12.07.2018

Fußballträume

zurück

Fußballträume

Afrikas Spieler in Zeiten des Neokolonialismus

von David Garcia

Nachwuchsförderung in einem Slum in Lagos, Nigeria TON KOENE/akg/horizons
Fußballträume
Kasten: Proletarier des runden Leders

Abidjan, Elfenbeinküste, im Stadtteil Koumassi; ein Schulhof, der in den Fe­rien als Trainingsplatz dient. Auch an diesem heißen Morgen kämpfen die Schüler der „Akademie“ von Metro Star um den Ball. Aristide ist Mitbegründer der Fußballschule, einer von Hunderten, die es in der Wirtschaftshauptstadt des westafrikanischen Staates gibt. Er betreut die Jugendteams.

Der Exprofi, der wie alle in der Akademie nicht mit vollem Namen genannt werden will, stellt uns seinen besten Spieler vor. Ein Neunjähriger in rotem Trikot, der selbstbewusst erklärt: „Ich möchte in Europa spielen.“ Wir fragen, ob ihm die Gefahren eines solchen Abenteuers bewusst sind. Der aufgehende Stern von Metro Star nickt.

Vereinbarte Gehälter werden nicht bezahlt, zugesagte Handgelder vergessen. Bei Verletzungen kommt der Verein nicht für die Krankenhausrechnungen auf. So sieht für Fußballspieler in Afrika der Alltag aus. Häufig haben sie keinen Vertrag, und die Arbeitsbedingungen sind lausig.

Welcher Kontrast zu den wenigen Privilegierten, die ihr Talent in den europäischen Ligen versilbern: Yaya Touré, der frühere Kapitän der ivorischen Nationalmannschaft, verdient bei Manchester City fast eine Million Euro im Monat,1 der brasilianische Star Neymar bei Paris Saint-Germain mehr als drei Millionen Euro.2 Die beiden gehören zu der Weltelite, die mehr als 720 000 Dollar im Jahr verdient.

Nach einer Umfrage der Fédéra­tion Internationale des Associations de Footballeurs Professionnels (FIFPro) aus dem Jahr 2016 bei ihren damals 54 nationalen Verbänden macht diese Elite 2 Prozent aller Profifußballer aus. Die meisten von ihnen spielen in Europa, den Golfstaaten oder in China. Ganz unten in dieser Einkom­mens­tabelle stehen Spieler, die weniger als 300 Dollar beziehen. Von dieser Gruppe, die 21 Prozent der Profis ausmacht, spielen viele bei afrikanischen Klubs, die die niedrigsten Gehälter zahlen.

Nach derselben Umfrage berichteten 41 Prozent aller befragten Spieler von verzögerten Zahlungen in den beiden vorangegangenen Spielzeiten. Für Afrika lag diese Quote bei 55 Prozent. Für die Spieler ist dieser Kontinent bei weitem der unsicherste: 15 Prozent von ihnen haben keinen Vertrag; in Europa sind es 3 Prozent.

Die Berichte von Aristide und seinen Freunden aus Koumassi (siehe Kasten auf Seite 11) illustrieren den Kon­trast zwischen dem Traum vom Reichtum, den Millionen junge Afrikaner hegen, und der Härte der Arbeitsteilung auf dem Fußballplaneten.

Auch der 27-jährige Justin hofft, trotz einer ganzen Reihe übler Erfahrungen in mehreren Klubs, weiter professionell Fußball spielen zu können. 2007 unterschrieb der damals 17-Jährige seinen ersten Vertrag. Sein Monatsgehalt von 76 Euro lag dabei unter dem

ivorischen Mindestlohn (91,59 Euro). Das im Vertrag vorgesehene Handgeld von 229 Euro bekam er nie zu sehen. Die Präsidentin appellierte an die Gefühle ihrer Spieler, erzählt Justin: „ ‚Ich bin eure Mama, und eure Mama hat kein Geld‘, jammerte sie – und wir haben uns reinlegen lassen.“

