08.08.2019

Es werde Nacht

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Es werde Nacht

Wider die Lichtverschmutzung

von Razmig Keucheyan

Susan Weil, Blue Configuration, 1999, Acryl und Holzkohle auf Papier, 152 x 162 cm
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Wie Nanopartikel, Giftmüll oder hormonaktive Substanzen schädigt auch künstliches Licht ab einer bestimmten Konzentration die Umwelt. Heute ist es in den Indus­trie­län­dern nachts zehnmal heller als noch vor 50 Jahren.1 Die Zugvögel ziehen zu früh in ihre Sommerquartiere oder fliegen bis zur tödlichen Erschöpfung um die Lichtglocken, die nachts über den großen Städten hängen. Ähnlich geht es vielen Insekten. Bei den Pflanzen verzögert zu starkes Kunstlicht die biochemischen Prozesse, mit denen sie sich auf den Winter vorbereiten. Und der Mensch kann nicht schlafen, weil sein Körper durch die Lichtverschmutzung zu wenig Melatonin produziert.

Zu den Folgen von Schlafmangel zählen Appetitlosigkeit, Konzentra­tions­schwäche, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Erschöpfungsdepressionen. Besonders schädlich ist das blaue Licht der Fernseh-, Computer- und Smart­phone-Bildschirme. Medizinische Studien konnten sogar eine Verbindung zwischen Lichtverschmutzung und Krebs, vor allem Brustkrebs, belegen; selbst unsere Stimmungen werden von künstlichem Licht beeinflusst.2

Und weil der Sternenhimmel kaum noch sichtbar ist, kommt noch ein kultureller Aspekt hinzu: Welcher junge Mensch heutzutage kann schon von sich behaupten, in seinem Leben schon die erhabene Unendlichkeit der Milchstraße bewundert zu ­haben?

2001 erschien in der Monatsschrift der Royal Astronomical Society in Oxford eine Studie, die das Bewusstsein für die Lichtverschmutzung entscheidend geprägt hat.3 Darin sieht man Karten von trauriger Schönheit: Über allen Kontinenten der Erde glänzt bei Nacht künstliches Licht – je höher das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf, desto heller der Lichtschein.4 Auf der Europakarte findet man keine Gegend ohne elektrische Beleuchtung mehr, während Afrika von dieser Plage weitgehend verschont bleibt und noch breite dunkle Flächen aufweist. Tschad, die Zentralafrikanische Republik und Madagaskar zählen zu den am wenigsten betroffenen Ländern.

Dagegen leuchtet Singapur, der hellste Ort der Welt, nachts so stark, dass sich das menschliche Auge gar nicht mehr auf das skotopische Sehen (Nachtsehen) umstellen kann. Wie im skandinavischen Sommer herrscht hier ewiger Tag. Unter den G20-Staaten sind Saudi-Arabien und Südkorea Spitzenreiter in Sachen Lichtverschmutzung; hier liegt der Anteil der Bevölkerung, der „extrem hellen“ Nächten ausgesetzt ist, am höchsten. Auch in den USA hat die nächtliche Beleuchtung seit 1950 extrem zugenommen. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird es auf dem gesamten Territorium der Vereinigten Staaten ab 2025 kaum noch dunkle Flecken geben.

Die Ozeane und ihre Lebewesen leiden ebenso unter der Lichtverschmutzung. Tintenfische etwa werden mit starken Lampen von Fischerbooten an die Oberfläche gelockt. Diese Fangflotten sind sogar vom Weltraum aus zu sehen, und ihre Lichtemissionen sind teilweise stärker als die der Hafenstädte, aus denen sie auslaufen.5

„83 Prozent der Weltbevölkerung und über 99 Prozent der US-Amerikaner und Europäer leben unter lichtverschmutzten Himmeln“, heißt es in der letzten Ausgabe des „Weltatlas der Lichtverschmutzung“ von 2016. „Die Milchstraße ist nur noch für ein Drittel der Menschheit sichtbar. 60 Prozent der Europäer und fast 80 Prozent der US-Amerikaner können sie nicht s­ehen.“6

