13.06.2019

Uniform und teuer

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Uniform und teuer

Wie in Frankreich Staat und Kommunen die Stadtplanung privaten Investoren überlassen

von Pierre Pastoral

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Frankreich ist schon immer für seine strenge Regulierung von Bauprojekten und Städteplanung bekannt. Der Zentralstaat und die Gebietskörperschaften haben als Gesetzgeber, Bauherren, Träger und Verwalter immer eine zentrale Rolle gespielt. Seit einigen Jahren wird dieses System allerdings klammheimlich durch verschiedene Maßnahmen ausgehöhlt, die oft unter dem Vorwand außerordentlicher Umstände getestet und dann allmählich zur Gewohnheit werden. Der Privatsektor gewinnt auf diese Weise zunehmend an Einfluss und Bedeutung.

Ein Beispiel ist der sogenannte ­vente en l’état du futur achèvement (Vefa), der Verkauf eines Objekts unter dem Vorbehalt seiner Fertigstellung. Dieses Modell – früher als „Verkauf nach Plan“ bekannt – spielte im sozialen Wohnungsbau eine untergeordnete Rolle und gewann erst nach 2008 im Gefolge der Finanzmarktkrise an Bedeutung.

Als Reaktion auf die Immobilienblase verlangte Präsident Sarkozy von den sozialen Wohnungsbaugesellschaften, rund 30 000 fertige Wohnungen zu kaufen, die in ihrem Auftrag von Baufirmen errichtet worden waren. Zehn Jahre später ist dieses Modell schlüsselfertiger Projekte im sozialen Wohnungsbau zur gängigen Praxis geworden, die jedes Jahr bei über der Hälfte der im Département Île-de-France gebauten Sozialwohnungen zur Anwendung kommt.

Kurzfristig lässt sich mit diesem Modell die Zahl verfügbarer Wohnungen in Rekordzeit steigern, langfristig ergeben sich dagegen ernsthafte Probleme. Mit dem Vefa-System sind die öffentlichen Träger des sozialen Wohnungsbaus ihre Rolle als Bauherren teilweise los. Damit verlieren sie ­ihren Einfluss auf die Baukultur und werden womöglich auf die Rolle des bloßen Liegenschaftsverwalters reduziert.

Zudem leidet das System unter einem grundsätzlichen Widerspruch: Die Träger von Sozialwohnungen müssen ihre Gebäude instand halten und haben daher ein starkes Interesse daran, nur solide und qualitativ gute Materialien zu verwenden. Die privaten Bauträger dagegen bauen und verkaufen Wohnungen, für die sie anschließend keinerlei Verantwortung mehr tragen. Die anfängliche Zeit- und Kostenersparnis könnte sich daher im Lauf der Zeit zu einem zusätzlichen Kostenfaktor entwickeln.

Eine weitere Neuerung, die vom Bausektor sehr geschätzt wird, entstand Anfang des Jahrtausends in Boulogne-Billancourt mit dem sogenannten „Macro-Lot“ (Großbaugrundstück). Nachdem Renault in dem Pariser Vorort seit 1934 produziert hatte, wurden die Fabrikhallen 2000 abgerissen und das rund 70 Hektar große Grundstück an private Investoren und Bauträger verkauft. Die Kommune konnte zwar nicht über das Bauland verfügen, aber sie wollte die Flächennutzung regulieren. Deshalb teilte sie die Fläche in Lose auf, für die sie Architekturwettbewerbe ausschrieb.

Um die Anforderungen der Gemeinde möglichst rasch erfüllen zu können, ersann die Baubranche ein speziell auf dieses Szenario zugeschnittenes Produkt: das „Macro-Lot“. Unter Federführung eines Koordinators – in der Regel der größte beteiligte private Bauträger – bewarben sich mehrere Bauherren um ein Megaprojekt mit Parkplätzen, Freiflächen, Geschäften, Büros, öffentlichen Einrichtungen, Privat- und Sozialwohnungen.

