07.11.2019

Der digitale Nord-Süd-Konflikt

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Der digitale Nord-Süd-Konflikt

In der WTO wird um neue Regeln für den E-Commerce gerungen

von Cédric Leterme

Lia Darjes, Stillleben mit Ikonen und Knoblauch, 2016, Archival Pigment Print, 52 x 65 cm
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Am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos unterzeichneten am 25. Ja­nuar 76 Staaten eine Erklärung zum Onlinehandel. Sie bekräftigten darin ihre Absicht, „im Rahmen der WTO Verhandlungen über Fragen des E-Commerce zu führen“. Hierfür hatten sich im Dezember 2017 bereits 70 von ihnen auf der 11. WTO-Ministerkonferenz in Buenos Aires ausgesprochen. Zu den Unterzeichnern gehören die weltweit wichtigsten Staaten USA, Japan, die Europäische Union, Russland und China. Von anderen großen Playern wie Indien und von praktisch allen afrikanischen Staaten hingegen fehlt die Unterschrift. Bei dem Thema herrscht also alles andere als Konsens.

„Der Onlinehandel oder E-Commerce ist die jüngste und größte Herausforderung für internationale Wirtschaftsverhandlungen im 21. Jahrhundert“, erklärt die Juraprofessorin Jane Kelsey. „Die ,Richtlinien‘, die hierfür gerade entwickelt werden, gehen weit über den Begriff des Handels im klassischen Sinn hinaus. Ziel ist es, internationale Regeln für die digitale Welt durchzusetzen – neben dem Klimawandel das vielleicht komplexeste, vielschichtigste und daher auch umstrittenste Thema, mit dem sich die Staaten und Gesellschaften derzeit auseinandersetzen müssen.“1

Der Begriff „E-Commerce“ ist eigentlich irreführend. 1998 definierte die WTO, was alles unter E-Commerce fällt, nämlich „die Herstellung, das Bewerben, der Verkauf und der Vertrieb von Produkten auf elektronischem Wege“. Längst gehört aber auch der weltweite Handel mit Daten (das Gold des 21. Jahrhunderts) dazu – für viele Beobachter liegt hier der Kern der Verhandlungen. „Hinter diesem trojanischen Pferd namens E-Commerce steht im Grunde die Frage des Daten­eigen­tums“, erklärt Alberto José Robles vom Instituto del Mundo del Trabajo in Bue­nos Aires. „Sie reden vom elektronischen Handel und sagen, man müsse mit der Zeit gehen, alle Länder würden davon profitieren. Aber die eigentliche Frage ist doch: Wer hat die Kontrolle über die Daten? Und das sind momentan ausschließlich die großen Kon­zerne.“2

Google, Amazon, Facebook, Micro­soft und andere Internetriesen haben das regulatorische Vakuum genutzt, um sich ein Oligopol zu sichern. Damit das so bleibt, haben sie seit Anfang der 2010er Jahre in den USA massiv Lobbyarbeit betrieben. Sie pochen auf das Prinzip des freien Datenverkehrs und lehnen jegliche Verpflichtung zur lokalen Speicherung personenbezogener Daten ab (was zum Beispiel die Einrichtung von Servern in Europa zur Speicherung von Informationen über Europäer erforderlich machen würde).

Die Möglichkeiten des Staates, sich in ihre Tätigkeiten einzumischen, sollen begrenzt bleiben. Deborah James vom globalisierungskritischen Netzwerk Our World is Not For Sale (Owinfs) fasst es so zusammen: „Sie wollen unbeschränkt die Milliarden von Daten, die wir als vernetzte Menschen täglich generieren, sammeln, speichern und übertragen – und zwar auf den Servern ihrer Wahl. Und die stehen ganz überwiegend in den USA.“3

Chinas große Firewall

Zu den bislang größten Lobby-Erfolgen der Techbranche zählt laut Jane Kelsey eine neue Generation von internationalen Handels- und Investi­tions­abkommen, die die USA seit 2010 vermehrt verhandeln.4 Einerseits um anhaltende Blockaden innerhalb der WTO zu umgehen, andererseits um einen weltweiten Rechtsrahmen zu schaffen, der den strategischen Interessen ihrer „New Economy“ entgegenkommt.

Unter diesen Verträgen war die im Februar 2016 unterzeichnete Transpazifische Partnerschaft (TPP) ein erster entscheidender Sieg für die Internetbranche. Das darin enthaltene Kapitel zum E-Commerce greift nahezu wörtlich die Hauptforderungen von Lobbygruppen wie der Internet Association (IA) oder der Computer and Communications Industry Association (CCIA) auf, unter deren Dach die Schwergewichte der Branche versammelt sind. Unmittelbar danach fasste das Büro des US-Handelsbeauftragten – damals unter Leitung von Robert Holleyman, dem ehemaligen CEO der Business Software Alliance, einer weiteren Lobbygruppe der Branche – den Inhalt dieses Kapitels in einem Dokument mit dem Titel „Digital 2 Dozen“ zusammen. Das 24-Punkte-Papier sollte als Referenz für künftige Verhandlungen dienen. Die Forderungen lauten unter anderem: „Grenzüberschreitenden Datenverkehr ermöglichen“ (Punkt 4), „Lokalen Barrieren vorbeugen“ (Prinzip 5), „Erzwungenen Technologietransfer verhindern“ (Prinzip 6) oder auch „Quellcodes schützen“ (Prinzip 7).