Nachdem er im Januar 2008 beim Probetraining eines tunesischen Klubs durchgefallen war, versuchte Justin sein Glück in der 2. Ivorischen Liga. Das war der Abstieg in die Hölle. „Ich bekam etwas mehr als 15 Euro im Monat, sogar Hilfsarbeiter hatten 5 Euro am Tag.“ Um die Spieler für den Kampf um den Aufstieg in die 1. Liga zu motivieren, winkte die Klubleitung mit einer 30-Euro-Siegprämie. Als die Mannschaft zwei Monate sieglos blieb, verzögerte sich die Auszahlung der Löhne. Auch die Wohnbedingungen glichen denen in den übelsten illegalen Klitschen. Alle Spieler schliefen in einem Raum, auf dem nackten Boden, mit ihren Rucksäcken als Kopfkissen.

Zehn Jahre später haben sich die Bedingungen in der Elfenbeinküste kaum geändert. Auf ihre Art geben das auch die Klubpatriarchen zu. Bernard Adou ist Präsident des Erstligaklubs ASI aus Abengourou im Osten des Landes. Er fordert die betrogenen Spieler väterlich auf, beide Augen zuzudrücken: „Auch unter schlechten Bedingungen, und wenn die Gehälter nicht gezahlt werden, müssen die Spieler spielen. Ein unbezahltes Gehalt lässt sich wiedergutmachen, ein verlorenes Match nicht.“ Aber leider klappt die „Wiedergutmachung“ bei unbezahlten Gehältern und Prämien nicht immer.

In der Saison 2008/09 beschlossen Justin und seine Mitspieler, das Training zu boykottieren. In einem Schrei­ben an die Vereinsleitung verlangten sie Matratzen und Ventilatoren. Die bekamen sie, aber die Mannschaft war vom Pech verfolgt. Ein Spieler bekam Malaria, ein 21-jähriger Verteidiger starb im Krankenhaus, nachdem er im Training mit einem Mitspieler zusammengekracht war. Für Justin und vier seiner Kollegen war das Maß voll. Sie verließen den Klub mitten in der Saison. Lieber arbeitslos als diese Ausbeutung.

Auch Samuel hat mit 21 Jahren schon alle Martern der Profiexistenz durchlebt. In der 1. Liga spielend erlitt er im Dezember 2016 eine schwere Verletzung. „Der Kunstrasen im Champroux-Stadion in Abidjan, wo die meisten Ligaspiele ausgetragen werden, ist ramponiert und gefährlich. Da verletzten sich viele Spieler.“ Der Präsident des Klubs sagte, er werde die Operation bezahlen, sobald er die Transfersumme für einen anderen Spieler erhalten habe. Sechs Monate später war die Rechnung immer noch nicht bezahlt. Schließlich übernahm die Ivorische Fußballföderation FIF die Behandlungskosten.

Samuel wurde an einen anderen Erstligisten weitergereicht, verletzte sich aber im Februar 2018 erneut. Der Klubpräsident forderte ihn auf, dennoch drei Tage später aufzulaufen. Samuel weigerte sich, daraufhin wurde die Zahlung seines Gehalts ausgesetzt. „Seit mehr als einem Monat bekomme ich kein Geld, die ivorischen Klubpräsidenten sind alle gleich!“

Samuel ist nicht der Einzige, der so behandelt wird. „Drei Monate ohne Gage in der 1. Liga, das ist üblich“, meint Aristide. „Manchmal ist schon die Auszahlung des Grundgehalts an einen oder mehrere Siege gekoppelt.“ Nach Angaben der Ivorischen Spielervereinigung AFI liegen die höchsten Gehälter zwischen 450 und 600 Euro. Im Durchschnitt verdienten die lokalen Fußballer zwischen 230 und 300 Euro, das ist das Dreifache des Mindestlohns in einem Land, das seit 2015 ein Wirtschaftswachstum von jährlich 8 Prozent aufweist.

