11.04.2019

Ihr Tod ist Gold wert

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Ihr Tod ist Gold wert

In den USA kaufen Finanzunternehmen Schwerkranken ihre Lebensversicherung ab

von Sylvain Leder

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Umgeben von jungen Männern in knappen goldfarbenen Shorts wiegt sich die weißhaarige Lady in den Hüften. Die Backgroundmusik passt eher zu einem Nachtklub als zu einem Altersheim. Betty White, Jahrgang 1922, in den USA als First Lady of Tele­vision bekannt, in Deutschland vor allem aus der Sitcom „Golden Girls“, wendet sich an die Zuschauer: „Ich habe mir gesagt: ‚Lifeline, das ist was für mich!‘ – Im Handumdrehen hatte ich meine Unterlagen beisammen.“ Und dann der Refrain: „Weißt du, wer noch sexy ist? – Ja, ich!“

Der 2011 produzierte Clip wirbt für das Unter­nehmen Lifeline, was sowohl Rettungsseil als auch Lebenslinie bedeuten kann. Der US-amerikanische Anlagefonds umgarnt Seniorinnen und Senioren mit dem Angebot, ihnen ihre Lebensversicherung abzukaufen. Und er ist nicht der einzige; dasselbe versuchen Konkurrenzfirmen wie Coventry First, Magna Life Settlements oder Abacus. Lifeline ließ den Song für Betty White komponieren, obwohl alle wissen, dass sich die Schauspielerin ihrem Lebensende nähert. Aber genau darin besteht ja auch das Geschäftsmodell: das Nahen des Todes in Profit zu verwandeln.

Die nekrophilen Fantasien der US-Finanzbranche wurden Anfang der 1980er Jahre mit dem Aufkommen der Aidsepidemie geweckt. Für die Versicherer waren die Bedingungen ideal: Es gab noch keine Therapie gegen das HI-Virus; das Gesundheitssystem war desolat, die Patienten also nur schlecht abgesichert; die Pflegekosten summierten sich über die Jahre; die Zahl der Aidskranken explodierte – und einige von ihnen besaßen eine Lebensversicherung. Die Versicherungsmakler nahmen Witterung auf und entwickelten ein System, das sich bald als höchst lukrativ erwies. Sie nannten es life settle­ment: Regelung oder auch Beilegung des Lebens, je nachdem.

Gemeint war die „Überschreibung einer Lebensversicherungspolice“. Normalerweise besteht der Sinn einer Lebensversicherung darin, eine Summe anzusparen, die beim Tod des Versicherten an eine oder mehrere von diesem vorher bestimmte Personen ausgezahlt wird. Wird der Vertrag vor dem Tod aufgelöst, fallen in der Regel Kosten an. Beim life settlement verkauft der Versicherte seine Police an eine dritte Partei. Sein Ertrag ist zwar niedriger als bei Fälligkeit des Vertrags – sprich bei seinem Tod –, aber er bekommt von dem Käufer immerhin zwei- oder dreimal mehr als bei vorzeitiger Vertragsauflösung. Der Investor wiederum kassiert zum Zeitpunkt des „Ablebens“ des Versicherten die volle, in der ursprünglichen Vereinbarung festgesetzte Versicherungssumme.

Der Käufer leistet eine einmalige Anfangszahlung, wozu monatliche Raten kommen, deren Höhe sich nach der Lebenserwartung des Versicherten richtet. Dazu heißt es auf der Web­site von Lifetime: „Niemand kann exakt den Todeszeitpunkt vorhersagen, an dem die Police fällig wird. Weil das genaue Fälligkeitsdatum die Jahresrendite bestimmt, ist diese umso höher, je begrenzter die Lebensdauer des Versicherten ist.“ Obwohl der Versicherer alles tue, um eine „präzise Einschätzung der Lebenserwartung“ vorzunehmen, müsse der Anleger zur Kenntnis nehmen, „dass manche Policen erst nach zehn Jahren oder noch später fällig werden. Das Hauptrisiko beim Abkauf von Lebensversicherungen ist die Zeit.“

Nach diesen Konditionen erzielt eine Person, die sich in der finalen Phase ihres Lebens befindet, für den Verkauf ihrer Versicherung einen höheren Preis als eine Person, die durch eine Krankheit zwar beeinträchtigt, aber noch nicht zum Tode verurteilt ist.

