 2019.

7 Siehe Alexander Main, „Trumps Taskforce gegen Maduro“, LMd, Juli 2019.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

David Carment und Richard Nimijean lehren an der Carleton University in Ottowa und sind Co-Autoren von „Canada, Nation Branding and Domestic Politics“, Abigdon (Routledge) 2019.

Le Monde diplomatique vom 10.10.2019, von David Carment und Richard Nimijean