„Wie soll ein Fußballer am Ende seiner naturgemäß kurzen Laufbahn von seinen Ersparnissen leben und sich ein Haus kaufen?“, fragt AFI-Präsident Cyrille Domoraud. Der Exprofi empfängt uns in seinem Verbandsbüro in Cocody, einem besseren Viertel im Norden von Abidjan.

Domoraud war Kapitän der ivorischen Nationalmannschaft und hat einmal für Erstligaklubs in Italien, Frankreich und Spanien gespielt. Auch die anderen Gründungsmitglieder der AFI haben in Europa Karriere gemacht. Didier Drogba, die Ikone des ivorischen Fußballs, gewann 2012 mit dem englischen Klub Chelsea die Champions League. Sein Landsmann Kolo Touré hat in England bei Spitzenklubs wie Arsenal London, Manchester City und Liverpool gespielt.

Aus Angst vor Repressalien rufen nur wenige Spieler die vorgesehene Schiedskommission an, um ihre Rechte geltend zu machen. Der Vizepräsident der FIF und Präsident der Fußballprofiliga, Sory Diabaté, weist jede Verantwortung der Vereinsbosse von sich: „Einige junge Spieler beklagen sich, sie würden nicht bezahlt, aber sie haben nicht mal eine Kopie ihres Vertrags. Und ohne Vertrag kann man nicht urteilen.“ Während er in seinem Büro unsere Fragen beantwortet, filmt ein Angestellter das Interview. Ein anderer hört aufmerksam zu.

Fußballgewerkschaftler Domoraud hält dem Argument des FIF-Funktionärs Diabaté entgegen: „Diese Kommission ist weder unabhängig noch paritätisch, wie es die FIFPro empfiehlt.“ Denn in ihr seien die Spieler der Vereinigung AFI nicht vertreten. Das lässt auf ein Ungleichgewicht zugunsten der Arbeitgeber schließen. Hinzu kommt, dass die Klubpräsidenten auch die Mitglieder des FIF-Exekutivkomitees wählen. Und das Überleben der Profivereine hängt von der Finanzierung durch die FIF ab.

Kicken zum Mindestlohn

In der Elfenbeinküste erhält jeder Klub derzeit 114 000 Euro pro Jahr. Gegen diese Verteilung nach dem Gießkannenprinzip gibt es Widerstand. Benoît You, Manager des Klubs Asec Mimosas, behauptet, das System würde die dynamischen und leistungsstarken Klubs demotivieren. Sein Verein plädiert für Subventionen, die aus einem festen, für alle gleichen Anteil und einem variablen Anteil besteht, der sich nach der Mitgliederstärke des Klubs richtet. Eine Mehrheit der Funktionäre und der FIF selbst lehnen diese Veränderung ab.

Was den ivorischen Fußball jedoch vor allem plagt, ist die chronische Unfähigkeit, Einnahmen zu erzielen. In der 1. Liga liegt die durchschnittliche Besucherzahl bei 1000. Nur eine Begegnung mobilisiert die Massen: das Abidjaner Lokalderby Asec Mimosas gegen Africa Sports. Die historischen Rivalen sind die besten Mannschaften des Landes. Zu ihrem letzten Derby kamen 5000 Zuschauer. Die mageren Einnahmen von 750 Euro wurden zu gleichen Teilen zwischen beiden Vereinen geteilt. Sponsoren gibt es kaum, weil die Werbewirksamkeit eines Logos auf den Spielertrikos zu begrenzt ist.

