10.01.2019

Streit um das Asowsche Meer

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Streit um das Asowsche Meer

von Igor Delanoë

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Am 25. November stoppte die russische Küstenwache drei ukrainische Kriegsschiffe, als sie die Meerenge von Kertsch passieren wollten. Sie hatten Kurs auf das Asowsche Meer genommen, an dessen Westküste die ukrainischen Industriehäfen von Mariupol und Berdjansk liegen. Seit Russland durch die Annexion der Krim im März 2014 die Oberhand über die Region gewann, ist die Sicherheitslage angespannt.

Der Zwischenfall vom November war der schwerwiegendste in einer ganzen Reihe von Blockaden und Schiffskontrollen, die seit Anfang 2018 im Asowschen Meer durchgeführt wurden. Laut einem Abkommen von 2003 soll dieses Nebenmeer des Schwarzen Meers eigentlich ein gemeinsam genutztes Territorialgewässer sein. Sowohl zivile wie militärische Schiffe beider Länder haben demnach freie Fahrt durch die Straße von Kertsch.

Doch seit das militärisch überlegene Russland die Krim annektiert hat, kontrolliert es beide Ufer der Meerenge und damit faktisch auch den Zugang zum Asowschen Meer. Nach der Einweihung der 3 Milliarden Euro teuren Krim-Brücke im Mai 2018 verschärfte Moskau die Überwachung und Durchfahrtregelungen – auch als Reaktion auf die Äußerungen des nationalistischen ukrainischen Abgeordneten Ihor Mos­sij­tschuk, der Ende Mai dazu aufgerufen hatte, die Brücke zu zerstören.1

Bei dem jüngsten Zwischenfall ging es den Ukrainern vor allem darum, den Russen Paroli zu bieten, denn sie hätten ihre kleinen Schiffe auch genauso gut auf dem Landweg transportieren können wie zwei Monate zuvor zwei Patrouillenboote. Noch am 24. September hatte ein ukrainischer Marineverband ohne jeden Zwischenfall, aber unter strenger russischer Kontrolle die Straße von Kertsch durchquert.

Am 25. November beschlossen die Ukrainer jedoch, ihre Kriegsschiffe nicht wie im Abkommen von 2003 vorgesehen in die lange Warteschlange einzureihen, und riskierten damit einen gewaltsamen Eingriff Russlands. Offensichtlich wollten sie ein militärisches Eingreifen der Nato provozieren, der Kiew gern beitreten möchte, bislang jedoch ohne Erfolg.

Bei dem ukrainischen Versuch, die Durchfahrt durch die Meerenge von Kertsch zu erzwingen, spielten mit Sicherheit auch innenpolitische Motive eine Rolle. Im März 2019 stehen in der Ukraine Präsidentschaftswahlen an und laut den jüngsten Umfragen wollen nur 10 Prozent der Wähler für den amtierenden Pedro Poroschenko stimmen. Favoritin ist die schillernde Symbolfigur der „Orangen Revolution“ von 2004, die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko.2

In Moskau wie in Kiew glauben manche, Poroschenko habe den Vorfall im Asowschen Meer absichtlich provoziert, um das Kriegsrecht verhängen zu können, die Wahl zu verschieben und damit seine Chancen auf eine zweite Amtszeit zu erhöhen. Letztlich stimmte das Parlament aber nur für die Verhängung des Kriegsrecht für 30 Tage in zehn östlichen Oblasten (Regionen), anstatt für die von Poroschenko geforderten 60 Tage im gesamten Staatsgebiet. Diese Entscheidung gefährdet zwar nicht den Wahltermin im März, aber sie verschafft dem Regierungschef ein gewisses Kriegsherrenimage, mit dem er seine schlechten Zustimmungswerte aufzupolieren versucht.

Kiew provoziert, Moskau blockiert

Den Russen ging es vor allem um die Bestätigung ihrer Oberhoheit über die Krim und die Straße von Kertsch und um die Botschaft, dass niemand ungestraft ihre neuen Spielregeln brechen darf. Dass seit Anfang 2018 der Schiffsverkehr ins Asowsche Meer gestört ist, hat einen hohen Preis: Die ukrainischen Häfen Mariupol und Berdjansk rechnen mit Verlusten zwischen 20 Millionen und 40 Millionen Dollar pro Jahr. Bereits in den Jahren von 2015 bis 2017 war der Frachtverkehr dort um 27 beziehungsweise 47 Prozent eingebrochen.3

Schuld daran sind aber nicht nur die russischen Kontrollen. Durch die ukrainische Blockade des Donezbeckens sind die Küstenstädte vom Hinterland abgeschnitten; auch dass das Bruttoinlandsprodukt gegenüber 2013 um 40 Prozent gesunken ist, wirkt sich negativ auf den Handel aus. Indem Moskau den Druck auf die ukrainische Schifffahrt aufrechterhält, besitzt es genügend Verhandlungsmasse, um zum Beispiel die auf die Krim führenden Trinkwasserleitungen wieder freizubekommen. Nach der Annexion der Halbinsel drehte ­Kiew das Wasser ab, weshalb die Krim mit ihren eigenen Quellen auskommen muss.

