10.01.2019

Der dressierte Mensch

zurück

Der dressierte Mensch

Bis 2020 testet die chinesische Regierung in 43 Kommunen ein ausgefeiltes Sozialkreditsystem. Mit Punktabzug, öffentlichen Demütigungen oder Pluspunkten wird damit über die berufliche Zukunft, den Zugang zu Bildung und Krediten oder die individuelle Reisefreiheit entschieden.

von René Raphaël und Ling Xi

Nicole Eisenman, Seder, 2011, Mixed Media auf Papier, 31 x 40 cm
Audio: Artikel vorlesen lassen

Die Sache spielt sich direkt vor unseren Augen ab: An einer ruhigen Straße in der Nähe des Volkskrankenhauses Nr. 1 in Hangzhou steht eine alte Frau auf dem Bürgersteig. Der ist durch ein kniehohes Geländer von der Straße abgegrenzt. Anscheinend wartet die Frau auf ein Taxi. Wegen der Bremsschwellen fahren die Autos im Schritttempo. Als sich ein deutscher Mittelklassewagen nähert, steigt die Frau blitzschnell über das Geländer, wirft sich auf die Kühlerhaube, springt hoch, setzt sich dann auf den Boden und rührt sich nicht mehr. Der junge Fahrer steigt zitternd aus seinem Auto. Eine Stunde lang wird verhandelt, im Beisein von zwei ratlosen Sanitätern und einem zufällig vorbeigekommenen Polizisten. Am Ende einigt man sich auf eine Entschädigung.

Dieser vorgetäuschte Unfall war ein sogenannter peng ci, was wörtlich übersetzt „Porzellan anfassen“ heißt: ein Erpressungsversuch also. In China passiert so etwas ständig; in den sozialen Medien wimmelt es nur so von Peng-ci-Videos, manche eher witzig, viele dramatisch. Durch Betrügereien aller Art, Skandale um Lebensmittel und gefälschte Produkte ist die Stimmung ohnehin dermaßen angespannt, dass gegen die Tricksereien im Augenblick jede Maßnahme hochwillkommen ist – gute Zeiten also für Chinas Sozialkreditsystem für vorbildliches Betragen. Seit letztem Sommer stehen die Worte „Ehrlichkeit“ (cheng) und „Glaubwürdigkeit“ (xin) ganz groß auf den Propagandaplakaten, mit denen das Sozialkreditsystem beworben wird. Staatliche und private Stellen sammeln Daten zur Bewertung von Bürgern und Funktionären oder Unternehmen und ganzen Branchen; die Guten werden belohnt, die Schlechten bestraft.

Einer der Entwickler des Punktesystems, der Pekinger Forscher Lin Jun­yue, übernahm schon 1999 eine Arbeitsgruppe zu dem Thema. Damals waren US-Unternehmen an den chinesischen Ministerpräsidenten Zhu Rongji mit der Bitte herangetreten „eine Datenbank zu entwickeln, um mehr über die chinesischen Firmen in Erfahrung zu bringen, bei denen sie Bestellungen aufgeben wollten“, erzählt Lin Junyue.

„Daraufhin habe ich mit meinen Kollegen Forschungsreisen in die USA und nach Europa unternommen, und wir haben begriffen, dass wir etwas Besseres entwerfen müssen: ein stabiles System, um die Kreditwürdigkeit der chinesischen Bürger und Firmen zu dokumentieren. Unser Bericht erschien im März 2000, genau vor den beiden Volksversammlungen,1 unter dem Titel ‚Der Weg zum nationalen Kreditverwaltungssystem‘. Der Ausdruck ‚Sozialkredit‘ wurde erst 2002 eingeführt, nachdem ein Beamter vorgeschlagen hatte, sich begrifflich an der Sozialversicherung zu orientieren.“

2006 übernahm die chinesische Zentralbank das Prinzip des Kreditscoring aus den USA, wo eine Bewertung gewöhnlich zwischen 300 Punkten (unterdurchschnittlich) und 850 Punkten (sehr gut) liegt.2 Anschließend setzte Lin Jinyue seine Arbeit fort. „Wir wollten die Kreditwürdigkeit im weitesten Sinn erforschen und noch gehaltvollere Daten erheben, zum Beispiel vom Sicherheits- oder Telekommunika­tions­ministerium. Dieses Projekt wurde 2012 vom Staatsrat genehmigt.“

