08.11.2018

Hausgemachtes Desaster

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Hausgemachtes Desaster

Die Finanz- und Wirtschaftspolitik der venezolanischen Regierung führt in die Katastrophe. Sie hat zu sozialer Verelendung geführt und die politische Polarisierung verschärft. Eine Analyse des ehemaligen Kabinettschefs von Präsident Maduro

von Temir Porras Ponceleón

Warten auf einen der immer seltener fahrenden Busse in Caracas CARLOS GARCIA RAWLINS/reuters
Venezuela - das hausgemachte Desaster
Bröckelnde Bündnisse
Kasten: Die Erdöl-Währung

Dass Venezuela in der Amtszeit von Präsident Hugo Chávez (1999–2013) Fortschritte erzielt hat, ist kaum zu bestreiten: Die Armut nahm deutlich ab, die Wirtschaft wuchs beträchtlich. Von 1999 bis 2014 stieg das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 98 Milliarden auf 482 Milliarden US-Dollar. Das erklärt auch die Wahlerfolge des Chavismus und die Dauer seiner politischen Hegemonie.

Auf dieser Basis wurden die erstarrten Institutionen in einem partizipativen Verfassungsprozess erneuert. Wobei die Teilnahme des Volkes so weit ging, dass Brasiliens Expräsident Lula da Silva einmal meinte, in Venezuela gebe es ständig Wahlen, „und wenn es keine gibt, erfindet Chávez welche“.

Die „bolivarische Revolution“ hat auch entscheidend zu der „roten Welle“ Lateinamerikas beigetragen.1 Mit ihr kamen in den nuller Jahren progressive Kräfte durch Wahlen an die Macht, die sich in der Geschichte ihrer Länder nicht mehr mit dem Status als „Hinterhof“ der USA abfinden wollten.

Chávez starb im März 2013 im Alter von 58 Jahren. Der Machtantritt seines designierten Nachfolgers Nicolás Maduro, der die Präsidentenwahlen vom 14. April 2013 gewann, bedeutete den Beginn einer neue Epoche.

Seit 2014 erlebt Venezuela die schwerste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Die hat nicht nur soziale Verelendung hervorgebracht; sie hat auch die politische Polarisierung vertieft, bis hin zu einem Bruch zwischen Regierung und Opposition, der die 1999 geschaffenen Institutionen zerstört hat.

Das Außergewöhnliche an dieser Krise ist sowohl ihre Dauer als auch ihre Tiefe. 2018 war das fünfte Rezes­sions­jahr in Folge. Der Rückgang des BIPs lag schon für 2017 bei 11 bis 14 Prozent, 2018 könnten es 18 Prozent werden. Seit 2015 publiziert der venezolanische Staat keine makroökonomischen Daten mehr; zugleich unterstellt er Institutionen wie dem IWF und den privaten Ratingagenturen ideologisch motivierte Schwarzmalerei. Allerdings belegen die wenigen bekannt gewordenen offizielle Zahlen für 2016 einen Rückgang des BIPs um 16,5 Prozent.2 Von 2014 bis 2017 ist die Wirtschaft um mindestens 30 Prozent geschrumpft.3 Das ist ein Absturz, der sich mit der Großen Depression in den USA zwischen 1929 und 1932 vergleichen lässt.

Der Auslöser für diesen Zusammenbruch liegt auf der Hand. Im Juni 2014 kletterte der Weltmarktpreis für Erdöl – das 95 Prozent der venezolanischen Exporte ausmacht – auf Rekordniveau, um dann binnen sechs Monaten von 100 auf 50 Dollar pro Barrel und bis Januar 2016 auf 30 Dollar abzustürzen. Doch die gleichen Ursachen haben ja nicht immer die gleichen Folgen: Alles hängt von der Strategie ab, mit der man auf einen extremen äußeren Schock reagiert. Das tat die Regierung in Caracas auf eine Weise, die geradezu fassungslos macht. Und das umso mehr, als die Wirtschaft lange vor dem Absturz der Erdölpreise deutliche Zeichen von Schwäche zeigte.