Der russisch-amerikanische Science-Fiction-Autor Isaac Asimov gelangte mit seiner 1941 veröffentlichten Kurzgeschichte „Nightfall“ zu Weltruhm: Auf dem Planeten Lagash, der sich in einem Sternensystem mit sechs Sonnen befindet, herrscht ewiger Tag. Doch infolge einer ungewöhnlichen Sonnenkonstellation droht Lagash für einen halben Tag in Dunkelheit zu versinken. Die Bewohner fürchten sich so sehr davor, dass sie um jeden Preis das Licht erhalten wollen und Feuer anzünden, die am Ende alles zerstören.

Nach Asimov definiert sich der Mensch über sein Verhältnis zur Nacht, indem er lernt, die Ängste zu meistern, die ihn in der Finsternis heimsuchen. Doch wer die Nacht abschaffen will, verweigert sich diesem Reifeprozess und der Erkenntnis, dass unser Dasein auf Erden endlich ist.

Dass die Nacht in der Moderne in die Krise geriet, lag allerdings nicht nur am technischen Fortschritt. Denn dieser hat bereits viel früher eingesetzt. Die ersten Laternen im öffentlichen Raum gab es schon im 16. Jahrhundert. Ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Europas Großstädten die Öllampen nach und nach durch Gasleuchten ersetzt, Vorreiter war London – Mitte der 1820er Jahre waren die meisten britischen Städte auf Gas umgerüstet.

Für die Ausweitung der nächtlichen Beleuchtung in den folgenden Jahrzehnten gab es zwei wichtige Gründe: Der zunehmende Straßenverkehr in der Stadt, vor allem durch Omnibusse und Straßenbahnen, und die kommerzielle Nutzung durch die Kaufhäuser, die mit erleuchteten Fassaden und Schaufenstern die Kundschaft anlockten.

Noch bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts herrschte in Städten wie London und Paris ein intensiver Gasgeruch. Erst ab den 1880er Jahren verbreitete sich das elektrische Licht, dank Edisons Erfindung der Glühfadenlampe. Diese Technik hatte gegenüber der Gasbeleuchtung den Vorteil, dass das Licht viel heller und geruchsneutral war. Die Städte wuchsen und mit ihnen das Reich des künstlichen Lichts und des Nachtlebens. Um die Jahrhundertwende kam die Leuchtreklame hinzu, die nach dem Ersten Weltkrieg einen enormen Aufschwung erlebte.

Auf dem illuminierten Ausstellungsgelände der Pariser Weltausstellung im Mai 1900 erregten zwei Licht­attraktionen großes Aufsehen: René Binets Portikus, der von „Tausenden grün und blau gefärbten Glühbirnen wie von einer Schuppenhaut überzogen war“,7 und der „Elektrizitätspalast“ (Palais de l’Electricité), dessen Lichtspiel von einem zentralen Schaltpult aus, einer Vorform der Lichtorgel, gesteuert ­wurde.

Während das künstliche Licht im 19. Jahrhundert seinen Siegeszug antrat, wurde in den Künsten, vor allem in der Musik und Literatur, die Nacht zu einem zentralen Thema. Frédéric Chopin hat das romantische Nocturne (Nachtstück) zwar nicht erfunden – das war der irische Komponist John Field (1782–1837) –, aber erst mit Chopins Serie der „Nocturnes“, die zwischen 1827 und 1847 entstanden, wurde eine musikalische Form berühmt, in der sich auch Robert Schumann, Franz Liszt, Gabriel Fauré und Claude Debussy verewigten.8

Sternenparks gegen ­Leuchtreklamen

In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen markiert die Entwicklung des Automobils einen weiteren Wendepunkt. War die Straßenbeleuchtung vorher auf die Städte beschränkt, so dehnte sie sich nun auch auf ländliche Gebiete aus. Das hatte auch mit der Geschwindigkeit beim Autofahren zu tun, die mehr Aufmerksamkeit und daher auch bessere Beleuchtung erforderte.