Der Forscher bestreitet allerdings, dass es für jeden Bürger einen Score gibt: „So weit sind wir noch nicht, auch wenn wir über die gewöhnliche Bonitätsprüfung hinausgehen. Im Laufe der Zeit werden alle Arten von Informa­tio­nen über eine Person oder Organisa­tion gesammelt. Damit können vor allem unbescholtene Bürger oder Firmen, die bislang keine Nachweise über ihre Solvenz erbringen konnten, dank neuer Kriterien Kredite bekommen, sich auf Ausschreibungen bewerben und viele andere Dinge mehr.“3

Das Sozialkreditsystem wird bis 2020 in 43 Pilotkommunen erprobt. Jede hat eigene Kriterien und ein eigenes Buchstaben- oder Punktesystem, ja sogar eigene Namen: In Suzhou heißt es „Pflaumenblüte-Sozialkredit“, in Xiamen „Jasmin-Sozialkredit“. Fast alle sammeln Informationen über soziale Netzwerke oder Smartphone-Apps, nutzen aber auch eine immer ausgefeiltere Videoüberwachung.

Das Programm „Himmelsnetz“ soll bis 2020 alle größeren städtischen Plätze mit Kameras zur Gesichtserkennung ausstatten. Auf dem Land gibt es dazu das Programm „Adleraugen“, mit dem die Bauern die Bilder der Überwachungskamera, die am Dorfeingang hängt, auf ihren Fernsehern oder Smart­phones empfangen können.

„Ein Gefühl der Sicherheit ist das beste Geschenk, das ein Land seinen Bürgern machen kann“, erklärte Präsident Xi Jinping in einer Dokumenta­tion des Nationalfernsehens im Vorfeld des 19. Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas im Oktober 2017. In dem Film hieß es, fast jede zweite Überwachungskamera weltweit (42 Prozent) stehe in China.

Lin Junyue überwacht, wie die Pilotkommunen das Sozialkreditsystem einsetzen. „In Suqian ist das wichtigste Bewertungskriterium, dass man sich an die Straßenverkehrsordnung hält. In Rongcheng konzentriert man sich auf Moral und Bürgersinn. In Hangzhou wird der innovative und internetaffine Ruf der Stadt getestet. Unser Team schaut sich das alles genau an, und wir beschäftigen uns auch mit dem Schutz der persönlichen Daten, denn dafür braucht man einen gesetzlichen Rahmen. Es gibt schon die internationale Norm ISO/TC 290, die ist aber zu eng gefasst und bremst die Wirtschaftsentwicklung aus.“ Laut Lin werden die Regeln bis 2020 umgesetzt und Strafen und Vergünstigungen eingeführt sein. Die Infrastruktur wird bereitstehen, und das Land kann sie dann nutzen. In Peking soll es 2021 so weit sein.

In der Stadt Hangzhou südwestlich von Schanghai nutzt man schon seit 2015 zwei Scoringsysteme. Das städtische ist noch im Entwicklungssta­dium und keinem der Einwohner, die wir befragt haben, bekannt. Das private ist sehr beliebt und bei den Behörden geschätzt: „Sesame Credit“ von der Ant Financial Service Group, einer Tochtergesellschaft des E-Commerce-Riesen Alibaba, der seinen Sitz ebenfalls in Hanghzou hat. Dieses Kreditsystem vergibt zwischen 350 und 950 Punkte an die Nutzer der weit verbreiteten Bezahl-App Alipay, die in der Stadt praktisch ein Monopol besitzt. Wer über eine hohe Punktzahl verfügt, erhält „Privilegien“ und Zugang zu lukrativen Finanzprodukten und Verbraucherkrediten – dem Huabei-Service von Alipay.

Der von Architekten aus Seattle entworfene Z-Space ist schon das zweite Bürogebäude, das Ant Financial innerhalb von vier Jahren errichten ließ. Im Augenblick hat das Unternehmen 3600 Angestellte, im neuen Gebäude ist dann jedoch schon Platz für 8000. Wachleute mit Knopf im Ohr, ausstaffiert wie Soldaten der Ehrengarde, überwachen die Ankunft der jungen Mitarbeiter in bunten Bermudashorts mit den neuesten Beats-Kopfhörern auf ihren Elektrorädern oder im Sportwagen. Einer der Goldesel des Unternehmens ist die Bezahl-App Alipay (chinesisch ZhiFuBao), die im September 2018 bereits 700 Millionen Nutzer verzeichnete – ein Jahr zuvor waren es erst 500 Millionen. Grundlage ist ein QR-Code-Scanner – selbst Bettler tragen Schilder mit QR-Codes um den Hals.

