08.11.2018

Italiens unselige Allianz

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Italiens unselige Allianz

Mit ihrer neoliberalen Agenda hat sich die Lega weitgehend gegen den Koalitionspartner M5S durchgesetzt

von Stefano Palombarini

Tina Flau, Schwingungen, 2004, Farbtiefdruck, 8,5 x 10,5 cm
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Seit in Italien eine Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und Lega an der Regierung ist, blicken die politischen Kommentatoren im übrigen Europa mit Sorge nach Rom. Dabei kritisieren die einen vor allem die kompromisslose Migrationspolitik von Innenminister Matteo Salvini, die anderen dagegen den wirtschaftspolitischen Kurs, der die Regeln der Europäischen Union missachtet. In den Medien dominiert eine negative Etikettierung dieser Regierung – als „populistisch“ oder gar „faschistoid“ oder als „Schulterschluss der Extreme“.

Was die Position der Linken betrifft, so steckt sie in einem Dilemma. Einerseits prangert sie die autoritären und fremdenfeindlichen Auswüchse der Regierung an, andererseits hegt sie auch gewisse Sympathien für den Aufstand gegen Brüssel. Sollten nicht alle Gegner der Sparpolitik frohlocken, wenn sich ein großes Land wie Italien gegen die Direktiven der Europäischen Kommission zur Wehr setzt?

Ein Teil der Antwort ergibt sich aus der spezifischen Art und Weise des Kompromisses, den die beiden Regierungsparteien eingegangen sind: Obwohl sie sich die Macht teilen, haben sie nicht den Anspruch, gemeinsam zu regieren, weil ihre Programme wie auch ihre Wählerbasis zu verschieden sind.

Lange Zeit standen sich in Italien, wie in vielen europäischen Ländern, ein linkes und ein rechtes Lager frontal gegenüber. Im linken Lager fanden sich vor allem Beschäftigte des öffentlichen Dienstes, Intellektuelle, Arbeiter und gering qualifizierte Angestellte; im rechten Lager dagegen Klein- und Großunternehmer, Handwerker, Gewerbetreibende und Selbstständige. Seit Mitte der 1990er Jahre lösten sich diese Allianzen zunehmend auf. Der Hauptgrund war, dass im Rahmen des europäischen Projekts, das vor allem in der Mittel- und Oberschicht hohe Akzeptanz genoss, die Erwartungen der ärmsten Teile der Bevölkerung immer weniger bedient wurden.

Das linke Lager brach 2007 zusammen. Auf den Trümmern der kommunistischen Linken und der Democrazia Cristiana (DC) formierte sich der Partito Democratico (PD). 2010 kollabierte dann das rechte Lager, als es zum Bruch zwischen Silvio Berlusconi (Forza Italia) und Gianfranco Fini (Alleanza Nazionale) kam.

Im Verlauf der politischen und wirtschaftlichen Krise gewann das Projekt einer neuen Koalition „jenseits von rechts und links“ erste Konturen. Es formierte sich ein „bürgerliches Lager“ als Sammelbecken für die mittleren und oberen Schichten, wobei der gemeinsame Nenner ein bedingungsloses Ja zur EU war. Katalysator dieses Prozesses war das vertrauliche Schreiben aus Frankfurt vom 5. August 2011, mit dem die EZB-Spitze detaillierte wirtschafts- und haushaltspolitische Anweisungen nach Rom übermittelte. Dieses Diktat führte zum Fall der Regierung Berlusconi und zur Installierung einer neuen Regierung unter dem Technokraten und ehemaligen Goldman-Sachs-Banker Mario Monti.

Der bürgerliche Block konnte sich sieben Jahre lang an der Macht halten, wobei alle Regierungschefs (nach Monti kamen Enrico Letta, Matteo Renzi und Paolo Gentiloni) dem PD angehörten. Das Scheitern dieser Allianz ermöglichte den Wahlsieg der Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung.