Seit 2016 zahlt der TV-Sender Canal+ der FIF jährlich 2,3 Millionen Euro für die Übertragung der Spiele der 1. Liga. Die FIF wollte sich zu der Summe nicht äußern, aber sie wurde uns von mehreren Klubpräsidenten bestätigt. Verglichen mit den 1,1 Milliarden Euro, die die französische Profiliga ab 2020 pro Spielzeit für die Übertragungsrechte bekommen soll, sind die 2,3 Mil­lio­nen eine lächerliche Summe. Doch FIF-Vize Diabaté macht geltend: „Dank dem Vertrag mit Canal+ konnte die FIF die Subventionen für die Klubs um 25 Prozent erhöhen.“ Aber ob das reicht?

Nehmen wir den Stella Club, einen Kultverein aus dem armen Stadtviertel Adjamé im Norden von Abidjan. „Uns fehlen jedes Jahr etwas mehr als 90 000 Euro, um unsere Ausgaben zu decken“, erklärt uns der Präsident des Klubs, Salif Bitogo. Er ist Generaldirektor der Togoer und Beniner Zweigs der Unternehmensgruppe Snedai, die in beiden Staaten die Lizenz für die Herstellung von Pässen und biometrischen Visa hat. „Wir zahlen aus unseren eigenen Taschen. Seit mehr als zehn Jahren schieße ich Geld zu“, lacht der Klubpräsident, der selbst einmal Stella-Spieler war und seit 18 Jahren das Schicksal seines Vereins bestimmt.

Der Zuschuss der FIF deckt gerade ein Viertel des Jahresbudgets. Nach dem Abstieg des Vereins in die 2. Liga hat sich der Sponsor Orange zurückgezogen. Einen neuen gibt es bisher nicht. Einen unfreiwilligen Kredit bezieht der Klub auch von den eigenen Spielern, erklärt Bitogo: „Ich bezahle sie mindestens anderthalb Monate zu spät. Erst mal muss ich selbst Geld auftreiben. Die FIF zahlt den Zuschuss in mehreren Raten und meistens zu spät.“

Bitogo verweist auch auf seine Unternehmererfahrung, die für Seriosität und Professionalität des Klubs stehen. Seiner Meinung sind es schwächer legitimierte und eigennützigere Funk­tio­näre, die den ivorischen Fußball zugrunde richten. „Wenn es eine strengere Finanzaufsicht über die Klubs gäbe – wie in Frankreich –, würde mehr als die Hälfte der Klubs in die 2. Liga versetzt.“

Abdoulaye Diabaté, ein einflussreicher Spielerberater, bestätigt diese Diagnose. „Einige Klubs leben ausschließlich von Subventionen. Sie haben keine Ahnung, wie sie sich entwickeln können. Ihre Funktionäre sind keine Unternehmer.“ Diabaté ist auch Generalmanager des Klubs ASI Abengourou. Ist die Machtübernahme durch solche Unternehmertypen tatsächlich ein Rezept gegen die „Unterentwicklung“ des ivorischen Fußballs?

ASI-Präsident Bernard Adou scheint dem erwünschten Profil zu entsprechen. Er leitet die ivorische Filiale des französischen Unternehmens GEA, das Mautstellen installiert. Er empfängt uns im Salon seiner luxuriösen Villa in Abidjan. Adou hat den Verein 2014 übernommen. Damals erbte er eine Mannschaft, deren Spieler erbärmliche Gehälter bezogen: 90 Euro, wie der Mindestlohn. Er erhöhte die Gehälter und schuf eine konkurrenzfähige Mannschaft. Sportliche Erfolge folgten. „In diesem Jahr werden die Gehälter regelmäßig bezahlt – immer öfter“, versichert Diabaté mit leichter Ironie.