Die Regierung Maduro beschloss, trotz hoher struktureller Inflation,4 am fixen offiziellen Wechselkurs zwischen dem Bolivar und dem US-Dollar festzuhalten. Die Möglichkeit einer sicheren Geldanlage zu einem Preis, der weit unter ihrem realen Wert lag, wurde in großem Maßstab ausgenutzt. Damit förderte die Regierung mit ihrer Währungspolitik die Kapitalflucht und verwandelte das Land in eine riesige Geldwaschanlage für Dollars.5

Bis 2014 flossen die Erdöleinnahmen reichlich. Zugleich stieg aber auch der Wert der (oft überteuerten) Importe immer weiter an, und zwar im Sinne jener Akkumulationsstrategie, die von der Bourgeoisie in vielen Erdölstaaten betrieben wird. Diese Strategie des rent seeking besteht darin, die Erdölreserven in Dollars zu verwandeln, mit diesen Dollars die nationale Währung, also die Kaufkraft der Bevölkerung zu steigern, also den Absatz importierter Waren im Inland zu erhöhen.

Als der Ölpreis abstürzte, beschloss die Regierung, erstens das Haushaltsdefizit durch das Gelddrucken zu finanzieren und zweitens die Importe zu reduzieren, indem der offizielle Verkauf von Dollar beschränkt wurde. Diese doppelte Maßnahme markierte den Beginn der Mangelwirtschaft6 und einer Inflationsspirale, die bald außer Kontrolle geriet: Das Anwachsen der Geldmenge bei schrumpfendem Angebot von Gütern und Dienstleistungen machte die Preisexplosion unvermeidbar.

Der Schwarzmarktkurs des Dollar stieg wie eine Rakete, zumal der Greenback auch bei den Importeuren als Fluchtwährung gefragt war. Bald bestimmte der Kurs, zu dem der dólar paralelo auf der Straße gehandelt wurde, die Festlegung der Preise für Waren und Dienstleistungen. Da die Preissteigerungen die Löhne wie die öffentlichen Budgets über Nacht auffraßen, versuchte der Staat die Kaufkraft durch die Ausgabe immer neuer Banknoten zu stützen. Zwischen 2014 und 2017 stieg die Geldmenge um 8500 Prozent. Damit waren alle Voraussetzungen für eine Hyperinflation erfüllt. Im Lauf des Jahres 2016 stieg der Preisindex um 300 Prozent; 2017 waren es bereits 2000 Prozent. Für 2018 belaufen sich die Schätzungen zwischen 4000 und 1 300 000 Prozent. Sollte sich die maximale Inflationsrate am Ende bestätigen, würde eine Ware, die am 1. Januar dieses Jahres für einen Bolivar gekauft wurde, am 31. Dezember 13 000 Bolivar kosten.

Als weiteres Problem kam hinzu, dass 2016 und 2017 große Kreditsummen zur Rückzahlung anstanden. Obwohl sich die Erdöleinnahmen im freien Fall befanden, hielt sich Maduro an die Chávez-Doktrin, alle Verpflichtungen pünktlich zu bedienen. Das galt zumindest bis Dezember 2017, als der Präsident in einer Fernsehansprache verkündete, das Land habe seit 2014 die gigantische Summe von 71,7 Mil­liar­den Dollar zurückgezahlt.

Auch in dieser Hinsicht wirft die Strategie, mit der die Regierung auf die Krise reagierte, zahlreiche Fragen auf. Die Rückzahlung der Schulden war nur möglich, indem die Aktiva der Na­tion „monetisiert“, sprich als Sicherheit eingesetzt oder gar veräußert wurden. Im Zeitraum 2014–2017 hat Venezuela auf seine Goldreserven zurückgegriffen und von seinem Sonderziehungsrecht (SZR) beim IWF Gebrauch gemacht.7 Man ging sogar so weit, direkt Kredite bei Erdölunternehmen befreundeter Länder aufzunehmen. Wobei man etwa für das Darlehen der russischen Rosneft als Sicherheit 49,9 Prozent der Aktien des Raffineriekonzerns Citgo anbieten musste, der zu den wertvollsten Aktiva des Landes gehört.