Während des Wirtschaftsaufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden in vielen europäischen Ländern weit vom Arbeitsplatz entfernte Großsiedlungen, für die noch mehr beleuchtete Straßen und Autobahnen angelegt wurden. Heute gibt es für die Straßenbeleuchtung sogar eine EU-Norm, die DIN EN 13201, die, so kritisieren Umweltverbände wie der Naturschutzbund (Nabu), „zu einer flächendeckenden und übermäßigen Anhebung des Beleuchtungsniveaus“ führt.9

Sicherheit spielt bei der Ausbreitung des künstlichen Lichts überhaupt eine immer größere Rolle. Die gängigste These lautet, dass helle Beleuchtung vor Verbrechen schützt. Deshalb ist der Ausbau der Straßenbeleuchtung ein klassisches Wahlkampfversprechen bei Kommunalwahlen. Auch wenn keine einzige Studie diese Hypothese stützt.

Denn verschiedene Arten von Straftaten werden zu unterschiedlichen Tageszeiten begangen: In Häuser und Wohnungen wird vor allem tagsüber eingebrochen, wenn die Bewohner bei der Arbeit sind, während Geschäfte und Fabriken eher nachts gefährdet sind. Raubüberfälle werden tagsüber meist in öffentlichen Verkehrsmitteln verübt, und nachts auf Parkplätzen. Das Licht beeinflusst vielleicht das Sicherheitsempfinden der Menschen, aber die Sicherheit selbst hängt von bedeutend mehr Faktoren ab.

Ungeachtet dessen spielt das Licht bei der urbanen Sicherheitspolitik eine wichtige Rolle. So hat etwa das französische Innenministerium 2008 eine Reihe von Empfehlungen für die Beleuchtung in den Kommunen herausgegeben. „Sichtbarkeit ist ein zentrales Element der Prävention“, erklärt Éric Chalumeau, Chef der Firma Icade-Suretis, die auf das Management sogenannter unsicherer Zonen spezialisiert ist. „Gesehen werden und relativ weit sehen können, gehört zu den wichtigsten Beruhigungsfaktoren.“10

Durch neue Umweltprobleme entstehen häufig neue soziale Bewegungen mit eigenen Forderungen: Gegen die Lichtverschmutzung formierte sich in den USA schon in den 1970er Jahren auf Betreiben von Astronomen, Ornithologen und anderen Wissenschaftlerinnen, die sich mit der Beobachtung des Nachthimmels beschäftigen, das Dark Sky Movement, aus dem 1988 die International Dark-Sky Association (IDA) hervorgegangen ist. Die IDA engagiert sich für die Einrichtung von Lichtschutzgebieten – „Dark Sky Places“, in Deutschland meist als Sternenparks bezeichnet –, die oft in der freien Natur liegen, manchmal aber auch in Städten.

An diesen Orten ist Kunstlicht ab einer bestimmten Uhrzeit entweder eingeschränkt oder ganz verboten. Durch die Beschränkung der menschlichen Aktivitäten während der „Dark Time“ soll das Nachtleben der Tiere und Pflanzen geschützt werden. Aber auch der Mensch soll etwas davon haben, nämlich die Erfahrung echter Dunkelheit, um „das fast hörbare Schweigen der Nacht“ vernehmen zu können, wie es ein Aktivist formuliert.

2013 verlieh die IDA dem Pic du Midi in den Pyrenäen das Prädikat „International Dark Sky Reserve“. Der größte „International Dark Sky Park“ Europas liegt in Großbritannien. Weltweit gibt es inzwischen etwa 40 Sternenparks. Mit einer solchen Auszeichnung kann man Besucher anlocken und eine intakte Natur vermarkten, doch das ist nicht das Wesentliche. Wir lernen daraus auch, dass Dunkelheit heutzutage ein seltenes Gut darstellt und genauso kostbar ist wie saubere Luft oder Nahrung und dass Menschen kilometerweit dafür anreisen.

In Frankreich ist der Schutz der Nacht ein relativ neues Thema. Aus dem Jahr 1993 stammt die an alle Kommunen adressierte „Charta für den Erhalt der nächtlichen Umwelt“ (La Charte pour la préservation de l’environnement nocturne). Diese freiwillige Selbstverpflichtung haben aber längst noch nicht alle Bürgermeisterinnen und Bürgermeister unterzeichnet.