Die großen Anlagefonds stiegen Anfang der 2000er Jahre in dieses lukrative Geschäft ein. Nach einem Bericht, der 2018 für den Versicherer Magna Life Settlements erstellt wurde, erzielte die Branche in den USA eine „jährliche Wachstumsrate von durchschnittlich 34 Prozent“ und kam 2017 bereits auf einen Gesamtumsatz von 3 Milliarden Dollar. Der Markt habe damit „die Erwartungen all jener übertroffen, die auf sein Potenzial gesetzt haben“, heißt es frohlockend: „Kein Zweifel, das Geschäft wächst, und alles deutet auf eine strahlende Zukunft hin.“1

Insbesondere Krebserkrankungen haben sich als fabelhafter Wachstumsfaktor erwiesen, wie das US-Unternehmen Hidden Gem („Verborgenes Juwel“) auf seiner Website diagnostiziert: „Selbst Menschen, die zum Zeitpunkt, zu dem sie von ihrer Erkrankung erfahren, versichert sind, können in finan­ziel­le Not geraten, wenn sie nicht mehr in der Lage sind zu arbeiten oder wenn Behandlungskosten anwachsen, die nicht immer zurückerstattet werden.“ Der Satz steht in einer Rubrik mit dem Titel „Wie Sie Ihre Lebensversicherung für eine Krebsbehandlung nutzen können“.

Auf der Startseite von Hidden Gem ist ein lachendes weißhaariges Paar auf einer Segeljacht abgebildet. Ein anderer Versicherer setzt auf harte Fakten. Windsor Life Settlements präsentiert seinen potenziellen Kunden die zuverlässigsten Zahlen zur Lebenserwartung bei bestimmten Krankheiten in einem bestimmten Alter. Diese Werbestrategie zielt – um ein Beispiel zu nennen – auf einen 85-Jährigen mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, der hier erfährt, dass seine Überlebenschance in den nächsten fünf Jahren bei 1 Prozent liegt.

Auf einem solchen Markt sind natürlich nicht alle Kranken gleich. 2017 fragte die Journalistin Paula Span von der New York Times bei Abacus Life ­Settlement an, ob das Unternehmen ihre Lebensversicherung kaufen würde.2 Was folgte, war ein strenges, aber im herzlichsten Ton geführtes Verhör über ihr Alter, ihren Zigarettenkonsum, ihren Familienstand, das Sterbealter ihrer Eltern und ihre sportlichen Aktivitäten. Ganz zum Schluss wollte man noch von ihr wissen, ob sie in den letzten sechs Monaten Schwindelanfälle hatte oder gestürzt sei.

Span hatte keine Chance. Abacus’ Algorithmus errechnete für sie eine Lebenserwartung von 280 Monaten. Kein Versicherer will 23 Jahre warten, bis eine Police fällig wird, musste Span resümieren. „Aber schlechte Nachrichten vom Onkologen könnten die Ausgangslage natürlich ändern.“

Was die Anleger betrifft, so verstehen sie unter „schlechten Nachrichten“ etwas ganz anderes. Ihr Albtraum sind neue Therapien, die das Leben und damit die Dauer der monatlichen Zahlungen an den Versicherten verlängern, also ihre vermeintlich sichere Anlage zum Dollarfresser machen.