Besser Windeln kaufen als an der Konsole zocken

Wer Alipay nutzt, überträgt Ant Financial persönliche Daten, wie etwa Taxifahrten, Supermarkteinkäufe, Arztrechnungen oder Spenden. So wie Facebook aus den Aktionen seiner Nutzer personalisierte Werbung generiert, orientiert sich auch der Sesame Credit am Onlineshopping der Alipay-Nutzer. Doch er geht noch weit darüber hinaus.

„Mit Zustimmung des Kunden sammelt und analysiert Sesame fünf Datentypen, die über Alipay, aber auch über andere große Plattformen erhoben werden. Diese Daten sind: Einkäufe, Rückzahlung von Verbraucherkrediten, Immobilienbesitz und Finanzprodukte des Nutzers, sein persönliches Profil, Schulabschlüsse und Hobbys sowie Geldüberweisungen an andere Alipay-Kunden“, erläutert uns Le Shen, ein Sprecher von Ant Financial, und fügt hinzu: „Sesame interessiert sich nicht für die GPS-Daten des Nutzers, seinen Messagingdienst oder die Anrufliste.“

Im Februar 2015 erklärte Li Ying­yun, Leiter der Technologieabteilung bei Sesame Credit, dem chinesischen Wirtschaftsmagazin Caixin, wie die Bewertung eines Nutzers zustande kommt: „Jemand, der beispielsweise 10 Stunden am Tag mit Videospielen verplempert, gilt als faul, während einer, der häufig Windeln kauft, vermutlich Kinder hat und damit verantwortungsbewusster ist.“4 Das Interview ist mittlerweile fast vier Jahre her, seitdem sind keine weiteren Informationen über den Algorithmus des Unternehmens nach außen gedrungen.

Heutzutage interessiert sich nicht nur Ant Financial für die Sesame-Nutzer mit den meisten Punkten. Unternehmen und sogar Konsulate umwerben diese vielversprechenden Bürger. So erscheinen bei der Dating-App Baihe die Singles mit dem höchsten Punktestand an erster Stelle. Große Hotelketten, Fahrrad- oder Autovermieter erlassen allen, die mehr als 650 Punkte haben, die in China besonders hohe Kaution. Sie haben auch Zugang zu einer Plattform, über die man Foto-, Video- und Computerausrüstung ausleihen kann. Ein guter Sesame-Kunde kann sogar ein Visum für Singapur oder Kanada beantragen.

Seit 2004 gibt die Stadtverwaltung von Hangzhou an alle Einwohner über 16 Jahren eine Bürgerkarte aus. Das ist eine multifunktionale Magnetkarte, die als Ausweis für die Sozialversicherung und den öffentlichen Nahverkehr dient, zum Bezahlen der Straßenmaut und zum kostenlosen Zugang zu den städtischen Parks. Damals erklärten die Behörden, sie wollten über die Karten eine große Datenbank aufbauen, um die Bedürfnisse der Einwohner besser zu erfassen.

Seit Juni 2018 kann man nach Wunsch auch auf eine Smartphone-App mit denselben Funktionen umsteigen. Zur Identifikation dient hier Se­same Credit, das mit Gesichtserkennung arbeitet. Diese Verbindung liefert den offiziellen Beweis für die Zusammenarbeit zwischen Alibaba und der Stadtverwaltung von Hangzhou. Ein guter Sesame-Score bedeutet für das Amt, dass man auch ein guter Bürger ist.

Die Zentralbank, die bis 2015 lediglich die Bonität eines Viertels der Bevölkerung bewerten konnte, gewährte Sesame und sieben weiteren Finanzdienstleistern lange Zeit Zugang zu allen Bank- und Steuerdaten der Chinesen. „Sie brachte schließlich im Mai 2018 ihr eigenes Kreditbewertungssystem namens Baihung auf den Markt, bei dem diese acht Unternehmen Minderheitsgesellschafter sind“, erklärt Lin Junyue.

