11.07.2019

Keynes in Versailles

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Keynes in Versailles

von Alain Garrigou und Jean-Paul Guichard

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Am 28. Juni 1919 wurde der Versailler Vertrag unterzeichnet, der das Ende des Ersten Weltkriegs markierte. Dass dieser Tag ein Jahrhundert später nicht groß gefeiert wird, ist kaum verwunderlich, denn aus heutiger Sicht erinnert man sich hauptsächlich an die „Fehler“ von Versailles.

Das Diktum vom „verpassten Frieden“ wurde unter anderem von John Maynard Keynes geprägt, der bereits 1919 sein Buch „Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles“1 veröffentlichte.

An den Verhandlungen hatte der renommierte Wirtschaftswissenschaftler an der Seite von Premierminister David Lloyd George teilgenommen, der wie Keynes der Liberalen Partei angehörte. Als Repräsentant des Finanzministeriums vertrat er entschieden die Meinung, dass die harten Bedingungen, die der Weimarer Republik auferlegt werden sollten, überzogen und friedensgefährdend seien. Deshalb hat er am 19. Juni, kurz vor Abschluss der Verhandlungen, aus Protest die britische Delegation verlassen.

Auf französischer Seite war vor allem die Position anstößig, die Keynes zur Rückgabe des Elsass an Frankreich bezog. Ein Berater von Ministerpräsident Georges Clemenceau behauptete später, Keynes habe damals „Wort für Wort“2 die deutschen Argumente wiederholt.

Keynes hatte den Krieg nie befürwortet. Wie sein Freund Norman Angell, der 1910 den vielbeachteten Essay „The Great Illusion“3 veröffentlicht hatte, glaubte er, der Frieden würde dank der wechselseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeiten bewahrt bleiben. Nach 1914 befand sich Keynes als deutschfreundlicher und pazifistischer Beamter im Dienst einer Regierung, die gegen Deutschland Krieg führte, in einer einzigartigen Situation. Er veröffentlichte Artikel, in denen er sich für eine britische Neutralität und einen Kompromissfrieden aussprach. 1916 wandte er sich gegen die Wehrpflicht mit dem Argument, sie schwäche die britische Produktion. Er selbst wurde „aus nationalem Interesse“ vom Militärdienst freigestellt.

In seinem Versailles-Buch geht Keynes besonders mit den Repräsentanten der Siegermächte hart ins Gericht, also mit US-Präsident Woodrow Wilson, Clemenceau und Lloyd ­George. Keynes wundert sich zum Beispiel über das bescheidene Format Wilsons: „Beim ersten Anblick des Präsidenten dachte man: Dieser Mann ... besitzt nicht einmal in besonderem Maße jene weltmännische Kultur, die aus Monsieur Clemenceau oder Mr. Balfour kultivierte Gentlemen ihrer Klasse und Generation macht.“4 Der Erfolg des Buches rührte sicher auch von solchen spitzen Bemerkungen, die herrschende Vorurteile bedienten. Aber ebenso sehr verdankte er sich der ökonomistisch geprägten Anklage gegen den Versailler Vertrag. Nach dem damals herrschenden Geschichtsverständnis war die Annahme, dass der Frieden zuallererst eine wirtschaftliche Angelegenheit ist, ziemlich ausgefallen. Und noch ausgefallener war die These, das allgemeine Interesse an wirtschaftlichem Wohlergehen gebiete es, mit dem Besiegten gnädig umzugehen.

In seinem Buch baute Keynes seine Argumentation aus, die er in den Verhandlungen vorgebracht hatte, als er eine pauschale Reparationssumme vorschlug, die mit den Deutschen auszuhandeln sei. Obwohl die Höhe der Reparationen damals noch nicht feststand, behauptete Keynes, dass Deutschland außerstande sei, diese zu bezahlen. Mit Verweis auf den Frieden von 1871, der Frankreich hohe Kriegsentschädigungen auferlegt hatte, machte Keynes geltend, Reparationen seien auch für die Empfängerländer ein schlechtes Geschäft. Denn die von Paris gezahlten fünf Milliarden Franc hätten in Deutschland eine konjunkturelle Überhitzung ausgelöst, die mit dem sogenannten Gründerkrach endete.

Bei dieser Krisenanalyse brachte Keynes allerdings einiges durcheinander. Die von Frankreich unter dem Druck der deutschen Besatzung vorzeitig gezahlten Reparationen führten zwar zu einer Geldschwemme und die war einer der Gründe für die Krise von 1873, aber mitnichten ihre strukturelle Ursache. Der entscheidende Faktor war vielmehr die wachsende Verschuldung der Großgrundbesitzer, die unter der Konkurrenz der überseeischen Weizenimporte durch Großbritannien litten. Was die Kriegsschäden auf französischem Boden betrifft, so wurden sie von Keynes heruntergerechnet, indem er nur von der quantitativen Fläche ausging, ohne die Qualität des besetzten und verheerten Territoriums zu berücksichtigen.

Selbst nach der Unterzeichnung des Vertrags versuchte Keynes die Umsetzung der von ihm kritisierten Klauseln zu verhindern. Während der Konferenz von Genua im April 1922 nahm er über Carl Melchior, einen der deutschen Unterhändler von Versailles, mit dem er sich angefreundet hatte, Kontakt zum späteren deutschen Reichskanzler Wilhelm Cuno und zum späteren Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht auf (der 1934 von Hitler zum Wirtschaftsminister berufen wurde).