Adou hat noch andere Ambitionen, jenseits der sportlichen Entwicklung seines Klubs. Im Dezember 2016 wurde er zum Abgeordneten des Wahlkreises Abengourou gewählt. „Der Klub hat mit 30 oder 40 Prozent zu meiner Wahl beigetragen“, schätzt der ASI-Boss: „Leute, die mich nicht kannten, haben mich im Fernsehen gesehen.“

Im März hat Adou seine Kandidatur für den Vorsitz des Regionalrats der Region Indénié-Djuablin angekündigt, deren Hauptstadt Abengourou ist. „In Afrika können nur Politiker Fußballklubs leiten“, behauptet Adou. „Sollte ich morgen Präsident des Regionalrats werde, würde ich Geld für den Klub aufbringen. Ein Geschäftsmann investiert nicht in einen Klub, der ihm nichts einbringt.“

In der Elfenbeinküste haben die engen Beziehungen zwischen Politik und Fußball Tradition. In den 1980er Jahren herrschte im ivorischen Fußball ein Mann namens Simplice Zinsou, Schwiegersohn des Staatschefs und Vaters der Unabhängigkeit, Félix Hou­phouët-­Boigny. Als Präsident des Abidjaner Klubs Africa Sports kannte Zin­sou keine Finanzprobleme, erzählt der heutige Präsident Alexis Vagba mit Wehmut: „Zinsou hat überall Geld aufgetrieben. Der Klub konnte Spieler zurückhalten, die es ins Ausland zog.“

Zinsou holte damals sogar Talente aus anderen afrikanischen Ländern. Aber nach den guten Zeiten ging es mit Africa Sports irgendwann wieder abwärts, erzählt Vagba: „Zinsou hat den Klub nicht dauerhaft stabilisiert. Africa hatte nie eigenes Vermögen und nicht mal ein eigenes Trainingsgelände!“ Der zweitgrößte Klub der Elfenbeinküste hat den Rasenplatz, auf dem seine Spieler trainieren, nur gemietet. Ein festes Ausbildungszentrum gibt es nicht. Die jungen Spieler werden morgens von einem Bus abgeholt und abends wieder nach Hause gefahren.

Die meisten ivorischen Klubs haben keine Vereinszentrale. Die Arbeitsbesprechungen ihrer Funktionäre finden zu Hause oder in Hotelbars statt. „Professionelle Strukturen und Organisationsformen sind in Subsahara-Afrika nicht entwickelt“, resümiert Sté­phane Burchkalter, der Generalsekretär der Afrika-Sektion der FIFPro.

Die große Ausnahme ist der größte ivorische Klub. Asec Mimosas gilt als der einzige wirklich professionelle Fußballverein. Wie Africa Sports wurde auch Asec von höchster Stelle unterstützt. Georges Ouegnin, der Bruder des heutigen Vereinspräsidenten, war die rechte Hand von Präsident Houphouët-Boigny, der das Land 33 Jahre lang als Einparteienregime regierte. Für Africa-Präsident Vagba ein Beleg dafür, „dass es im ivorischen Fußball immer politische Seilschaften gibt. Ohne diese Verbindungen kann sich ein Klub nicht entwickeln.“

Im Unterschied zu Zinsou hat Oueg­nin seinem Klub, dem er seit 1989 vorsteht, die Gelder für eine langfristige Entwicklung beschafft. Heute ist Asec einer der am besten strukturierten Klubs im südlichen Afrika. Diesem Ruf wird auch das Vereinszentrum von Sol Béni gerecht: Auf dem zehn Hekt­ar großen Gelände finden sich zwei Trainingsfelder, ein Ausbildungsinternat, ein Verwaltungstrakt, ein eigenes Gebäude für die Medien und sogar ein Hotel mit Schwimmbad.

Der Franzose Benoît You ist Trainer des U15-Jugendteams, zugleich für die Medienarbeit zuständig und auch noch Generaldirektor des gesamten Klubs. You führt uns über ein Gelände, das im ganzen Land seinesgleichen sucht. In einem Unterrichtsraum der Vereinsschule sitzen ein Dutzend Schüler zwischen 13 und 17 und lauschen einem Vortrag über Gesundheitszentren und Selbstmedikation. „Wie viele wart ihr in deiner Klasse, bevor du zur Akademie gekommen bist?“, fragt You einen Schüler. Die Antwort lautet: 45, bei einem anderen waren es 70.