Man muss weiter nach Osten reisen, in die Hafenstadt Rongcheng in der Provinz Shandong, um zu begreifen, wie ein voll entwickeltes Sozialkreditsystem funktioniert, das allein von der Kommune betrieben wird. „Hang­zhou entwickelt sein System gemeinsam mit Hightechunternehmen und fördert auf diese Weise Sesame Credit. Dagegen ist Rongcheng vor allem für seine aktive Umsetzung des Sozialkredits bekannt. Die Stadt konzentriert sich auf die moralische Besserung ihrer Einwohner. Sie werden sehen, dass sie sehr viele Anreize dafür bieten“, kündigt uns Lin Junyue vorab an.

In Rongcheng treffen wir in der Tat auf Ehrgeiz, Überzeugung – und viel Bastelei. An diesem Spätnachmittag ist der Park rund um das Bürgeramt fast verlassen. Ein altes Paar in geflickten Kitteln erklärt uns den Grund: „Jetzt läuft im Fernsehen gerade ‚Das Leben des Volkes in 360 Grad‘, die meisten Leute hocken vor der Kiste.“ Jeden Abend sendet das Lokalfernsehen eine Zusammenstellung von allen Fehltritten, die innerhalb der letzten 24 Stunden von den Überwachungskameras aufgezeichnet wurden.

Das geht Schlag auf Schlag: Einer hängt seine Unterhosen am Zaun einer Wohnsiedlung auf, ein anderer entsorgt sein altes Sofa einfach auf dem Bürgersteig; Autofahrer halten nicht am Ze­bra­streifen oder Fußgänger überqueren nicht an den vorgeschriebenen Wegen die Straße. Zwischen zwei Ermahnungen von Polizisten, die mit unbewegter Miene ihre Augen fest auf den Teleprompter heften, werden Nummernschilder und Gesichter gezeigt, manchmal sogar die Namen der Sünder.

Willkommen in Rongcheng, bekannt für Fischerei und Wohnwagenfirmen und als Winterquartier für die Schwäne aus der Mongolei. Die Ortschaft entwickelte sich innerhalb von sechs Jahren zur Stadt, alle Dörfer im Umkreis von 20 Kilometern wurden eingemeindet. In Rongcheng und fast allen 919 Dörfern drumherum wurde 2013 das Sozialkreditsystem eingeführt. Die Folge war ein merkbarer Wandel im Verhalten und in den sozialen Interaktionen.

Alle Einwohner bekamen zu Beginn ein Guthaben von 1000 Punkten und lagen damit automatisch in der Kategorie A. In der Folge konnten sie entweder Punkte gewinnen und in Kategorie A+ aufsteigen oder Punkte verlieren und in Kategorie B, C oder D abrutschen. Schon mit dem Verlust eines Punkts, bei einem Kontostand von 999, war Kategorie B erreicht – und die Bank verweigerte einem den Immobilienkredit. Den Kontostand holt man sich im brandneuen Bürgeramt ab.

Wer Müll auf der Straße liegen lässt, kann bereits 3 Punkte einbüßen. Deshalb sind die Busse und Bürgersteige auch so sauber, nirgendwo sieht man eine Zigarettenkippe oder eine leere Getränkedose herumliegen. Zahlreiche Überwachungskameras des Weltmarktführers Hikvision (der chinesische Staat ist Mehrheitsaktionär) ersetzen die Streifenpolizisten.

In Rongcheng muss man keine Angst haben beim Überqueren der Straße: Auf allen Hauptverkehrsstraßen halten die Autofahrer, sobald sie einen Fußgänger sehen – das gibt es sonst kaum in China. Wer das nicht macht, riskiert eine empfindliche Strafe: 50 ­Yuan, 3 Strafpunkte auf den Führerschein (von insgesamt 12) und 5 Punkte Abzug beim Sozialkredit. „Das ist ganz plötzlich passiert, im Frühling 2017. Von heute auf morgen haben die Autos vor uns angehalten. Ich wusste erst gar nicht, was ich tun sollte!“, erinnert sich Frau Yuan.