„Willkommen in der Stadt der letzten Ölung“ – so begrüßte ­Cleve Jones den Journalisten David Groff, der ihn Anfang der 2000er Jahre im kalifornischen Palm Springs besuchte. Mit diesem Satz spielte der Mitbegründer der San Francisco Aids Foundation auf ein besonderes Geschäftsmodell an: den Aufkauf von Lebensversicherungen, deren Inhaber eine Lebenserwartung von maximal zwei Jahren hatten: Aidskranken wie ihm. „Alle Leute hier haben ihre Verträge verkauft und sind für ihren Lebensabend nach Palm Springs gezogen“, erzählte er Groff. Als dann aber in den 1990er Jahren neue HIV-Therapien entwickelt wurden, entstand eine neue Situation: „Jetzt renovieren sie ihre Häuser“, meinte Jones amüsiert.3

Doch die Finanzbranche verfügt glücklicherweise über ein Mittel, um sich gegen solche unglückseligen Entwicklungen zu wappnen. Was „Sekurisation“ bedeutet, hat die breite Öffentlichkeit erst in der Subprime-Krise von 2007 erfahren. Es handelt sich um den Trick, verschiedenartige Versicherungsportfolios zu bündeln, etwa zu einem Paket mit Leukämie und Bauchspeicheldrüsenkrebs oder mit Diabetes und Herzkrankheiten. Dabei sind wie in einer Cocktailbar alle Kombinationen denkbar.

Diese Finanzprodukte bilden – den Erwartungen der Anleger entsprechend – unterschiedliche Risikoniveaus ab. Darüber hinaus haben sie den Vorteil, dass sie im Fall eines wissenschaftlichen Durchbruchs in der Entwicklung eines Medikaments gegen eine bestimmte Krankheit nicht generell ihren Wert verlieren. Da jedes dieser Produkte ein eigenes „Todesportfolio“ erstellen kann, werden sie endlos weiter im Handel bleiben.

Zum Leidwesen der französischen Investoren hat diese Finanzinnova­tion diesseits des Atlantiks bislang kaum Chancen. Obwohl die französischen Regierungen seit vierzig Jahren hartnäckig am Rückbau des staatlichen Gesundheitssystems arbeiten, ist es noch immer zu protektiv, um einen Markt der überschuldeten Kranken hervorzubringen.

Denis Kessler, ehemals Vizepräsident des französischen Unternehmerverbands Medef und seit 2002 Chef des Versicherungskonzerns Scor SE, klagt über ein „rechtliches Umfeld“, das die Kosten für die Versicherer übermäßig erhöht.4 Im Klartext: Frankreich schützt die Investoren nicht ausreichend vor Gesetzesänderungen, die höhere Kosten verursachen, indem sie die privaten Versicherungsträger verpflichten, neue Gesundheitsrisiken abzudecken.

Es ist also nicht nur der wissenschaftliche Fortschritt, der den Investoren Sorgen macht. Noch bedrohlicher ist für sie der Fortbestand eines Staatswesens, das den Preis für Medikamente beschränkt und die Versicherungen auf bestimmte Gesundheitsausgaben verpflichtet – also die Investoren daran hindert, das Nahen des Todes zu ihren abenteuerlichen Spekulationen zu nutzen.

1 „Life Settlement Industry Report 2018“, Magna Life Settlements, www.magnalifesettlements.com.

2 Paula Span, „Wringung Cash from Life Insurance“, The New York Times, 13. Oktober 2017.

3 David Groff, „Keeping up with the Jones“, POZ (A Magazine for HIV-positive Individuals): 1. September 2000, www.poz.com.

4 Denis Kessler, „Confronting the challenge of long-term care in Europe“, CESifo Dice Report, Bd. 8, Nr. 2, München, Sommer 2010.

Aus dem Französischen von Uta Rüenauver

Sylvain Leder ist Professor für Wirtschafts- und So­zial­wissenschaften und Mitherausgeber des „Manuel d’économie critique“, Paris (Le Monde diplomatique) 2016.

Le Monde diplomatique vom 11.04.2019, von Sylvain Leder