Zwei der Schüler fliegen tags darauf nach Frankreich und Belgien, wo sie an Jugendturnieren teilnehmen werden. Die beste Fußballschule des Landes bildet 45 künftige Profispieler zwischen 12 und 18 aus. Die handverlesenen Jungen kommen zumeist aus den Armenvierteln Abidjans. Das komplette Jahresbudget von 300 000 Euro finanziert der Hauptsponsor, der agroindustrielle Konzern Sifca, mit 30 000 Beschäftigten der größte Arbeitgeber der Elfenbeinküste.

Asec zahlt seinen Spielern zwischen 500 und 800 Euro pro Monat. Eine lächerliche Summe im Vergleich zu dem, was sie in Europa, Asien, Nordafrika oder Südafrika verdienen könnten, aber das Dreifache dessen, was die anderen ivorischen Klubs bieten. Die Einnahmen kommen zum Teil aus der Werbung, aber zur Hälfte aus Spielertransfers zu anderen ivorischen oder ausländischen Vereinen. „Weil wir nicht genug Geld haben, um unsere Talente zu halten, müssen wir verkaufen“, erklärt You bedauernd. „Der Klub nimmt ein bisschen Geld ein, aber darunter leidet unsere spielerische Klasse.“

Vor zwanzig Jahren war die noch unübersehbar. In der Direktionsetage dokumentiert eine Fotogalerie das glorreiche Jahrzehnt von Asec Mimosas. In den 1990er Jahren spielten hier die besten ivorischen Fußballer. Sie waren auch das Rückgrat der Nationalmannschaft, die sich dreimal für die Weltmeisterschaft qualifizierte (2006, 2010, 2014) und 2015 den Africa Cup of Nations (ACN) gewann.

Einer dieser Spieler war Bakari Koné. Der frühere Stürmer von Olympique Marseille ist in dem Abidjaner Arbeiterviertel Williamsville aufgewachsen. 1994 wurde er von den Scouts der Asec entdeckt und als 13-Jähriger in den ersten Jahrgang der Akademie aufgenommen. „Mit 17 war mein Traum, Karriere zu machen, um meiner Familie zu helfen. Das haben alle Schüler dort gehofft“, sagt „Baki“ heute. Nach vier Spielzeiten bei Asec spielte er ein Jahr in Katar, Auftakt für seine Karriere in der französischen ­Liga.

2016 kehrte er zu Asec zurück; heute ist er Verwaltungsleiter. Er erzählt gern von jenem goldenen Zeitalter, als die Fans von Asec und Africa vor dem Houphouët-Boigny-Stadion in Abidjan schliefen, um am nächsten Tag eine Karte für das Derby zu bekommen.

Die Zeiten sind lange vorbei. Die Banalisierung des Fußballs durch das Fernsehen hat das Verhältnis der Fans zu ihrer Mannschaft verändert. „Die Asec-Fans verhalten sich wie Konsumenten“, erklärt You. „Sie vergleichen die Produkte: Im Fernsehen die europäische Champions League mit ihren internationalen Stars; hier im Sta­dion Asec gegen Bassam, ein mittelmäßiges Match auf schlechtem Rasen bei 40 Grad Hitze. Da fällt die Entscheidung leicht.“

Spieler, gehandelt wie Erze oder Erdöl

Die Erste Ivorische Liga wurde 1960 gegründet, drei Jahre nach dem ersten Afrika-Cup der Nationalmannschaften. Es folgten Jahrzehnte eines allmählicher Aufschwungs, dem der Europäische Gerichtshof mit dem Bosman-Urteil einen schweren Schlag versetzte. Der EuGH verbot im Namen der Berufsfreiheit, dass die Profiklubs die Zahl ihrer EU-Ausländer begrenzen dürfen. Diese „Liberalisierung“ wurde mit dem am 23. Juni 2000 unterzeichneten Cotonou-Abkommen auf afrikanische Spieler ausgeweitet. Seitdem lockt das europäische Eldorado die Spieler des schwarzen Kontinents in Massen: Sie emigrieren, sobald sie das von der Fifa vorgeschriebene Mindestalter von 18 Jahren erreicht haben.