In zahlreichen Stadtvierteln wurden Verhaltensregeln aufgestellt und von den Anwohnern unterzeichnet. Im Viertel Qingshan sind die guten Manieren beispielsweise auf großen blauen Tafeln angeschlagen. Die wichtigsten Verbote: „gelbe“ (erotische) Filme oder Bücher, Urban Gardening im öf­fent­lichen Raum, der Besuch unre­gis­trierter Kirchen, rüder Umgang mit den Nachbarn oder Posieren in Luxuswagen bei Hochzeiten oder Begräbnissen. Die Wirksamkeit des Sozialkreditsystems wird in den kleinen Dörfern noch sichtbarer. Etwa 100 von ihnen haben bereits einen „Sozialkredit-Platz“ eingerichtet, wo auf bunten, lustigen Pla­katen die Gebote aufgezeichnet sind und Fotos verdienter Bürgerinnen und Bürger hängen, dazu eine Übersicht der Punkte, die im vergangenen Monat abgezogen oder hinzugefügt wurden.

In Dongdao Lu Jia, einem hübschen Dörfchen mit frisch asphaltierten Gassen, erhielten die Einwohner am 10. Juli 2018 ein zwölfseitiges Verzeichnis aller verdienstvollen oder unerwünschten Tätigkeiten. Darin erfährt man, dass man etwa für das Beschneiden der Obstbäume des Nachbarn einen Punkt bekommt, oder wenn man einen alten Menschen ins Krankenhaus oder auf den Markt begleitet (was man sich aber nur zweimal im Monat anrechnen lassen kann).

„Familie mit vorbildlichem ­Sozialkredit“ steht über der Tür

Wer ein Auto aus dem Graben zieht, erhält einen Punkt, wer hilft, die Wasserzähler abzulesen, oder Werkzeug verleiht, einen halben. Wer jedoch seine Hühner frei laufen lässt, muss 200 Yuan Strafe zahlen und verliert 10 Punkte. Eine Prügelei kostet 1000 Yuan und 10 Punkte, Müllentsorgung im Fluss schlägt mit 500 Yuan und 5 Punkten zu Buche. Für regierungskritische Graffiti oder Aufkleber werden 1000 Yuan und 50 Punkte fällig. Die höchste Strafe erhalten diejenigen, die sich gleich auf höherer Ebene beschweren und nicht erst den Dorfvorsteher konsultieren: 1000 Yuan Strafe und sofortige Herabstufung in Kategorie B.5

„Früher hat das Dorf Straßenreiniger beschäftigt, aber die haben schlecht gekehrt. Jetzt machen wir selbst sauber, das bringt Punkte und spart Geld“, berichtet der 64-jährige Liu Jian Yi. Er ist viele Jahre durchs Land gereist und hat auf verschiedenen Baustellen gearbeitet, jetzt wohnt er wieder in dem grauen Steinhaus, in dem er geboren ist. „Ich habe gerade den Kamin eines Nachbarn repariert. Wenn ich das unserem Parteichef melde, mein Freund es bestätigt und ein Foto vorlegt, dann müsste ich einen Punkt bekommen. Der Kontostand wird am Monatsende per WeChat bekanntgegeben, aber ich besitze kein Smartphone.“

Es heißt, die Leute mit hohem Punktestand bekämen zu Neujahr Austernkörbe und Ölkanister. „Neulich hat mir ein Nachbar erzählt, der Chef hätte ein Team alter Kumpel zusammengestellt, um in der Stadt eine Behindertenwerkstatt zu bauen. Keiner war für die Arbeit qualifiziert. Doch sie haben es trotzdem gemacht, mit Bestechung. Und der soll unsere Punkte verteilen? Meinen die das ernst?“

Durchs Nachbardorf Ximu Jia, 250 Einwohner, läuft ein fischreicher Fluss. Unter dichten, schwarzen Tüchern wird Ginseng angebaut. Das erste Häuschen, das genauso aussieht wie die anderen und von glitzernden Scherben umgeben ist, trägt auf dem Betondach ein großes rotes Kreuz. Es handelt sich um die protestantische Kirche, die zweimal in der Woche für etwa 20 Gläubige die Pforten öffnet. Eine untersetzte Frau mit Kurzhaarschnitt erscheint auf der Schwelle. Über ihrer Tür hängt ein Emailleschild mit der Aufschrift: „Familie mit vorbildlichem Sozialkredit“. Das Gleiche bei den Nachbarn.