Citgo hat seinen Firmensitz in den USA, ist aber eine Tochter der nationalen Erdölgesellschaft PDVSA. Diese hat im September 2016 ihren Gläubigern eine Laufzeitverlängerung bestimmter Kredite von 2017 auf 2020 vorgeschlagen. Für diese Verlängerung um lediglich drei Jahre offerierte sie als Sicherheit die übrigen 50,1 Prozent des Citgo-Kapitals. Damit riskiert die ­PDVSA, bei Zahlungsunfähigkeit die Kontrolle über den Raffineriekonzern zu verlieren. Doch diese Teilumschuldung – der einzige Versuch in der Ära Maduro – hat vor allem spekulative Fonds angelockt, die auf die Übernahme des US-Unternehmens Citgo scharf sind.

Bleibt die Frage, warum sich Venezuela verpflichtet fühlt, seine Schulden absolut pünktlich und bis zum letzten Cent zu begleichen, obwohl seine Einnahmen seit 2014 einbrechen. Warum hat der Staat nicht versucht, mit seinen Gläubigern zu verhandeln? Auch wenn der Zugang zu den Kapitalmärkten immer schwieriger und teurer wurde, wären Verhandlungen immer noch möglich gewesen. Zum Beispiel hätte man China ansprechen können, den wichtigsten Finanzpartner überhaupt, der das Land bis heute mit frischem Geld versorgt (wenn auch nicht in der nötigen Menge).

Seltsam ist auch der Zeitpunkt, zu dem Maduro seinen Wunsch geäußert hat, die Konditionen der venezolanischen Staatsobligationen neu zu verhandeln, die vorwiegend von großen US-amerikanischen Pensionsfonds gehalten werden. Dies geschah erst, nachdem die US-Regierung im August 2017 Sanktionen gegen Caracas und die PDVSA verhängt hatte – konkret ein Verbot für US-Unternehmen, sich an der Finanzierung Venezuelas zu beteiligen. Mit anderen Worten: In Caracas hat man Umschuldungsverhandlungen erst ins Auge gefasst, als diese Option nicht mehr existierte. Im Dezember 2017 folgte dann der erste „partielle Zahlungsausfall“, als Kreditzinsen nicht oder mit großer Verspätung bezahlt wurden.

Die Inflationsbekämpfung stärkt den Schwarzmarkt

Inzwischen war allerdings die Erdölproduktion dramatisch zurückgegangen. Statt 3 Millionen Barrel pro Tag wie 2014 wurden 2018 nur noch 1,5 Millionen Barrel gefördert. Auch dies führte – ähnlich wie bei der Geldinflation – zu einer teuflischen Spirale: Die Produktion geht zurück, weil das nötige Kapital für Investitionen fehlt, damit sinken die Einnahmen des Landes, was wiederum zulasten der Investitionen in die Erdölförderung geht.

Mit dem Rücken zur Wand stehend, fällt der Regierung Maduro nicht mehr ein, als von einem „Wirtschaftskrieg“ des privaten, nationalen und internationalen Kapitals zu sprechen. Wobei kein Mensch bezweifelt, dass ihre „Gegner“ für diese Regierung weder Zuneigung noch Bewunderung hegen. Aber auf einen Sündenbock zu zeigen, um die schwierige Lage zu erklären, ist auch keine Lösung.

In seiner ersten Amtszeit hat Maduro vor lauter Eifer, die Machenschaften des „imperio“ und der „Konterrevolu­tio­näre“ anzuprangern, versäumt, eine echte makroökonomische Strategie zu entwickeln. Aufgrund der Krise konnte dann die Rechte bei den Parlamentswahlen vom Dezember 2015 eine Zweidrittelmehrheit erringen.

Anfang 2016 machte Maduro den Soziologieprofessor Luis Salas zum Wirtschaftsminister, der sich mit dem Ausspruch profilierte: „Die Inflation ist keine Realität.“ Für die Regierung war die Inflation durch künstliche Verknappung verursacht, also durch Wirtschaftssabotage. Deshalb konzentrierte sie sich ganz auf Preiskontrollen. Ein „Gesetz für gerechte Preise“ begrenzte die Gewinnspanne auf jeder Stufe der Produktions- und Distributionskette auf 30 Prozent.