„Die Ausweitung des Bosman-Urteils hat Afrika verändert“, stellt Diabaté fest. „Unsere jungen Spieler identifizieren sich mit denen, die Millionen Euro kassieren. Sie wollen weg, immer früher.“ Und um jeden Preis.3

Die Besten nehmen oft eine zweite Staatsbürgerschaft an, um auch in einer europäischen Nationalmannschaft spielen zu können. Bei der EM 2016 spielten 40 Fußballer mit afrikanischen Wurzeln in einer europäischen Mannschaft.4

„Die europäischen Klubs kaufen billig afrikanische Spieler im Alter von 18, 19 oder 20 Jahren und erzielen beim Weiterverkauf einen hohen Mehrwert“, erzählt Asec-Jugendtrainer Benoît You. Dabei weigern sie sich oft, die Ausbildungsentschädigung an den Her­kunfts­klub zu zahlen.

„Man kann die Kolonialherrschaft nicht für alle Übel verantwortlich machen, aber ihr Einfluss auf die Handelsbedingungen ist kaum zu leugnen“, sagt Jérôme Champagne, der von 2007 bis 2010 bei der Fifa für internationale Beziehungen verantwortlich war.5 „Die Fußballer werden wie Erze und Erdöl aus ihrem Herkunftsland geholt, ausgebeutet und von den reichen Nationen, vor allem den Europäern, verwertet.“

Alexis Vagba, der Präsident von Africa Sports, ist kurz davor, das Handtuch zu werfen. Bei einem Treffen vertraut uns Vagba mit leiser Stimme ein Geheimnis an: „Der Klub hat nicht das Geld, um voranzukommen. Ich renne ständig rum und versuche es so zu machen wie Asec. Jetzt sind wir dabei, Africa an einen belgischen Investor zu verkaufen.“ Der Interessent verhandelt gerade zwei Tische weiter mit einem Mitarbeiter von Vagba. Erst die Spieler, jetzt die Klubs? Der ivorische Fußball weckt offensichtlich Begehrlichkeiten.

Der TV-Sender Canal+ ist wie sein Mutterhaus, der Bolloré-Konzern, fest in Afrika verankert. Hier verfolgt er eine Strategie der Förderung lokaler Fußballklubs. „Canal+ hat der französischen 1. Liga das Geld verschafft, um sich zu entwickeln. Die ivorischen Wettbewerbe könnten sich nach dem gleichen Modell professionalisieren“, hofft Eddy Rabin, der redegewandte Direktor „Sportproduktion“ von Canal+ für die Elfenbeinküste.

Mit Kommerzialisierungsstrategien kennt sich Rabin aus. Er will das „Produkt 1. Liga“ attraktiver machen, indem er den Spielen „Eventcharakter“ verleiht. Um ein junges, hippes Publikum anzusprechen, soll es vor und nach dem Spiel zusätzlich Animationen, Tanz und Konzerte geben. Beim ersten Event dieser Art waren es am 24. März typisch ivorische Coupé-Decalé-Rhythmen.

Ob das den Exodus aufhalten kann? Nach einer Studie des Fachorgans Observatoire international du football haben dieses Jahr bereits 173 ivorische Spieler das Land verlassen.6

1 Afrikfoot, 31. Dezember 2017.

2 L’Équipe, 24. September 2017.

3 Siehe auch Johann Harscoët, „Im Aus“, Le Monde diplomatique, Juni 2006.

4 „Euro 2016: 40 joueurs d’origine africaine“, Football 365, 9. Juni 2016.