Frau Mu räuspert sich und erzählt: „Das ist jetzt drei Jahre her. Beamte haben den Ostteil des Dorfs ausgezeichnet, ohne bestimmten Grund. Im nächsten Jahr war der Westteil dran. Sie mussten ihre Quote erfüllen. Dieses Jahr wurde es ernster. Wir bekamen alle ein Büchlein, in dem stand, was man tun sollte und was nicht, es war wie in der Schule. Dazu die Kontaktadresse der Schöffen, denen wir unsere guten Taten berichten und dafür Punkte einfordern sollten.“

Ihr Name steht in diesem August nicht auf der kleinen Liste der guten Samariter, die im Hof des Gemeindezentrums hängt, wo die Leute seit dem frühen Morgen um ein paar Yuan das chinesische Schach xiangqi spielen. „Ich bin noch nicht so weit, dass ich sie anrufe, nur weil ich meiner Nachbarin geholfen habe.“ Sie flüstert: „Ich habe eine Freundin, deren Mann einen Kredit nicht pünktlich zurückgezahlt hat. Er hat nur einen Monat ausgesetzt und kam auf eine schwarze Liste. Alle Nachbarn wussten Bescheid. Das hat vielleicht nichts miteinander zu tun, aber sie haben sich dann getrennt.“ Frau Mu geht wieder hinein und schließt die Tür.

Sie bezieht sich vermutlich auf die Liste für „Wirtschaftsvergehen“, deren Aktualisierung der chinesische Staat jeden Monat auf der Website CreditChina.gov.cn veröffentlicht. Man weiß nicht, wie viele Unternehmen und Privatpersonen insgesamt darauf stehen, denn nur die Aktualisierungen sind sichtbar. Im September 2018 kamen 228 000 Bürger und 55 000 Firmen wegen verspätet zurückgezahlter Kredite oder nicht bezahlter Steuern, Gebühren oder Bußgelder auf die Liste.

Im sozialen Netzwerk Weibo beschreiben manche dieser Sünder, welche Strafen sie neben der öffentlichen Demütigung noch erwarteten: Firmen durften sich nicht mehr an Ausschreibungen beteiligen, Bürger konnten kein Zimmer mehr in einem schönen Hotel buchen oder ihr Kind nicht an einer guten Abendschule anmelden, oder sie konnten ein Jahr lang nicht mehr mit dem Flugzeug oder Schnellzug reisen.

Ein paar Kilometer weiter südlich steht in roten Lettern auf einem großen Stein am Rand einer verlassenen Kreuzung, dass das nächste Dorf besonders vorbildhaft ist. Die Verwalterin ist auch Vorsitzende des örtlichen Frauenklubs. Seit dem Ende der Ein-Kind-Politik muss Yu Jianxia nicht mehr die Geburten im Dorf überprüfen und nimmt nun die Sozialkreditberichte ihrer drei Schöffen unter die Lupe.

„Ich sammle ihre Informationen am 18. jedes Monats, dann sende ich am 20. meinen Bericht an den Dorf- und Kreisvorsteher, und am 25. treffen wir uns, um die Fälle zu besprechen und Punkte zuzuteilen. Damit eine gute Tat anerkannt wird, muss man mindestens zwei Fotos oder ein Video vorlegen. Dafür sind die Schöffen zuständig, denn hier haben höchstens 50 Bürger ein Smartphone.“ Sie habe aber noch niemandem Punkte abgezogen: „Wenn jemand Gerümpel auf dem Gehsteig liegen lässt, dann setze ich ihm eine Frist von drei Tagen. Das Ziel besteht ja nicht darin, den Leuten Scherereien zu machen, sie sollen sich nur etwas besser benehmen. Unser Motto lautet: ‚Hao Ren Hao Shi‘ (Gute Menschen, gute Taten).“

Noch ein Stück weiter liegt hinter einem Schilfdickicht das Dorf Mao Liu Jia. Einige Bürger aus der Stadt sind schon beim ersten Hahnenschrei zu der 44-jährigen Ma Yu Ling gekommen, um ein paar Punkte zu gewinnen. Sie liegt seit 15 Jahren nur noch auf ihrem kang, einem von unten beheizten Betonbett, mit einer Trinkflasche und einer Fernbedienung unter dem Kinn. Eine missglückte Operation hat allmählich zu Mas vollständiger Lähmung geführt. „1998 besuchte mich ein Team von Shandong TV und wollte mir einen Rollstuhl schenken. Damals konnte ich noch laufen. Jetzt kann ich vor Schmerzen kaum noch den Hals bewegen.“ Seit zwei Jahren kommen zweimal im Monat mildtätige Seelen – niemals dieselben – aus Rongcheng, um ihr Haus sauberzumachen.