Von 2008 bis 2017 war das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 10 Prozent geschrumpft – mit der Folge, dass große Teile der Bevölkerung verarmt und in prekäre Arbeitsverhältnisse abgerutscht sind. Dieses riesige und sozial heterogene Wählerpotenzial wurde von der Lega wie von M5S umworben.

Die sozialen Gruppen, die sich gegen den bürgerlichen Block stellen, verteilen sich auf zwei Kategorien. Zur ersten gehören die Opfer der von Brüssel verordneten Reformen, also Arbeitnehmer, Beschäftigte mit geringer Qualifikation oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen, Arbeitslose und verarmte Rentner. Diese Gruppen neigen eher zur Fünf-Sterne-Bewegung. Die andere Kategorie umfasst die Mittelschichten, also Handwerker, Gewerbetreibende, Kleinunternehmer, mittlere Angestellte und Freiberufler, die am neoliberalen Traum vom Aufstieg festhalten, obwohl sie selbst vom Abstieg bedroht sind.

Beide Parteien verdanken ihre Erfolge nicht einer schlüssigen wirtschaftspolitischen Gesamtstrategie, über die keine der beiden verfügt. ­Ihre eher „widernatürliche“ Koalition ist dennoch um Geschlossenheit bemüht, und zwar auf der Basis ständig neu ausgehandelter Kompromisse. Einzige Ausnahme ist das Thema Zuwanderung (siehe nebenstehenden Artikel).

Der Spielraum für Kompromisse zwischen den beiden Regierungspartnern liegt allerdings innerhalb der Bandbreite neoliberaler Politik, die in Italien seit den 1990er Jahren betrieben wurde. So hat die Fünf-Sterne-Bewegung ihr Wahlkampfversprechen, Renzis Jobs Act rückgängig zu machen,1 keineswegs eingelöst.

Das Bürgereinkommen sieht eher wie Hartz IV aus

Zum Beispiel wurde der „unbefristete Arbeitsvertrag mit wachsendem Schutz“ keineswegs abgeschafft. Und bei einer Kündigung „ohne berechtigten Grund“ gibt es als Abfindung nach wie vor nur zwei Monatsgehälter pro Beschäftigungsjahr und kein Recht auf Wiedereinstellung, das der Jobs Act abgeschafft hat.

Auch die Ankündigung, die prekären Beschäftigungsverhältnisse abzubauen, wurde verwässert. Zwar konnte M5S im Sommer durchsetzen, dass befristete Verträge nur noch innerhalb eines Zeitraums von zwei (bisher drei) Jahren verlängert werden dürfen, statt sie zu verstetigen. Zudem sind die Arbeitgeber wieder verpflichtet, die Befristung zu begründen. Doch all dies gilt nur bei Vertragsverlängerungen. Der italienische Gewerkschaftsbund CISL weist darauf hin, dass diese Regelung paradoxerweise für mehr prekäre Beschäftigung sorgen könnte2 : Viele Arbeitgeber werden, um die Befristung nicht begründen zu müssen, einfach neue Beschäftigte einstellen.

Ein Rolle rückwärts im Kampf gegen prekäre Beschäftigung ist auch die Wiedereinführung der sogenannten Voucher. Solche Lohngutscheine für Gelegenheitsjobs waren im Gefolge des Jobs Act stark verbreitet. Die Regierung Gentiloni schaffte dieses System im März 2017 wieder ab, um ein Aufhebungsreferendum abzuwenden. Heute erleben die Voucher dank Lega und M5S in wichtigen Wirtschaftszweigen wie Landwirtschaft und Tourismus ein Comeback.