Mildernde Umstände für den deutschen Revanchismus

In Genua traf sich Keynes auch mit dem sowjetischen Außenminister Georgi Tschitscherin, der, wie Melchior, die Kriegsverantwortung dem zaristischen Russland zuschob. Aus den deutsch-sow­jetischen Kontakten entwickelte sich die seltsame Allianz zwischen der Weimarer Republik und dem bolschewistischen Russland, die Keynes noch 1919 als unmöglich, da widernatürlich ausgeschlossen hatte.

Keynes Buch sorgte insbesondere in Frankreich für Aufregung, obwohl seine Kritik an der französischen Politik in der französischen Ausgabe seines Buches abgeschwächt war. Auf diese reagierte als Erster der monarchistische Historiker Jacques Bainville. Sein Buch mit dem Titel „Die politischen Folgen des Krieges“ (eine direkte Anspielung auf die Keynes-Schrift) setzte der ökonomistischen Analyse des Engländers eine geopolitische Lesart entgegen: „Keynes’ geräuschvolle Publikation ist ein Pamphlet im wissenschaftlichen Gewand. Es wurde zum Handbuch für alle jene, die nicht wollen, dass Deutschland den Preis für seine missratene Unternehmung bezahlt.“5

Den Vertrag von Versailles verteidigte auch André Tardieu, einer der wichtigsten französischen Unterhändler. Er wies den Vorwurf eines verpfuschten Friedens zurück und bemühte sich zu zeigen, dass die Franzosen nicht als Einzige einen Ausgleich blockiert, sondern dass auch andere Alliierte zu dem Verhandlungschaos beigetragen hatten. Ansonsten hegte auch Tardieu – wie Clemenceau – einen ausgeprägten Argwohn gegen Deutschland.

Mitten im Zweiten Weltkrieg nahm der junge französische Ökonom Étienne Mantoux die Kritik Tardieus wieder auf. In seinem Buch „Der verleumdete Frieden“6 schrieb er, die Brutalität der Nazis habe Keynes’ Argumentation lächerlich gemacht. Mantouxs Vater Paul war bei den Versailler Verhandlungen 1919 als Übersetzer dabei gewesen und hatte seinem Sohn gleichsam die Mission vermacht, eine ökonomische Replik auf Keynes zu verfassen, der inzwischen dank seines Hauptwerks „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ (1936) zu einem international anerkannten Ökonomen aufgestiegen war. Mantoux hatte sein Buch 1941/42 in Princeton auf Englisch verfasst, die französische Ausgabe erschien postum, nachdem der junge Autor 1945 in den letzten Tagen des Krieges gefallen war.

An den ökonomischen Argumenten von Keynes übte Mantoux in mehrfacher Hinsicht Kritik: an Zahlen und Daten, an einer einseitigen Sichtweise (die er für böswillig hielt) und an geopolitischen Fehleinschätzungen. Dass Keynes zum deutschen Revanchismus beigetragen hat, verurteilte er ebenso wie seinen zu schwachen Widerstand gegen die Nazis. Damit rechnete er ihn zu den „Mea-Culpisten“, die vor der Machtübernahme Hitlers „eine Kampagne zur Revision des Vertrags führten“. Und die nach der Machtergreifung der Nazis – trotz Konzessionen der Alliierten – beharrlich behaupteten, „Hitler sei ein Produkt des Versailler Vertrags und der schändlichen Behandlung, die man den Deutschen zugefügt habe“.

Vierzig Jahre später behauptete der Keynes-Biograf Robert Skidelsky immer noch: „Wäre Keynes’ Programm von 1919 umgesetzt worden, wäre Hitler wahrscheinlich nicht deutscher Kanzler geworden.“7 Das ist eine unüberprüfbare Hypothese, der man die Frage entgegensetzen kann, ob nicht eine strikte Umsetzung des Versailler Vertrags den Aufstieg der Nationalsozialisten hätte verhindern können. Denn am Ende hat Deutschland keinerlei Reparationen bezahlt und eine wirtschaftliche Erholung erlebt – bis die Krise von 1929 einsetzte. Und für die kann man wahrlich nicht die Reparationen verantwortlich machen.

Dass Keynes’ Buch auch heute noch so beliebt ist, liegt jedenfalls eher am aktuellen Kontext als an seiner argumentativen Qualität. Der renommierte Autor der „Allgemeinen Theorie“ dient bis heute als Kronzeuge für die Kritiker eines „harten Friedens“, die damit die Exponenten der Appeasement-Politik der 1930er Jahre entlasten und dem Naziregime mildernde Umstände bescheinigen.

1 John Maynard Keynes, „Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles“, Aus dem Englischen von Joachim Kalka, Berlin (Berenberg Verlag), 2. Auflage 2018.

2 Siehe André Tardieu, „La Paix“, Paris (Payot) 1921.

3 Norman Angell, „Die falsche Rechnung. Was bringt der Krieg ein?“, Berlin (Vita Deutsches Verlagshaus) 1920.

4 Siehe Keynes (Anmerkung 1), Seite 67.

5 Jacques Bainville, „Les Conséquences politiques de la paix“, Paris (Fayard) 1920.

6 Étienne Mantoux, „La Paix calomniée ou les Consequences économiques de M. Keynes“, Paris (Gallimard) 1946.

7 Siehe Robert Skidelsky, „John Maynard Keynes. ­Hopes Betrayed (1883–1920), London (Mac Millan) 1983.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Alain Garrigou ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Universität Paris-Nanterre; Jean-Paul Guichard ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Universität Sophia-Antipolis in Nizza.

Le Monde diplomatique vom 11.07.2019, von Alain Garrigou und Jean-Paul Guichard