5 Das gesamte Interview mit Jérôme Champagne finden Sie auf unserer Website: www.monde-diplomatique.fr/58795.

6 „Les footballeurs expatriés dans le monde: étude globale 2018“, Centre international d’étude du sport (CIES), Mai 2018.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

David Garcia ist Journalist.

Proletarier des runden Leders

Aristide ist ein Galeerensträfling des runden Leders. Der 23-jährige Kameruner hat Fußball in seiner Heimatstadt Yaoundé gelernt und war schon überall in Afrika. Nach einem ersten Missgeschick in der heimischen 2. Liga – Bezahlung Fehlanzeige – ging er 2012 nach Äquatorialguinea, wo er bei einem Klub der 1. Liga unterschrieb. Das Handgeld stahl ihm sein Agent. Dann wanderte er weiter nach Nigeria, wo er ein festes Gehalt von monatlich 1000 Euro bezog.

Nach einer Verletzung wurde er entlassen. Für 45 Euro im Monat heuerte er bei einem senegalesischen Club an, hielt jedoch nur dreißig Tage durch. „Mit Wut im Bauch“ landete er in der Elfenbeinküste, wo ihm ein Trainer einen Teil seines Handgelds abnahm. Ende der Odyssee? Vorerst ja. Anthony sucht „Länder, in denen man pro­blem­los aufgenommen wird“. Bis dahin trainieren er und andere Fußballer mit ähnlich ramponierter Karriere in der Fußballakademie Metro Star in Abidjan.

Das Traumziel afrikanischer Fußballer liegt jedoch weiter im Norden. „Für 600 Euro im Monat spielen sie für jeden Klub in Europa“, sagt der Journalist Barthélemy Gaillard, „auch wenn sie beim Alter schwindeln oder in einem Schlauchboot das Mittelmeer überqueren müssen.“ Heute sind 8 Prozent der Spieler in den europäischen Profiklubs Afrikaner.

Selbst wenn sie ihren Fußballtraum nicht verwirklichen können, „sind sie froh, dem Elend entronnen zu sein und in Europa zu leben“, erzählt der Exprofi Jean-Claude M’Bvoumin aus Kamerun, Präsident von Foot solidaire, einem Hilfsverein für Fußballmigranten. Sein Landsmann Geremi Njitap, früher kurz bei Real Madrid, ist heute Präsident der Association des footballeurs came­rounais. Er kämpft gegen Agenten, die ihre Spieler in Europa zu Billigpreisen feilbieten und sogar auf die Zahlung der Ausbildungsentschädigungen an die Herkunftsklubs verzichten, die für die Entwicklung des Amateur- und ­Profifußballs in Afrika unverzichtbar sind.

Was TV-Rechte, Vermarktung oder Firmensponsoring betrifft, so sind die nordafrikanischen Länder ihren Nachbarn im Süden deutlich voraus (nicht zufällig haben sich Ägypten, Tunesien und Marokko für die WM 2018 qualifiziert). „Ihre Klubs haben viel mehr Geld als unsere“, sagt Sory Diabaté, Präsident der ivorischen Profiliga. Wenigstens müssen die Spieler nicht das tödliche Risiko von Bootsflüchtlingen eingehen. Sie bleiben in Nordafrika und verdienen anständig. Das gilt auch für Südafrika, wo die besten Spieler rund 9000 Euro im Monat bekommen.

Meilenweit vom Glanz des Fußballbu­siness entfernt, in Kenia, trainiert der Lehrer Luc Lagouche ehrenamtlich die Black Stars von Kibera. Der Zweitligist ist der Stolz der Einwohner des größten Slums von Nairobi. „Es ist eher ein soziales als ein sportliches Projekt“, betont der Sportdirektor des Klubs. „Dank unserer Sponsoren helfen wir den Spielern, einen Beruf zu erlernen. Auch in einem Slum kann Fußball der Integration dienen.“ Ist ein anderer Fußball in Afrika möglich?

⇥David Garcia

Le Monde diplomatique vom 12.07.2018, von David Garcia