Auch im Kampf gegen die Verlegung von Jobs ins Ausland, ein zentrales Wahlkampfthema der Fünf-Sterne-Bewegung, ist man auf halbem Weg stehen geblieben. Der Decreto Dignità schreibt vor, dass Unternehmen öffentliche Fördermittel zurückzahlen müssen, wenn sie ihre Geschäftstätigkeit innerhalb von fünf Jahren nach deren Erhalt ins Ausland verlegen (im ersten Gesetzentwurf war die Frist noch zehn Jahre). Die Klausel ist jedoch nicht ganz so kühn, wie sie aussieht, denn sie bezieht sich nur auf Investitionen in Produktionsanlagen, also nicht auf die staatliche Förderung von Forschungs- und Entwicklungsprojekten, die den Löwenanteil ausmachen.

Insgesamt ist deshalb die Kritik des Gewerkschaftsbunds CGIL berechtigt, der die „große Diskrepanz zwischen Ankündigungen und Beschlüssen“, die „Mutlosigkeit“ und „das Fehlen eines Gesamtkonzepts für die Neugestaltung des Arbeitsrechts“ bemängelt.3

Das wichtigste sozialpolitische Vorhaben von M5S, das „Bürgereinkommen“, wurde ebenfalls verändert. Zum einen quantitativ, denn statt der im Wahlkampf genannten 17 Milliarden Euro sind jetzt im Etat lediglich maximal 9 Milliarden eingeplant. Aber auch qualitativ wurde geändert, denn was ursprünglich als ein bedingungsloses Grundeinkommen präsentiert wurde, sieht in der Praxis eher nach Hartz IV aus.

Das Bürgereinkommen soll nicht nur alle bisherigen Sozialleistungen ersetzen, sondern auch den Druck auf die Arbeitslosen erhöhen: Lehnt ein Empfänger drei Jobangebote ab, geht sein Anspruch verloren. Dazu meinte M5S-Chef Luigi di Maio, man wolle ja nicht „Geld an Leute verteilen, die den ganzen Tag auf dem Sofa liegen“.4

Das Bürgereinkommen wird zwar kurzfristig die Kaufkraft der Ärmsten stärken, aber zugleich wird es Arbeitslose zwingen, schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Und mittelfristig wird der Druck auf die Löhne steigen. Dass die Regierung dem einfachen Volk misstraut, zeigt sich auch daran, dass das Geld mittels spezieller Karten auszugeben ist, um sicherzustellen, dass es nicht „für Zigaretten oder Rubbellose“ draufgeht.

Zusammen mit dem Bürgereinkommen kündigte die Regierung eine teilweise Steueramnestie an, für die sich die Lega starkgemacht hatte. Demnach könnten versteuerte Einnahmen bis zu 100 000 Euro pro Jahr (insgesamt 500 000 Euro für den Zeitraum von 2013 bis 2017) nachträglich deklariert und die fälligen Steuern zu einem (verminderten) Satz abgegolten werden.

Der am 15. Oktober verkündete Haushalt für 2019 hat zum erklärten Ziel, Nachfrage und Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Allerdings fallen die öffentlichen Investitionen (3,5 Milliarden), die dieses Ziel sehr viel wirksamer fördern könnten, im Verhältnis zu den Einkommenstransfers dürftig aus.

Das Bürgereinkommen ist im Haushalt mit 9 Milliarden Euro veranschlagt; weitere 7 Milliarden Euro kostet eine Rentenreform, die das Renteneintrittsalter für alle Arbeitnehmer mit mindestens 38 Beitragsjahren wieder von 67 auf 62 Jahre senkt.

Auch diese Reform bedeutet zwar eine materielle Unterstützung der Ärmsten, aber sie spielt gleichzeitig auch den Unternehmern in die Hände. Da der Jobs Act unangetastet bleibt, bietet die Absenkung des Rentenalters den Arbeitgebern die Möglichkeit, ältere Beschäftigte mit unbefristeten Arbeitsverträgen und höheren Löhnen, die noch durch Artikel 18 geschützt sind, durch „flexiblere“ Mitarbeiter zu ersetzen.