Die Verfasser sind zwar Hobby­astro­nomen, aber ihre Charta erhielt Unterstützung von prominenten Wissenschaftlern, wie dem Meeresforscher Jacques-­Yves Cousteau (1910–1997), dem Genetiker Albert Jacquard (1925–2013) oder dem kanadischen Atom- und Astrophysiker Hubert ­Reeves (Jahrgang 1932). Sechs Jahre später gründete sich der Verein zum Schutz des Nachthimmels (Association nationale pour la protection du ciel nocturne, ­ANPCN) und schloss sich gleich der IDA an; seit 2007 ist er auch Mitglied beim Dachverband France Nature Environnement, zu dem 3000 Umweltorganisa­tio­nen ge­hören.

Auch in anderen Ländern gibt es zahlreiche Vereine, die etwa Karten zur Lichtverschmutzung in ihrer Re­gion veröffentlichen und versuchen, Einfluss auf die Politik auszuüben. Um der Lichtverschmutzung Einhalt zu gebieten, ziehen die Betroffenen sogar vor Gericht.

2011 musste sich das Schweizer Bundesgericht, das höchste Justizorgan des Landes, mit einem Nachbarschaftsstreit befassen: Bürger des Kantons Aargau hatten gegen die nächtliche Beleuchtung einer Hausfassade in ihrem Viertel geklagt. In ihrem Urteil vom Dezember 2013 kamen die Richter zu dem Schluss, jede private oder geschäftliche Zierbeleuchtung, die nicht aus Sicherheitsgründen erforderlich sei, müsse um 22 Uhr abgeschaltet werden, weil sie Lichtemissionen produziere. Die einzige Ausnahme, die das Gericht ­zuließ, war die Weihnachtsbeleuchtung – die darf bis 1 Uhr nachts leuchten.

Indem die Bundesrichter in ihrem Urteil entschieden, dass „die Eigentumsgarantie und allfällige andere Grundrechte der Beschwerdeführer nur geringfügig eingeschränkt“ würden, trennten sie klar zwischen dem Recht auf Eigentum und dem Recht, es zu beleuchten. Da künstliche Beleuchtung eine potenzielle Belästigung anderer darstellt, reicht das Eigentum an einer Immobilie nicht als Begründung für ihre Beleuchtung aus.

In einem anderen Fall kam das Schweizer Bundesgericht zu dem Schluss, dass „das Naturschauspiel der Dämmerung, insbesondere der farblichen Veränderungen der Berggipfel“, nicht beeinträchtigt werden darf. Dabei ging es um den Pilatusberg in der Nähe von Luzern, dessen Gipfel seit 1997 zu touristischen Zwecken nachts teilweise beleuchtet werden darf. Der Verein Dark-Sky Switzerland, die Schweizer Sektion der IDA, stellte fest, dass die Lichtemissionen in den Alpen in jüngster Zeit besorgniserregend zunähmen.11 Es komme immer häufiger vor, dass Skipisten bis tief in die Nacht beleuchtet werden. Doch nun hat das Bundesgericht die Gipfelbeleuchtung des Pilatus eingeschränkt und damit anerkannt, dass „die natürliche ­Dämmerung“ ein schützenswertes Gut ist.

Auch internationale Gerichte haben den Nachthimmel als schützenswertes Gut eingestuft. Die UNO debattiert derzeit, ob der Sternenhimmel als „Gemeinsames Erbe der Menschheit“ definiert werden kann. Bereits bei den Vorbereitungen zur 1997 von der Unesco verabschiedeten „Erklärung über die Verantwortung der heutigen Generation gegenüber den künftigen Generationen“ trafen sich 1994 in La Laguna zahlreiche Experten der Unesco-Cous­teau-Society, die in ihrer abschließenden Erklärung das Recht auf einen „sauberen Himmel“ forderten.12

In Frankreich wurde die im August 2009 erlassene Verordnung gegen Lichtverschmutzung zu einem wichtigen Instrument des Umweltverbands France Nature Environnement. In Artikel 41 heißt es dort: „Die Emissionen künstlichen Lichts stellen eine Gefahr und eine übermäßige Belastung für Menschen, Fauna, Flora und die Ökosysteme dar.“ Zudem seien sie Ursache von Energieverschwendung und verhinderten die Betrachtung des Nachthimmels.