Damit wurde ignoriert, dass Infla­tion durch makrosoziale Mechanismen entsteht. Und die kann man nicht oder nur schwer unter Kontrolle bringen, indem man gegen die Akteure vorgeht – solange die makroökonomischen Ursachen der Preissteigerung nicht korrigiert werden. Was nützt es, den Preis eines begehrten Produkts, etwa eines importierten Medikaments, zu regulieren, wenn sich bei einem exponentiellen Wachstum der Geldmenge ein Schwarzmarkt bildet, auf dem sich auch bei weit höheren Preisen stets ein Käufer findet?

Hat der inflationäre Prozess einmal begonnen, löst die wachsende Angst einen teuflischen Automatismus aus, weil sich jeder gegen eine antizipierte Preissteigerung wappnet, indem er die eigenen Preise erhöht. Nach dieser zerstörerischen Logik richten sich die Preise nicht mehr nach den Produk­tions­kosten, sondern nach den zu erwartenden Kosten, die nötig sind, um das gleiche Produkt in Zukunft erneut zu produzieren. Oder nach den Gewinnspannen, die alle einkalkulieren, um unter Bedingungen einer allgemeinen Hyperinflation die eigene Kaufkraft zu erhalten.

Natürlich wird diese Spekula­tions­spirale auch durch die venezolanischen Großhändler und Industriellen verstärkt, die auf Kosten der Konsumenten ihre Gewinne machen wollen. Aber es ist schlicht falsch, ihnen vorzuhalten, sie allein hätten diese Si­tua­tion herbeigeführt, die ja erst durch die absurde Steigerung der Geldmenge ermöglicht wurde

Für einen ökonomischen Kurswechsels ist Präsident Maduro offenbar grundsätzlich nicht zu haben. In einer Rede vor Landwirten hat er sich im September 2012 über Ökonomen ereifert, „die uns Lehren erteilen wollen, aber nie selbst eine Tomate gepflanzt haben“. Und versichert, niemals werde die bolivarische Revolution „die Dogmen und Rezepte dieser Makroökonomen befolgen, die vorgeben, alles zu wissen“.

Es mag ja heilsam sein, wenn politische Führer ihre Skepsis gegenüber einer Art von Ökonomismus demons­trie­ren, der auf einem technokratischen Monopol auf politische Entscheidungen besteht. Aber wenn einer über den makroökonomischen Kurs eines ganzen Landes zu entscheiden hat und dabei alle konkret praktischen Erwägungen missachtet, kann das den direkten Weg in die Katastrophe bedeuten.

Die Obsession eines ausgeglichenen Haushalts zu bekämpfen ist ja durchaus in Ordnung. Aber nicht nach vier Jahren mit einem um jeweils 20 Prozent geschrumpften BIP. Und erst recht nicht, wenn man nichts – oder das Gegenteil – von dem erreicht, was man will: einen wirtschaftlichen Aufschwung, wachsende Kaufkraft, eine Umverteilung oder gerechtere Balance zwischen Profiten und Lohneinkommen. Die Löhne erhöhen, um die Arbeiterklasse vor der Auszehrung ihrer Kaufkraft durch Inflation zu schützen, ist ein löbliches Unterfangen, aber nur, wenn man zuvor die Hydra der Inflation besiegt hat, die jedes nominale Lohnwachstum verschlingt.

Die unbekümmerte Art, mit der sich die bolivarische Regierung bei der Besetzung hoher Posten über formale Kriterien hinwegsetzt, mag ja manche Aktivisten in anderen Gefilden neidisch machen. Aber vielleicht geht es doch etwas zu weit, wenn in nicht einmal zwei Jahren zweimal der Präsident der Zentralbank ausgetauscht wird und die einzige Kontinuität darin besteht, dass auch der neue Amtsträger völlig unerfahren ist.