Nach dem Macro-Lot-Prinzip wurden seitdem in vielen französischen Großstädten ganze Stadtteile hochgezogen: zum Beispiel das Tripode-Viertel in Nantes, Lyon-Confluence, Clichy-Batignolles in Paris und La Mantilla in Montpellier. Ein großes Problem ist dabei, abgesehen von der zumeist sterilen Uniformität, die Sanierung der Megabauwerke. Da es bei einem Makroprojekt keine Parzellen mehr gibt, stellt sich die Frage, wie man alternde Bausubstanz instand halten kann. Zumal wenn mehrere Bauherren und Eigentümergemeinschaften beteiligt sind, die über ganz unterschiedlich Finanzreserven verfügen.

Eine dritte Methode für die Privatisierung des öffentlichen Raums sind die PPPs, also Public-private-Partnership-Verträge. Diese in den 1990er Jahren in Großbritannien entstandene Form der öffentlich-privaten Zusammenarbeit wurde mittels einer Verordnung vom 17. Juni 2004 auch nach Frankreich transplantiert.

Bei jedem PPP-Vertrag sitzen die Privaten am längeren Hebel

Das Prinzip der PPPs à la française ist einfach: Da die öffentliche Hand nicht genügend Geld hat, lädt sie private Geldgeber ein, kommunale Einrichtungen zu finanzieren und zu unterhalten. Dafür erhalten die privaten Investoren die Mieteinnahmen oder eine andere Vergütung.

Ursprünglich war dieses Finanzierungsmodell nur für spezielle Fälle gedacht; zum Beispiel, wenn dringend ein Krankenhaus gebaut werden musste oder wenn das Projekt sehr komplex war. Nach der Finanzkrise von 2008 kam es jedoch immer öfter zum Zuge, um den Rückzug der öffentlichen Hand zu kompensieren. Als Frankreich die Fußball-EM 2016 ausrichtete, setzten einige Städte auf eine PPP, um ein Stadion zu renovieren oder ein neues zu bauen. Bis August 2018 hatte der Zentralstaat bereits 63 Partnerschaftsverträge unterzeichnet, bei den Kommunen waren es 171.

Eine PPP ermöglicht kurzfristige Einsparungen, aber die öffentliche Hand geht mit diesem Finanzierungsmodell sehr langfristige Verpflichtungen ein. Bei der Abfassung eines PPP-Vertrags sitzt auf der einen Seite der Staat oder eine Gebietskörperschaft, deren Raum- und Städteplanungsabteilungen mit immer weniger Geldern und Kompetenzen ausgestattet sind. Ihr Gegenüber aber sind Großkonzerne wie Bouygues, Eiffage oder Vinci, die in den letzten 15 Jahren schon Dutzende PPPs unterzeichnet haben. Denen wird es dank ihrer Erfahrung und ihren Finanzmittel stets gelingen, Verträge zu ihren Gunsten auszuhandeln.

PPPs gibt es im Grunde seit der römischen Antike. Schon damals wurde privates Kapital in den Aufbau der Infrastruktur (Aquädukte, Fernstraßen, Poststationen) gesteckt. Im 19. Jahrhundert ersann der Pariser Präfekt Baron Georges Eugène Haussmann ein Verfahren, das der PPP sehr ähnlich ist: Als Gegenleistung für die Baufinanzierung von Straßen und Plätzen wurde das Baurecht entlang dieser neuen Straßenzüge gewährt.

Allerdings hat der damalige Staat, auch wenn er private Investitionen benötigte, die Bauvorhaben selbst geplant und für die Durchführung strenge Vorgaben gemacht. Davon zeugen in Paris die homogenen Häuserfassaden entlang der Haussmann’schen Boulevards und die gesamte städtische Raumplanung, von den kleinen Plätzen bis hin zu den großen Parks.

Diese drei Beispiele belegen, wie die öffentliche Hand immer mehr ihrer Vorrechte an den Privatsektor überträgt, der inzwischen zum wichtigsten Akteur im Städtebau geworden ist. Dabei beschränkt sich diese Deregulierung nicht nur auf die konkreten Baumaßnahmen, sondern umfasst auch die Studien im Vorfeld der Projekte.