Als Donald Trump im Januar 2017 in einer seiner ersten Amtshandlungen ein Dekret zum Ausstieg der USA aus dem noch nicht in Kraft getretenen Abkommen unterzeichnete, ging ein Schaudern durch die Branche. Doch bereits 2018 schlossen die übrigen Unterzeichnerstaaten ein neues Abkommen, das sämtliche Klauseln des TPP zum ­E-Commerce wieder aufgreift. Gleichzeitig kam man in den Neuverhandlungen zum Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Nafta) zwischen den USA, Mexiko und Kanada den Interessen der Internetkonzerne sogar noch stärker entgegen, insbesondere beim Schutz von Quellcodes und Algorithmen.

Dennoch erweist sich die Strategie, diese Bestimmungen in so viele Handelsabkommen wie möglich aufzunehmen, als unfruchtbar. Die Verhandlungen über wichtige Verträge sind festgefahren oder wurden aufgegeben (TTIP, Gats et cetera) und die Neuausrichtung der US-Handelspolitik unter Trump schmälert die Aussichten auf weitere Erfolge. Seitdem scheint der Weg über die WTO wieder attraktiver zu sein.

Ab Mitte 2016 bemühten sich die USA, Japan und die Europäische ­Union darum, das Thema anlässlich der elften WTO-Ministerkonferenz in Buenos ­Aires auf die Tagesordnung zu setzen. Daraufhin bildeten sich drei Lager, wie Parminder Jeet Singh von der indischen Vereinigung IT for Change feststellt: „Einerseits stehen sich, wie in der WTO traditionell üblich, Nord und Süd gegenüber, aber auch, und das ist interessant, Süd und Süd.“5

Zum ersten Lager, das für eine nahezu komplette Deregulierung der Digitalwirtschaft eintritt, gehören die USA, Japan und die EU (deren Posi­tio­nen nur geringfügig voneinander abweichen). Im zweiten Lager sind sich Indien und viele afrikanische Staaten darin einig, dass sich die WTO erst mal um andere Probleme kümmern sollte, wie zum Beispiel die gescheiterte Doha-Entwicklungsagenda oder die Blockade des bei Handelsstreitigkeiten tätig werdenden WTO-Berufungsgremiums durch die USA seit Obama. Ihrer Meinung nach sei es verfrüht, „sich für internationale Regeln für eine Branche einzusetzen, für die sie selbst auf na­tio­na­ler Ebene noch kaum Vorschriften erlassen haben“. So fasst es Léopold Ismael Samba zusammen, Botschafter der Zentralafrikanischen Republik und Koordinator der Gruppe der am wenigsten entwickelten Länder (LDC) in der WTO.6 Zum dritten Lager gehören Länder wie Malaysia, Thailand, Nigeria oder Bangladesch, die sich zwar für den E-Commerce interessieren, aber gegen die vom Norden propagierte Deregulierung sind.

Die Befürworter der Deregulierung versuchen die Kritiker mit dem Versprechen auf Entwicklungsfortschritte zu ködern. Parminder Jeet Singh hält das für ein Hirngespinst: „Die Internetbranche in diesen Ländern steckt noch in den Kinderschuhen. Aus solchen Diskussionen, Verhandlungen oder Abkommen auf internationaler Ebene wird sie keineswegs gestärkt hervorgehen. Die Sorge, dass sie erhebliche Nachteile erleidet, scheint sehr viel realistischer.“

Der indische Aktivist spricht sich für einen digitalen Souveränismus aus, der es diesen Staaten erlauben würde, den E-Commerce zunächst im eigenen Land unter Kontrolle zu bringen, bevor sie in multilaterale Verhandlungen eintreten. Und er empfiehlt, für die Länder des globalen Südens eigens reservierte Orte des Austauschs zu schaffen, beispielsweise im Rahmen der Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (Unctad): „Bei Organisationen wie der WTO wird knallhart verhandelt. Entwicklungsländer müssen zunächst in anderen Foren ihr Verständnis vom digitalen Handel, von dessen Geoökonomie und möglichen Steuerungsmechanismen entwickeln. Und dann gut vorbereitet zur WTO kommen.“7

Auch andernorts regt sich Widerstand. Am 1. April 2019 unterzeichneten auf Initiative des Netzwerks Owinfs 315 Organisationen aus über neunzig Ländern einen offenen Brief „gegen die Regeln der Welthandelsorganisation zum digitalen Handel“.8 Ihrer Meinung nach stellen die vorgeschlagenen Regularien „weltweit eine ernsthafte Bedrohung für Entwicklung, Menschenrechte, Arbeit und Wohlstand dar.“ Sie rufen die Mitglieder der WTO dazu auf, „nicht mehr länger auf Verhandlungen zum E-Commerce zu drängen, sondern sich vorrangig darauf zu konzentrieren, die internationalen Handelsregeln so zu verändern, dass sie Wohlstand für alle schaffen“.