Maduro hat erst nach seiner Wiederwahl am 20. Mai 2018 einen Plan für Wirtschaftsreformen angekündigt, und es dauerte weitere drei Monate, bis dessen Inhalt enthüllt wurde. Der Präsident hat eine 180-Grad-Wende vollzogen und anerkannt, dass es makroökonomische Gründe für das Phänomen Inflation gibt. Dann hat er für die Zukunft eine eiserne Haushaltsdisziplin angekündigt mit dem Ziel einer „schwarzen Null“. Eine radikale Wende bedeutet auch die Abwertung des Bolivar auf ein Niveau, das sich zunächst am Schwarzmarktpreis des Dollar orientiert, den er zuvor als „kriminellen Dollar“ denunziert hatte. Der Wert des neuen bolívar soberano, der die alte Währung ersetzt, indem fünf Nullen gestrichen wurden, soll künftig die Parität zur neugeschaffenen Kryptowährung „Petro“ wahren, deren Kurs der Ölpreisentwicklung entsprechen soll (siehe Kasten).

Rettung bringt nur ein Dialog mit der Opposition

Zur Bestätigung ihrer neuen Linie hat die Regierung das Geldwechselgesetz aufgehoben. Zugleich hat sie die freie Konvertierbarkeit des bolívar soberano angekündigt, obwohl dieser Vorsatz wegen der dürftigen Devisenreserven nicht umsetzbar ist. Privatpersonen und Unternehmen dürfen jetzt ihre Devisen tauschen, müssen sich jedoch an den von der Zentralbank festgelegten Wechselkurs halten. Damit entsteht de facto ein neuer Schwarzmarkt, auf dem der Dollar zu höheren Kursen getauscht wird.

Der reale monatliche Mindestlohn, der in vier Jahren von 300 auf 1 Dollar zusammengeschmolzen war, wurde um 3000 Prozent auf rund 30 Dollar erhöht. Die Regierung hat außerdem angekündigt, dass die Löhne an den Kurs des Petro gekoppelt werden. Damit hofft man die Kaufkraft zu erhalten. Doch noch ehe die Modalitäten dieser Indexierung festgelegt sind, haben die Löhne nur zwei Monate nach der Erhöhung schon wieder 50 Prozent ihres Werts eingebüßt.

Um die befürchteten massiven Preiserhöhungen zu dämpfen, hat sich die Regierung verpflichtet, für drei Monate die Kosten für die Lohnerhöhungen im Privatsektor zu übernehmen. Doch diese seltsame Maßnahme wird den nächsten Infla­tions­schub nur hinauszögern. Damit die Lohnempfänger vom Tag der Ankündigung bis zum ersten Zahltag über die Runden kommen, gab es einen Bonus von 10 Dollar, der an jeden Besitzer der „Karte des Vaterlands“ ausgezahlt wurde. Wer über diesen ­elektronischen Ausweis verfügt, der an eine vom Präsidentenbüro kontrollierte Datenbank angeschlossen ist, kann an den wichtigsten Sozialprogrammen der Regierung, wie dem Lebensmittelkorb zu niedrigen Preisen, partizipieren.

Was die Staatseinnahmen betrifft, so hat die Regierung die Mehrwertsteuer um vier Prozentpunkte erhöht und zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Körperschaftsteuer effizienter einzuziehen. Die werden allerdings kaum ausreichen, falls die Wirtschaft nicht wieder wächst. Und natürlich steht das höchst kostspielige Lohnprogramm im krassen Gegensatz zum erklärten Ziel des Nulldefizits. Mitte September 2018, nicht mal einen Monat nach den Ankündigungen Maduros, wuchs die Geldmenge immer noch um 28 Prozent – pro Woche.

Ob die angekündigten Maßnahmen schlüssig und wirksam sind, bleibt abzuwarten. Doch die zentrale Frage ist, ob ein Wirtschaftsprogramm, wie immer es aussieht, für sich schon ausreicht, um Venezuela wieder auf die Beine zu bringen. Wie soll ein Land, das in fünf Jahren mehr als die Hälfte seiner Erdölproduktion und mehr als ein Drittel seines BIPs verloren hat, die Wende schaffen können? Zumal, wenn ihm auch noch aufgrund der Sanktionen der Zugang zu den internationalen Finanzmärkten versperrt ist? Lassen sich die Investoren beruhigen, indem man die Rückkehr zum Dogma des ausgeglichenen Haushalts erklärt, zugleich aber das Parlament aufgelöst wird, was natürlich die Zweifel an der Legalität des Haushalts und an den von der Exekutive gewährten Konzessionen und Verträgen nährt?