Die erste Verordnung zu „Lichtbelästigung“ folgte im Juli 2011. Und nach einer weiteren Verordnung vom Januar 2012 müssen beleuchtete Schilder oder Werbung zwischen 1 und 6 Uhr morgens ausgeschaltet werden – davon ausgenommen sind allerdings Städte mit mehr als 800 000 Einwohnern. Hier dürfen die Rathäuser entscheiden, ­welche Regeln zur Anwendung kommen.

Das französische Umweltministerium prognostizierte für 2012 Energieeinsparungen von 800 Gigawattstunden (Gwh) bei Schildern und 200 GWh bei Werbung, was dem jährlichen Stromverbrauch (ohne Heizung und Warmwasser) von über 370 000 Haushalten entspricht.13 Tatsächlich verschlingt die Außenbeleuchtung fast 50 Prozent des Energieverbrauchs der Gebietskörperschaften und ist für fast 40 Prozent der Stromrechnung der Kommunen verantwortlich.

Charta für die nächtliche Umwelt

Vor noch gar nicht so langer Zeit war Dunkelheit eine schlichte Tatsache und früheren Generationen wäre es sicher merkwürdig vorgekommen, für deren Schutz eine Bewegung ins Leben zu rufen. Doch mit der Kolonisierung durch das Kunstlicht hat sich das Selbstverständliche in ein knappes Gut verwandelt, das wiedergewonnen werden muss.

Die Dunkelheit ist so zum Gegenstand der Politik geworden. Ob sie weiterhin existieren wird, hängt von den Maßnahmen – oder der Untätigkeit – des Staates, von wirtschaftlichen Erwägungen, technischen Möglichkeiten und vom Ausgang der Konflikte ab, in denen sich verschiedene Interessen und unterschiedliche Vorstellungen gegenüberstehen.

Wie Jacques Rancière in „Die Nacht der Proletarier“ gezeigt hat, war die Nacht auch für die frühe Arbeiterbewegung der 1830er Jahre ein politisches Thema.14 Nachts konnten sie endlich dem von oben diktierten, höllischen Arbeitstakt entkommen und zu „denkenden Wesen“ werden. Die Nacht diente nicht mehr dem Schlaf, sondern der Emanzipation und Selbstermächtigung, um Dinge zu tun, die tagsüber nicht möglich waren, wie zum Beispiel Aufrufe und Artikel für sozialistische Zeitschriften zu verfassen.

Die künstliche Beleuchtung im Innen- oder Außenraum ist unbestritten ein Fortschritt. Das Nachtleben ist ein wesentlicher Bestandteil unseres modernen Lebens. Mit Freunden essen gehen oder nachts durch eine Stadt zu schlendern – all das wäre ohne künstliches Licht gar nicht möglich. Auch wenn die Beleuchtung inzwischen als Belästigung empfunden werden kann, liegen ihre Vorteile auf der Hand.

Mit Ausnahme von einigen Überlebenskünstlern fordern die Verteidiger des „Rechts auf Dunkelheit“ auch gar nicht, dass Kunstlicht generell abgeschafft werden und die Menschheit in vorindustrielle Zeiten zurückkehren soll. Was sie fordern, ist eine Einschränkung der Beleuchtung, wo immer das möglich ist.

Diese Problematik führt direkt zu einer Grundsatzfrage unseres Jahrhunderts: Was brauchen wir wirklich? Ist künstliche Beleuchtung ein legitimes Bedürfnis? Ist dieses Bedürfnis mit dem Schutz der Umwelt und der körperlichen und seelischen Gesundheit nachhaltig vereinbar? Zweifellos stellt Kunstlicht kein natürliches Bedürfnis wie Nahrung oder Schutz vor Kälte dar. Unsere Vorfahren haben jahrtausendelang ohne Straßenlaternen gelebt. Doch auch wenn Beleuchtung nicht lebensnotwendig ist, hängen unsere Lebensart und zahlreiche Aktivitäten, die wir nicht aufgeben wollen, davon ab.