Außerdem zeigt der Vorfall vom 25. November zum wiederholten Mal, wie Russland seit der Krimbesetzung seine militärische Präsenz in der Schwarzmeerregion ausweitet. Das Asowsche Meer und die Straße von Kertsch bilden einen strategischen Korridor, der das Kaspische Meer über den Wolga-Don-Kanal mit dem Schwarzen Meer verbindet. Hier sind jetzt immer mehr kleine russische Kampfschiffe unterwegs, und einige wagen sich von ihrer Basis im Kaspischen Meer sogar bis ins östliche Mittelmeer vor, wo die 6. US-Flotte kreuzt, die dort den Einflussbereich der Nato schützt (siehe Karte).4

Seit der Annexion fungiert die Krim wie zu Zeiten des Zarenreichs und der Sowjetunion – bis zu ihrer Übergabe 1954 an die Ukrainische SSR – als südlicher Außenposten Russlands. Moskau hat die Halbinsel aufgerüstet, mit S-400-Raketen zur Luftabwehr und dem K-300-System zur Küstenverteidigung. Mit diesen Waffen können Jagdbomber und Raketen abgefangen werden, was bedeutet, dass die Nato in der Schwarzmeerregion über mehrere hundert Quadratkilometer ihr militärisches Potenzial gar nicht mehr entfalten kann.

Hinzu kommt, dass die russische Schwarzmeerflotte neue Diesel-U-Boote, Fregatten und kleinere Flugkörperschnellboote stationiert hat, die allesamt Langstreckenraketen vom Typ Kalibr abfeuern können, welche zum Beispiel in Syrien zum Einsatz kamen. Russland kann nun jedem Gegner, der in seine Einflusssphäre eindringen will, beträchtlichen Schaden zufügen.

Die Aktivitäten ausländischer Kriegsschiffe im Schwarzen Meer wurden bereits 1936 durch den Vertrag von Montreux eingeschränkt. Dieser Vertrag gab nicht nur der Türkei die Oberhoheit über den Bosporus und die Dardanellen zurück, sondern begrenzt auch die Anzahl, Tonnage und Aufenthaltsdauer der Schiffe von Nichtanrainerstaaten. Die türkische Herrschaft über die Meerengen und die westliche Unterstützung für Ankara hatten früher den Expansionsdrang der russischen Zaren und der Sowjetunion Richtung Mittelmeer im Zaum gehalten, doch heute verhindert der Vertrag von Montreux, dass die U.S. Navy der aufgerüsteten russischen Schwarzmeerflotte Kontra geben kann.

Poroschenko hat das bereits erkannt: Nach dem Zwischenfall von Kertsch schlug er vor, russischen Schiffen die Durchfahrt durch den Bosporus und die Dardanellen zu verwehren. Die Türkei hat allerdings stets darauf gepocht, den Vertrag von Montreux genau einzuhalten. Selbst die Annexion der Krim und die wachsende russische Militärmacht haben daran nichts geändert. Jede Vertragsänderung würde den Interessen Ankaras und Moskaus schaden. Denn sie würde anderen Militärmächten den Zugang zu strategisch wichtigen Gewässern in der Region eröffnen und den derzeitigen Kompromiss zerstören, nach dem das Schwarze Meer eine gemeinsame russisch-türkische Sicherheitszone bildet.

In der Vergangenheit hat die Türkei stets dafür gesorgt, dass es dort nicht zu Zusammenstößen zwischen Russland und der Nato kam, und eine sorgfältig austarierte Balance zwischen der Militärallianz und ihrem großen Nachbarn gewahrt. Auch der Nato-Beitritt Bulgariens und Rumäniens 2004 hat diesen Zustand nicht tangiert, denn beide Länder haben nur eine schwache Marine.