Viele Oppositionsführer leben heute im frei gewählten oder erzwungenen Exil. Sie können also nur noch auf internationaler Ebene agieren. Dabei setzten sie offenbar nur noch auf zwei Strategien: weitere Sanktionen oder eine militärische Intervention. Sanktionen würden nur den politischen Status quo zementieren – bei verschärfter Mangelwirtschaft. Und eine Interven­tion wäre die absolute Katastrophe.

Natürlich ist es unabweisbar, dass die Wirtschaftspolitik Venezuelas auf den Weg der Rationalität zurückkehren muss. Doch die Krise wird weitergehen, wenn nicht zugleich die politischen Kontroversen beigelegt werden. Kein von den derzeitigen Machthabern unterbreiteter Plan – und wäre er noch so schlüssig – wird zur Aufhebung der Sanktionen oder zur Wiederherstellung der Rechtsordnung führen.

Ein Dialog zwischen Regierung und Opposition mit dem Ziel einer friedlichen Koexistenz wäre der einfachste – und der praktikabelste – Weg, um das Land vor dem Untergang zu bewahren. Anstatt die Spannungen weiter zu schüren, sollte die internationale Gemeinschaft alle Anstrengungen in diese Richtung lenken.

1 Siehe William I. Robinson, „Rosarotes Südamerika“, LMd, November 2011.

2 Diese Zahl wurde indirekt veröffentlicht, als die venezolanische Regierung im Dezember 2017 für die US-amerikanische Börsenaufsichtsbehörde (SEC) das Formular „18K“ ausfüllte, um Bonds auf dem US-Markt platzieren zu können.

3 Anabella Abadi, „4 años de recesión económica en cifras“, Prodavinci, 28. Dezember 2017, prodavinci.com.

4 Schon zu „normalen“ Zeiten war das Inflationsniveau zweistellig, eine Folge der fatalen Tendenz, das Wirtschaftswachstum eher zur Steigerung der Importe statt zur Entwicklung der eigenen Produktion zu nutzen.

5 Siehe Renaud Lambert, „So viel Öl und nichts zu essen“, LMd, Januar 2017.

6 Siehe Anne Vigna, „Einkaufen in Caracas“, LMd, Dezember 2013.

7 Das Sonderziehungsrecht ist ein internationales Zahlungsmittel, das der IWF 1969 zur Aufstockung der bestehenden Reserveguthaben seiner Mitglieder eingeführt hat. Siehe www.imf.org.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Temir Porras Ponceleón ist Gastprofessor an der Pariser Sciences Po. Er war außenpolitischer Berater von Hugo Chávez und bis zu seiner Entlassung Kabinettschef sowie stellvertretender Außenminister in der Regierung Maduro.

Bröckelnde Bündnisse

Mit der lateinamerikanischen „roten Welle“, die vor 20 Jahren mit Hugo Chávez’ Wahlsieg in Venezuela begann, waren viele Hoffnungen verknüpft – auch die, im Süden des Kontinents gegen die Dominanz des Nordens eigene Institutionen zu etablieren.

Damals verlor die vor 70 Jahren gegründete Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) an Einfluss, die ihren Hauptsitz in Washington hat und von jeher unter dem Verdacht stand, eher ein Instrument der USA zu sein. Stattdessen wurden regionale Bündnisse und Zusammenschlüsse gestärkt beziehungsweise neu geschaffen. Seit in den wichtigen Vorreiterstaaten Brasilien und Argentinien wieder rechte Regierungen am Ruder sind, haben sich in den Organisationen neue Mehrheiten ergeben – und für eine politische und wirtschaftliche Spaltung gesorgt. Ein Streitpunkt, an dem sich der Dissens kristallisiert, ist der Umgang mit der ­bolivarischen Regierung von Venezuela.