Diese gute Tat bringt 4 Punkte. Manchmal bringen die Helfer auch gefüllte Nudeln mit, die der Ehemann in den Gefrierschrank stellt. Die Rente von 3000 Yuan pro Jahr (386 Euro) wurde ihr gestrichen, als ihr Sohn das arbeitsfähige Alter erreichte. Die Krankenversicherung zahlt weder Windeln noch Verbände oder Desinfektionsmittel, die sie in großen Mengen verbraucht. „Das kostet uns 6000 Yuan im Jahr“, berichtet ihr Mann, während er uns ein Glas billigen Schnaps anbietet. Sie verlassen nie das Dorf, außer wenn sie im Kleintransporter ins Kreiskrankenhaus fahren, um den Blasenkatheter wechseln zu lassen. „Es ist sehr schön, wenn ich Besuch empfangen kann, geschminkt werde und mit den Frauen aus der Stadt reden kann“, erzählt sie. „Mir ist es egal, ob sie das nur machen, um Punkte zu sammeln.“

In diesem Teil Shandongs wird offenbar in jedem Dorf der Sozialkredit anders gehandhabt. In Teng Jia etwa werden am Freitagabend die abgezogenen Punkte und die Namen der Sünder über Lautsprecher verkündet. Das hat die Einwohner dazu gebracht, Streitigkeiten schnell beizulegen oder lieber im Nachbardorf etwas trinken zu gehen, um den Volksschöffen zu entkommen, die sich als Dorfwächter aufspielen.

Der US-Forscher Jeremy Daum von der Yale Law School ist Spezialist für chinesisches Recht sowie Autor und Mitbegründer des Projekts China Law Translate.6 Er sammelt und übersetzt alle Regeln des chinesischen Sozialkreditsystems – eine Herkulesarbeit. „Wenn jemand ins Restaurant gehen will, kann er sich vorher über den Punktestand zur Sauberkeit in der Küche informieren, der vom Amt für Lebensmittelsicherheit herausgegeben wird. Er muss aber nicht wissen, ob der Koch viermal seine Oma zum Markt begleitet hat oder im Zug schwarzgefahren ist. Auch ein Banker interessiert sich nicht dafür, ob sein Kunde zu den schlechten Mülltrennern gehört, wenn er ihm einen Kredit vermittelt, selbst wenn er die Möglichkeit hätte, diese Information einzuholen.“

Daum sagt: „Vielleicht findet man eines Tages durch genaue Datenanalysen heraus, dass es einen Zusammenhang zwischen Schwarzfahren und Missachtung der Hygienevorschriften gibt oder dass Umweltbanausen ihre Kredite nicht zurückzahlen, aber im Augenblick wäre ein einheitlicher Score für die Regierung überhaupt nicht sinnvoll. Was am meisten zählt, sind die schwarzen Listen und die öffentliche Demütigung, die sie hervorrufen.“

1 Der Nationale Volkskongress und die Politische Konsultativkonferenz des chinesischen Volkes versammeln sich jeweils einmal pro Jahr im März.

2 Siehe Maxime Robin, „Am Ende kommt der Kredithai“, LMd, Oktober 2015.

3 Jamie Horsley, „China’s Orwellian social credit score isn’t real“, Foreign Policy, Washington, 16. November 2018.

4 Zitiert in: Celia Hatton, „China’s ‚social credit‘: Beijing sets up huge system“, BBC News, Peking, 26. Oktober 2015.

5 In China ist es einer alten Tradition gemäß möglich, seine Beschwerde oder Forderung jeweils an die nächst­höhere Verwaltung zu richten, vom Kreis über den Kanton und die Präfektur bis zur Provinz. Siehe Isabelle Thireau, „Streiks, Briefe und Belagerungen“, LMd, Oktober 2010.

6 „Legal documents related to the social credit system“, China Law Translate, www.chinalawtranslate.com.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

René Raphaël und Ling Xi sind Journalisten.

Le Monde diplomatique vom 10.01.2019, von René Raphaël und Ling Xi