Des Weiteren dürfen sich die Arbeitgeber über Steuersenkungen freuen, die vorerst auf Selbstständige und kleine und mittelständische Unternehmen beschränkt sein sollen. Für später ist ein Einheitstarif für die Körperschaftsteuern geplant, was grundsätzlich die hohen Einkommen begünstigt.

Zur Finanzierung der drei Hauptvorhaben (Bürgereinkommen, Rentenreform und Steuersenkungen) hat die Regierung Privatisierungen angekündigt,5 die dem Staat 2019 – zusammen mit den Zahlungen der amnestierten Steuersünder – 8 Milliarden Euro einbringen sollen.

Eine Reduzierung der Sozialausgaben soll weitere 7 Milliarden Euro in die Kassen spülen. Das reicht jedoch nicht, um die Mehrausgaben auszugleichen. Deshalb weist der Haushalt 2019 ein Minus von 2,4 Prozent aus – das Dreifache des Defizits, das von der Vorgängerregierung zugesagt und von der EU empfohlen wurde.

Die Medien beschäftigen sich vor allem mit dieser Erhöhung des Haushaltsdefizits und basteln damit weiter am Image einer Regierung, die mit der Vergangenheit „bricht“. Dabei fallen die Kontinuitäten zur Politik des PD häufig unter den Tisch: Das für 2019 geplante Defizit liegt etwa auf dem Niveau der Vorjahre (2,5 Prozent 2016, 2,3 Prozent 2017).

Die Höhe dieses Haushaltsdefizits rührt großenteils von dem Schuldendienst in Höhe von 3,8 Prozent des BIPs. Rechnet man diesen heraus, übersteigen die Steuereinnahmen die öffentlichen Ausgaben. Dieser sogenannte Primärüberschuss liegt bei etwa 1,4 Prozent des BIPs. Einen aufgeblähten Haushalt kann man der jetzigen Regierung also nicht vorwerfen. Und im Übrigen stammt die Idee, Haushaltslöcher durch Privatisierungserlöse (von bis zu 2,9 Prozent über fünf Jahre) zu stopfen, von dem viel geschmähten Matteo Renzi.

Könnte der Streit über den italienischen Haushalt eine neue Krise innerhalb der EU auslösen? Nach den Ankündigungen der Regierung in Rom droht ein Wertverlust der italienischen Staatsanleihen die einheimischen Banken zu treffen, die auf einem Großteil dieser Papiere sitzen. Sie könnten dann gezwungen sein, sich auf einem angespannten Finanzmarkt frisches Kapital zu besorgen.

Die Auswirkungen wären für ganz Europa gravierend. Italien ist nicht Griechenland. Wenn die drittgrößte Volkswirtschaft Europas einen Rettungsschirm beanspruchen würde, wären die Folgen für die EU kaum abzusehen. Die Europäische Kommission hat am 23. Oktober den ersten Entwurf des italienischen Haushalts abgelehnt – ein bislang beispielloser Vorgang.

Ob sich die Verantwortlichen in Brüssel ihrer großen Verantwortung bewusst sind, ist angesichts der jüngsten Vergangenheit höchst fraglich.

1 Siehe Andrea Fumagalli, „Prekäre Reformen“, LMd, Juli 2016.

2 Andrea Gianni, „Decreto dignità, tagliati 6mila con­tratti“, Il Giorno, Mailand, 17. Oktober 2018.

3 Corriere della Sera, Rom, 3. Juli 2018.

4 Luigi Di Maio, Pressekonferenz in Mailand, 14. März 2018.

5 Das Privatisierungsvolumen dürfte in den Jahren 2019–2021 zwischen 10 und 15 Milliarden Euro liegen.

Aus dem Französischen von Andreas Bredenfeld

Stefano Palombarini ist Wirtschaftswissenschaftler und gemeinsam mit Bruno Amable Autor des Buchs „Von Mitterrand zu Macron – Über den Kollaps des französischen Parteiensystems“, das im November im Suhrkamp Verlag erscheint.

Le Monde diplomatique vom 08.11.2018, von Stefano Palombarini