Über allen derzeitigen Verhandlungen schwebt allerdings das Damoklesschwert des Handelskriegs zwischen den USA und China. Die Digital­in­dus­trie Chinas ist die einzige, die den Giganten des Silicon Valley die Stirn bieten kann. In einigen Schlüsselsektoren ist sie Google und Co sogar voraus, etwa bei der 5G-Technolgie. Dieser Vorsprung ist jedoch einer Politik zu verdanken, die den Prinzipien des „freien und offenen Internets“ (sprich: den Prinzipien des freien Handels), auf die sich die westliche Internetbranche ­offiziell beruft, dia­me­tral entgegensteht.

Jüngst klagte Ana Swanson in der New York Times: „Im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte hat China die Große Firewall errichtet und befestigt, die Webseitenbetreiber wie YouTube, Facebook, Google und die New York ­Times daran hindert, mehr als 700 Millionen chinesische Internetuser zu erreichen. Hinter dieser Mauer prosperieren chinesische Internetkonzerne wie Alibaba, Baidu oder Tencent und entwickeln Spitzentechnologien, mit der sie ihre westlichen Konkurrenten in vielerlei Hinsicht überflügeln.“9

Überdies sind ausländische Firmen in China dazu verpflichtet, ihre Daten vor Ort zu speichern und mit chinesischen Unternehmen zusammenzuarbeiten. „China bezeichnet seine Einschränkungen im Bereich Datenfreiheit als erforderliche Maßnahmen zur Wahrung der nationalen Sicherheit“, so Swanson weiter. Viele Player der Branche seien jedoch der Ansicht, dass „diese Vorschriften darauf abzielen, Peking eine Vormachtstellung in Industrien mit hohem Datenaufkommen zu verschaffen.“

Diese Hindernisse werden so schnell auch nicht verschwinden. „Selbst im Rahmen der gegenwärtigen bilateralen Verhandlungen mit den USA hat China deutlich gemacht, dass Themen wie transnationale Datenströme, eine Aufhebung des Verbots der Datenspeicherung auf lokalen Servern und das Cloud-Computing nicht verhandelbar sind.“10

Auf dem diesjährigen G20-Gipfel in Osaka stellten die japanischen Verhandlungsführer die Idee eines „freien Datenflusses im gegenseitigen Vertrauen“ vor, um auf die Kritik an den laufenden WTO-Verhandlungen zu reagieren. Die große Mehrheit der Entwicklungsländer, allen voran Indien, Indonesien und Südafrika, boykottierten die Initiative. Die Verhandlungen auf der nächsten WTO-Ministerkonferenz – im Juni 2020 in Astana – werden von entscheidender Bedeutung sein.

1 Jane Kelsey, „A sleeping giant: The scope and implications of New Zealand’s obligations on electronic commerce and digital services“, JusTrade, März 2019.

2 Alberto José Robles, „Cuarta revolución industrial y los trabajadores“, Panel organisiert von der Escuela nacional sindical (Kolumbien), April 2018.

3 Deborah James, „Le commerce électronique au cœur des discussions de la 11e ministérielle de l’OMC“, Réseau québécois sur l’intégration continentale (RQIC), 25. November 2017.

4  Vgl. Jane Kelsey, „E-commerce: The development implications of future proofing global trade rules for GAFA“, Our World Is Not For Sale (Owinfs), 13. Dezember 2017.

5 Parminder Jeet Singh, „MC11 e-commerce battle lines drawn across three camps“, Third World Economics, Nr. 651-652, Penang, Oktober/November 2017.

6 Zitiert nach Parfait Siki, „Échanges. L’Afrique hésite sur le commerce électronique“, Afrique Expansion Magazine, Québec, 30. Januar 2018.

7 Beide Zitate vgl. Anmerkung 5.

8 „Civil Society Letter Against Digital Trade Rules in the World Trade Organization (WTO)“, Owinfs, 1. April 2019, www.ourworldisnotforsale.net.

9 Ana Swanson, „As trade talks continue, China is unlikely to yield on control of data“, The New York Times, 30. April 2019.

10 Ravi Kanth, „China to push back on e-com demands by US and allies in pluri-talks“, Suns, Nr. 8896, 29. April 2019, verfügbar auf Third World Network, www.twn.my.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Cédric Leterme ist Autor von „L’Avenir du travail vu du Sud. Critique de la ‚quatrième révolution industrielle‘ “, Paris (Syllepse) 2019.

Le Monde diplomatique vom 07.11.2019, von Cédric Leterme