Die Türkei liegt im Schnittpunkt von drei russischen A2/AD-Zonen (Anti-Access-Area-Denial), wie die Kombination aus verschiedenen Waffensystemen in der Militärsprache genannt wird – auf der Krim, im Kaukasus und in Syrien. Obgleich diese Entwicklung durchaus Anlass zur Sorge gab, hat Ankara bislang keine Maßnahmen ergriffen, um die gemeinsame Kontrolle des Schwarzen Meeres infrage zu stellen. Als Sicherheitsgarantie dient der Türkei nicht zuletzt die gute Zusammenarbeit im Energiesektor: von der Gaspipeline Turkish Stream, deren Unterseeleitung im November fertiggestellt wurde, bis zum Bau des ersten türkischen Atomkraftwerks durch den russischen Konzern Rosatom.

Die Stärke dieser Partnerschaft besteht vor allem darin, dass sich Russen und Türken auf gemeinsame Projekte konzentrieren, anstatt vergeblich nach strategischen Übereinstimmungen zu suchen. Auf geopolitischer Ebene sind Moskau und Ankara sogar Konkurrenten, die im Schwarzen Meer, im Kaukasus und im Nahen Osten lokal begrenzt und in klar definiertem Rahmen kooperieren, man denke etwa an die Syrien-Konferenzen von Astana oder an die russisch-türkische Initiative BlackSeaFor, die 2001 als Marinegruppe aller Schwarzmeeranrainer das Gegenkonzept zur Nato-Operation Active Endeavour darstellen sollte. Letztere war nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ins Leben gerufen worden, und Rumänien und Bulgarien hatten auf eine Öffnung des Bosporus für die beteiligten Verbände gedrängt.

Die russisch-türkische Kooperation wird sich tendenziell eher verstärken, auch weil es nach dem Putschversuch gegen Erdoğan im Sommer 2016 zwischen Washington und Ankara immer wieder zu Zerwürfnissen kam – nicht zuletzt wegen der US-amerikanisch-kurdischen Militärkooperation in Sy­rien, die Erdoğan von Anfang an ein Dorn im Auge war (siehe Artikel auf Seite 6).

Für die Nato stellt sich die Frage, wie sie auf die wachsenden Spannungen im Asowschen Meer reagieren kann. Möglich wäre die Einrichtung einer ständigen Überwachung des Luftraums, ähnlich wie über der Ostsee. Um die Schwäche der bulgarischen und rumänischen Marine auszugleichen, könnte das Atlantikbündnis außerhalb des Schwarzen Meers stationierte Einheiten zeitweise unter bulgarischer oder rumänischer Flagge fahren lassen und damit den Vertrag von Montreux umgehen.

Ein ähnlicher Plan wurde bereits beim Nato-Gipfeltreffen in Warschau 2016 von Rumänien vorgeschlagen, aber wegen starker Bedenken Bulga­riens abgelehnt. Zudem würde Ankara ein solches Vorgehen vermutlich als Angriff auf den Geist von Montreux betrachten.

Ansonsten bleibt den Nato-Staaten nur eine Verschärfung der Sanktionen gegen Moskau. In dieser Hinsicht gehen die Interessen von US-Amerikanern und Europäern jedoch auseinander. Der Europäische Rat hat im Dezember eine nicht bindende Resolution zum Zwischenfall im Asowschen Meer angenommen, aber keine weiteren Sanktionen gegen Russland beschlossen. Gleichzeitig beschwert sich Washington immer öfter über die Gaspipeline Nord Stream 2, die unter Umgehung der Ukrai­ne noch mehr russisches Gas durch die Ostsee nach Deutschland ­leiten soll; ihr Bau hat bereits begonnen.

In einer Resolution vom 11. Dezember kritisierte das US-Repräsentantenhaus das Nord-Stream-2-Projekt und eine allzu starke Abhängigkeit Europas vom russischen Gas. Gleichzeitig bereitet die Resolution den Boden für verschärfte US-Sanktionen gegen den russischen Energiesektor. Die Trump-Administration drohte zudem bereits mit Sanktionen auch gegen europäische Firmen, die an dem Projekt beteiligt sind.

1 „Ukrainian MP suggests destroying Crimean bridge“, EurAsia Daily, 22. Mai 2018, https://eadaily.com.X.

2 „Electoral sentiment monitoring in Ukraine“, Razumkov Center, Kiew, 19. November 2018.

3 „Ukraine and Russia take their conflict to the sea“, Stratfor, 24. September 2018, worldview.stratfor.com.

4 Tim Ripley, „Russian Caspian corvettes enter Mediterranean“, Jane’s 360, 21. Juni 2018, www.janes.com.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Igor Delanoë ist promovierter Historiker und stellvertretender Leiter des französisch-russischen Beobachtungsdienstes in Moskau.

Le Monde diplomatique vom 10.01.2019, von Igor Delanoë