Der 2008 gegründeten Union Südamerikanischer Nationen (Unasur) gehörten bis Anfang 2018 alle zwölf südamerikanischen Staaten an. Argentinien, Brasilien, Chile, Paraguay und Peru erklärten im April ihren Rückzug aus dem Integra­tions­bündnis, nachdem Bolivien unter der linken Morales-Regierung turnusmäßig den Vorsitz übernommen hatte. Die neue Rechtsregierung Kolumbiens trat Ende August aus mit der Begründung, die Unasur sei ein „Komplize der Diktatur in Venezuela“. Die verbliebenen Staaten Bolivien, Ecuador, Guayana, Surinam, Uruguay und Venezuela haben wenig politisches und ökonomisches Gewicht. Ecuador strebt deshalb eine Neuausrichtung der Unasur auf der Basis eines ideologiefreien Minimalkonsenses an. Doch die Mitgliedschaft Venezuelas schließt eine solche Annäherung derzeit aus.

Der Gemeinsame Markt des Südens (Mercosur), 1991 von Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay gegründet (Vorbild war der Europäische Gemeinsame Markt), hatte große Pläne: Unter der Federführung von Brasiliens Präsident Lula da Silva wurde der Mercosur zu einem wichtigen internationalen Verhandlungspartner, auch für die EU. Venezuela wurde 2012 Mitglied; 2016 wurde das Land von Argentinien, Brasilien und Paraguay aufgefordert, die Menschenrechtslage zu verbessern, und schließlich am Jahresende aus dem Mercosur ausgeschlossen. Uruguay hat diese Entscheidung nicht mitgetragen. Damit liegt die Integration der Großregion erst einmal auf Eis.

Die Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerika (ALBA), bestehend aus Kuba, Nicaragua und Venezuela sowie kleineren karibischen Staaten, ist ein Kooperationsbündnis, das nach außen kaum Einfluss besitzt.

Mit der Schwächung all dieser Bündnisse ist die OAS wieder erstarkt. Ihr derzeitiger Vorsitzender Luis Almagro, der ehemalige Außenminister Uru­guays unter Pepe Mujica, hat sich auf die Seite der Kritiker des Maduro-Regimes gestellt, woraufhin sich Mujica von seinem einstigen Weggefährten lossagte. Almagro unterstützt auch die Forderungen der Lima-Gruppe (Argentinien, Brasilien. Chile, Costa Rica, Guatemala, Honduras, Kanada, Kolumbien, Mexiko, Panama, Paraguay und Peru), die einen Regimewechsel in Caracas erzwingen will – sogar eine militärische Intervention wurde ernsthaft erwogen.

⇥Katharina Döbler

Die Erdölwährung

Der Petro ist eine 2017 vom venezolanischen Staat eingeführte Kryptowährung. Ihre Stabilität soll durch den Gegenwert von 5 Milliarden Barrel Erdöl aus dem größten Ölfeld der Welt im Orinocogürtel garantiert sein. Wer einen Petro kauft, erwirbt damit theoretisch die Rechte auf ein Barrel Erdöl aus dieser Lagerstätte.

Dabei gibt es allerdings zwei Probleme. Wenn man die Wortschöpfung Kryptowährung, die in den letzten Jahren aufgekommen ist, einmal beiseitelässt, hat der Petro verdächtige Ähnlichkeit mit der Ausgabe ganz normaler Staatsanleihen. Nach dem Gesetz aber muss jede neue Emission solcher Bonds von der Nationalversammlung bestätigt werden – und die liegt, seit sie von der Opposition kontrolliert wird, im offenen Streit mit der Regierung Maduro.

Zudem geht die Erdölproduktion ständig zurück, und ein Aufschwung ist nicht in Sicht. Der Wert des Erdöls lässt sich überdies kaum schätzen, denn es befindet sich noch im Boden; die Förderung würde gewaltige Investitionen erfordern, die sich Caracas derzeit nicht leisten kann. Im Ölfeld „Ayacucho 1“, das als Garant für den Petro dient, wurde bisher noch kein einziges Barrel gefördert. ⇥T. P. P.

Le Monde diplomatique vom 08.11.2018, von Temir Porras Ponceleón