Eingeleitet wurde diese Entwicklung von der Stadt Paris. Als das Bürgermeisteramt 2014 die Veräußerung von Bauland beabsichtigte, schrieb es den Wettbewerb „Réinventer Paris“ („Paris neu erfinden“) aus. Federführend war der Vizebürgermeister für Stadtplanung, Jean-Louis Missika. Der war unter Bürgermeister Bertrand Delanoë (2001–2014) mit dem Fachbereich Innovation betraut und kannte sich deshalb in der Welt der Start-ups sehr gut aus. Also betrieb Missika die Verhandlungen über das Immobilienprojekt, als handle es sich um eine Ausschreibung im Bereich Forschung und industrielle Entwicklung.

Die Stadt bot potenziellen Käufern von Bauland insgesamt 22 Standorte an, für die diese „Kandidaten“ innovative Entwürfe einreichen sollten. Etliche Planungs- und Designteams aus Architekten, Landschaftsgärtnern und anderen Fachleuten machten sich an Projekte, die im Fall eines Zuschlags von privaten Bauherren oder großen Hoch- und Tiefbaukonzernen finanziert und errichtet werden sollten.

Dieses Verfahren löste erhebliches Unwohlsein bei den Bau- und Raumplanern aus, die entsprechend ihrer konservativen Grundhaltung auf die Einhaltung der gültigen Normen und strengen Standards Wert legen.

Es gewinnt nicht der Beste, sondern der Meistbietende

Obwohl Jean-Louis Missika das „Réinventer Paris“-Projekt wie eine öffentliche Ausschreibung präsentierte, wurde dabei das Gesetz von 1985 über die Vergabe öffentlicher Bauaufträge missachtet. Dieses Gesetz legt die Konditionen für öffentliche Projekte fest, ohne allerdings Genaueres über die Vergütung der Planungsteams zu bestimmen. Bei dieser Ausschreibung wurden 650 Dossiers eingereicht und 75 Finalisten ausgewählt. In einem regulären Architektenwettbewerb hätten die Finalisten eine Entschädigung erhalten, die einen Großteil ihrer Kosten abgedeckt hätte.

Bei dem von Missika imaginierten „Ausschreibungswettbewerb“ mussten die meisten Planungsteams kostenlos arbeiten. Darüber hinaus war in den Regeln für die Ausschreibung weder eine Methode zur Bewertung der Angebote festgelegt, noch bestand die Verpflichtung, die Gutachten über die Vorschläge und die Höhe der finanziellen Gebote zu veröffentlichen.

Unter solchen Bedingungen lässt sich unmöglich feststellen, ob die Stadt die Preisträger wegen ihrer „innovativen“ Qualitäten ausgewählt oder aber den Auftrag schlicht an den Meistbietenden vergeben hat, wie es bei der Veräußerung von Vermögenswerten üblich ist.

Ein Architektenkollektiv hat sich über Missikas Plan mit dem Wettbewerb „Réinventer Pourris“ („Verdorbene Neuerfindung“) wie folgt mokiert: „Ein geniales System zur Umgehung des Gesetzes über die Regelung der öffentlichen Auftragsvergabe, das der Stadt Paris einen beispiellosen PR-Coup ermöglicht, ohne dass es sie auch nur einen Cent kostet – darauf muss man erst mal kommen!“1

Der Verkauf der 22 Grundstücke dürfte mehr als 500 Millionen Euro in die städtische Kasse gespült haben. Hätte sich die Stadt deshalb bei der ­Bezah­lung der Gestalter nicht spendabler zeigen können? Auf diese Frage kam aus dem Rathaus lediglich die Antwort, schließlich hätten die Teilnehmer die Regeln von „Réinventer Paris“ von Anfang an gekannt: „Die Teams wussten, welche Vor- und Nachteile damit verbunden waren.“2 Außerdem habe es endlich, begeisterte sich der Bürgermeister, einen öffentlicher Auftrag ohne die üblichen langwierigen Verfahren und den ganzen Papierkram gegeben!

Das mag stimmen – aber auch ohne all die Regeln, die üblicherweise garantieren, dass die Entscheidungen transparent erfolgen, dass alle Kandidaten gleich behandelt werden und dass sie, wenn sie in die Endauswahl kommen, für ihre Arbeit auch bezahlt werden.