Die Herausforderung liegt also darin, dass elektrische Beleuchtung zugleich ein legitimes Bedürfnis und eine Form der Umweltverschmutzung darstellt. Man muss eine Schwelle definieren, ab der die legitime Beleuchtung in Lichtverschmutzung umschlägt.

Das betrifft nicht allein das elek­trische Licht. Der kommende ökologische Wandel wird uns drastische Einschnitte bei Produktion und Konsum abverlangen, um Rohstoff- und Energieverbrauch zu reduzieren. Doch auf welcher Grundlage treffen wir solche Entscheidungen? Wie kann man legitime Bedürfnisse, die auch in einer künftigen, umweltgerechten Demokratie befriedigt werden müssen, von egois­tischen Interessen unterscheiden, auf deren Befriedigung man besser verzichten sollte?

1 Siehe Robert Dick, „Guidelines for Outdoor Lighting in Dark-Sky Preserves“, Toronto (Royal Astronomical Society of Canada, Toronto) 2013.

2 Siehe Samuel Challéat, „La pollution lumineuse: passer de la définition d’un problème à sa prise en ­compte technique“, in: Jean-Michel Deleuil (Hg.), „Éclairer la ville autrement. Innovations et expérimentations en éclairage public“, Lausanne (Presses polytechniques universitaires romandes) 2009.

3 Pierantonio Cinzano und andere, „The first World Atlas of the artificial night sky brightness“, in: The Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, Bd. 328, Nr. 3, 11. December 2001: academic.oup.com/mnras/article/328/3/689/1240556.

4 Terrel Gallaway et al., „The economics of global light pollution“, in: Ecological Economics, Bd. 69, Nr. 3, New York, Januar 2010.

5 Verlyn Klinkenborg, „Our vanishing night“, in: Na­tio­nal Geographic, Washington, D. C., November 2008.

6 Fabio Falchi u. a., „The new world atlas of artificial night sky brightness“, in: Science Advances, Washington, D. C., Juni 2016: advances.sciencemag.org/content/2/6/e1600377.

7 Siehe Wolfgang Schivelbusch, „Licht, Schein und Wahn. Auftritte der elektrischen Beleuchtung im 20. Jahrhundert“, Berlin (Ernst & Sohn) 1992, S. 14.

8 Vladimir Jankélévitch, „Le Nocturne. Fauré, Chopin et la nuit, Satie et le matin“, Paris (Albin Michel) 1957.

9 Siehe „Wie hell muss die Nacht sein?“, Nabu Info 2010, Berlin.

10 Luc Bronner, „Violences urbaines: la police s’empare de la renovation des quartiers, Le Monde, 26. Januar 2008.

11 „Besorgniserregende Zunahme von Licht in den Alpen“, Medienmitteilung von Dark-Sky Switzerland, 6. April 2013.

12 Siehe Cipriano Marín und Francisco Sánchez, „Starlight Reserves and World Heritage: Scientific, cultural and environmental values“, in: World Heritage, Nr. 54, 2009.

13 „Nuisances lumineuses“, französisches Umweltministerium, 15. Februar 2012, www.ecologique-solidaire.gouv.fr.

14 Jacques Rancière, „Die Nacht der Proletarier. Archive des Arbeitertraums“, Wien (Turia + Kant) 2013.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Razmig Keucheyan ist Soziologe und Autor von „Les besoins artificiels. Comment sortir du consumérisme“, Paris (La Découverte), das am 19. September 2019 erscheint. Der vorliegende Text basiert auf einer überarbeiteten Fassung der Einleitung, französische Lek­türe­hin­weise wurden teilweise durch deutsche ersetzt.

Le Monde diplomatique vom 08.08.2019, von Razmig Keucheyan