Auf das Projekt „Réinventer Paris“ folgte „Réinventer Paris 2“, „Inventons la Métropole du Grand Paris“ (1 und 2) und „Réinventer la Seine“. In anderen Städten heißen die Projekte „Imagine Angers“ oder „Dessine-moi Toulouse“. Aber die Verfahren laufen immer gleich ab: Eine Kommune verkauft Grundstücke für Projekte, die von privaten Teams entwickelt und von Banken, Versicherungsgesellschaften oder Bauträgern gesteuert werden. Für die sind Risiken und Kosten, ganz wie bei anderen PPPs, scheinbar gering.

Die Kommunalpolitiker wiederum sind ganz hingerissen von all diesen schönen neuen Projekten, die ihnen die Planer präsentieren und die lauter Versprechen zu enthalten scheinen: Wikibuilding! Co-Living! Co-Working! Crowd-Funding! Fablab! Früher haben die Städte und Gemeinden ihre stadtplanerischen Ziele noch selbst formuliert, haben vor öffentlichen Ausschreibungen ihre eigene Studien angefertigt oder in Auftrag gegeben.

Und noch etwas ist festzuhalten: Diese neue Art der Auftragsvergabe bringt auch eine spezifische neue Architektur hervor. Auf den ersten Blick scheinen die eingereichten Entwürfe einzigartig zu sein und sich an Kreativität zu überbieten. Tatsächlich sind sie einander sehr ähnlich. Weil die erste Wettbewerbsphase sehr kurz ist und trotz des erforderlichen Kostenaufwands gar nicht oder nur schlecht vergütet wird, können die beteiligten Architekten keine soliden Arbeiten abliefern. Ihre Entwürfe sollen vor allem neugierig machen, deshalb sind die meisten eher oberflächlich.

Und fast alle zeigen eine auffällige Obsession für Begrünung. Sieht man sich die Entwürfe zu „Réinventer Paris“ an, fühlt man sich wie in einen Obst- und Gemüsegroßmarkt versetzt. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo mag sich darüber freuen, dass Urban Gardening endlich ernst genommen wird und nicht mehr „nur ein Gadget“ ist. Und das ist ja auch schön.

Aber ist das auch das größte Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger einer Stadt, in der die Immobilienpreise explodieren, die öffentlichen Verkehrsmittel chronisch überlastet sind und die kleinen Läden mehr und mehr von großen Ketten verdrängt werden?

Allmählich jedoch formiert sich der Widerstand gegen diesen Trend zur Deregulierung, und die Stimmen für eine Rückkehr zu mehr staatlicher Einflussnahme werden lauter. Die Träger von Sozialwohnungen kritisieren inzwischen, auch wenn sie noch nicht sehr geschlossen agieren, ganz offen den Sparkurs, den ihnen die Regierung von Édouard Philippe verordnet hat. Außerdem wächst das Bewusstsein in den Gemeinden und bei den Stadtplanern, dass die privaten Partner bei der langfristigen Verwaltung der Gebäude nicht besonders gut sind.

Wenn die privaten Träger einmal unvermeidlicherweise in die juristische, finanzielle und technische Bredouille kommen, dürften einige von ihnen das Handtuch werfen. So wie im Fall des Krankenhauses von Corbeil-Essonnes. Hier wurde 2014 nur drei Jahre nach der Fertigstellung durch Eiffage der PPP-Vertrag gekündigt. In Großbritannien, das bei Privatisierungen und PPPs immer eine Vorreiterrolle gespielt hat, übernahm der Staat 2018 wieder die Kontrolle über ein Gefängnis und eine Eisenbahnlinie, die zuvor privatisiert worden waren.

Auch wenn der Staat und die Gebietskörperschaften heute in keiner komfortablen Lage sind, könnten sie eines Tages wieder selbst das Ruder übernehmen. Und zwar im Sinne der Gesellschaft, die sie als Regulativ und vor allem auch als Investoren braucht.

1 Siehe „Ré-inventer Pourris“, Le Courrier de l’architecte, 18. Juni 2017, www.lecourrierdelarchitecte.com.

2 Zitiert in Sébastien Chabas, „L’appel à projet, un format de concours qui dérange“, BatiActu, 8. Februar 2016, www.batiactu.com.

Aus dem Französischen von Birgit Bayerlein

Pierre Pastoral ist Architekt und Stadtplaner.

Le Monde diplomatique vom 13.06.2019, von Pierre Pastoral