07.06.2018

Gute Nachrichten aus Eriwan

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Gute Nachrichten aus Eriwan

Die erfolgreiche Protestbewegung um den charismatischen Nikol Paschinjan hat den jungen Armeniern Hoffnung gemacht

von Tigrane Yégavian

Anhänger von Nikol Paschinjan auf dem Platz der Republik, Eriwan, 8. Mai 2018 THANASSIS STAVRAKIS/ap
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Nikol Paschinjan war anzusehen, dass es nicht sein erster Marsch war. Er trug ein T-Shirt in Tarnfarben, eine Schirmmütze und hatte einen Wanderrucksack auf dem Rücken. Los ging es am 31. März 2018 in Gjumri, einer Stadt im Nordwesten Armeniens, die 1988 durch ein Erdbeben verwüstet wurde und unter der Deindustrialisierung leidet.

Der 43-jährige Abgeordnete der Op­po­si­tion mit der rauen Stimme hat sich als talentierter Redner entpuppt. Er hat es geschafft, einer nur noch vom Exil träumenden armenischen Jugend wieder Gefallen an der Politik zu vermitteln. In Gjumri konnte Paschinjan zunächst nur rund ein Dutzend Anhänger um sich versammeln. Doch mit seinem Motto „Merzhir Sersch“ („Sersch ablehnen“) hat er ins Schwarze getroffen.

Sersch Sargsjan, 63, war von 2008 bis 2018 Staatspräsident Armeniens. Dann klammerte er sich mit einem Verfassungstrick an die Macht, der ihn zum Ministerpräsidenten mit deutlich ausgeweiteten Befugnissen machte. Als Nikol Paschinjan einige Wochen und 250 marschierte Kilometer später an den Toren der armenischen Hauptstadt Eriwan eintraf, liefen mehrere zehntausend Demonstranten mit. „Verschwinde!“, forderten sie den noch amtierenden Staatspräsidenten lauthals auf.

Schätzungen zufolge beteiligten sich etwa ein Fünftel der knapp 3 Millionen Einwohner Armeniens an den Protesten. Am 23. April demonstrierten allein in Eriwan mindestens 150 000 Menschen für die Freilassung Paschinjans, den die Polizei kurzzeitig festgenommen hatte. Mit den Worten „Nikol Paschinjan hatte recht, und ich habe mich geirrt“, gab Sersch Sargsjan schließlich klein bei. Noch am selben Abend trat er zurück, nur sechs Tage nach seinem neuerlichen Amtsantritt als Ministerpräsident.

Die Proteste und die historische Wende wecken Erinnerungen an die großen umweltpolitischen und na­tio­na­listischen Demonstrationen 1987 und 1988 in Eriwan, die das Auseinanderbrechen der UdSSR ankündigten. Die kleine südkaukasische Republik Armenien erlangte ihre Unabhängigkeit schon im August 1991, mehrere Monate vor den anderen Sowjetrepu­bli­ken.

Der armenische Ethnologe Levon Ab­rahamian vergleicht die Situation heute mit den damaligen Umbrüchen. Es herrsche eine ähnlich festliche und kreative Atmosphäre, erzeugt von ein paar Intellektuellen und unbekannten Aktivisten.

Damals war Paschinjan erst 13 Jahre alt. Wie er gehen heute viele Kinder der „Generation 1988“ auf die Straße und fordern Rechenschaft von ihren Eltern. Die hatten sich nicht nur für die Unabhängigkeit des Landes eingesetzt, sondern im Bergkarabach-Krieg (1992–1994) auch um diese kleine ehemals autonome Republik mit einer mehrheitlich armenischen Bevölkerung gekämpft, die nach dem Ende der Sowjet­union Aserbaidschan zugesprochen worden war.1

In diesem Krieg konnte Armenien das Gebiet zwar unter seine Kontrolle bringen, was den Nationalstolz der Armenier nährte, eine diplomatische Lösung blieb aber aus. Stattdessen ruinierte der Krieg Armenien und brachte das Land geopolitisch in eine prekäre Lage. Die doppelte Blockade von türkischer und aserbaidschanischer Seite vertiefte die Abhängigkeit Eriwans von seinen Verbündeten: von Russland für seine Sicherheit und von Iran für Waren- und vor allem Gaslieferungen. Die wichtigsten Militärkommandeure nahmen nicht nur in der kleinen selbsternannten Republik Bergkarabach die Zügel in die Hand, sondern auch in der Hauptstadt.

Robert Kotscharjan etwa war von 1994 bis 1997 Präsident in Bergkarabach, übernahm dann kurzzeitig das Amt des armenischen Ministerpräsidenten und amtierte schließlich von 1998 bis 2008 als Staatspräsident der Republik Armenien. Bevor Sersch Sargsjan seine Nachfolge antrat, war er zuerst Stabschef und dann Verteidigungsminister unter Kotscharjan. Beide sind gebürtig aus Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach, und beide begannen ihre politische Karriere noch zu Sowjetzeiten innerhalb der KPdSU.

Nachdem sie die Protagonisten der Unabhängigkeitsbewegung, darunter den ersten armenischen Staatspräsidenten Lewon Ter-Petrosjan, von der Macht verdrängt hatten, errichteten die „Karabacher“ ein geschlossenes politisches System, das 20 Jahre überdauern sollte und sich auf drei Säulen stützte: die Manipulation der Wahlen, die Kontrolle über die Geschäftswelt und gute Beziehungen zu Russland.

In der Vergangenheit waren Wahlen in Armenien stets ein anschauliches Beispiel für die Wirkmächtigkeit von „Verwaltungsressourcen“, wie sie die Venedig-Kommission des Europarats definiert hat. In einem Bericht von 2013 über den Missbrauch solcher Mittel definierte die Kommission sie als „personalbezogene, finanzielle, materielle Ressourcen oder Naturalien“, über die Amtsinhaber oder Beamte aufgrund ihrer Kontrolle über Personal, Finanzen und deren Verteilung im öffentlichen Bereich bei Wahlen verfügen.2 In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde die Veröffentlichung von Wahlergebnissen in Armenien stets von Protesten begleitet – doch vor Paschinjans Auftritt immer ohne Erfolg.

Bis 1998 war Paschinjan Chefredakteur von Oragir („Tageszeitung“), anschließend übernahm er den gleichen Posten bei Haykakan Schamanak („Die armenische Zeit“), einer der Opposi­tion gegen Kotscharjan nahestehenden Zeitung. 2006 entschied er sich für die Politik und gründete die zivilgesellschaftliche Bewegung Aylentrank („Alternative“). Bei den Parlamentswahlen im Mai 2007 kandidierte er für eine Liste, die der früheren Allarmenischen Nationalbewegung (Regierungspartei von 1990–1998) nahestand. Als Ter-Petrosjan 2008 den Erfolg Sargsjans bei der Präsidentschaftswahl anzweifelte, führte Paschinjan die Protestdemonstrationen in Eriwan an. Nachdem Kotschar­jan Anfang März 2008 den Ausnahmezustand verhängt hatte, musste Paschinjan untertauchen. Über ein Jahr später stellte er sich der Polizei, wurde inhaftiert und blieb bis 2011 im Gefängnis.

Auf dem Land herrscht noch die alte Garde

Bis zu den jüngsten Umbrüchen war die Republikanische Partei Armeniens (HHK) das tragende Gerüst des armenischen Systems. Ihre ultranationalistische und konservative Ideologie ist von den Schriften des Militärstrategen Gargin Nschdeh (1886–1955) inspiriert. Nschdeh hatte in den 1930er Jahren die Zegakron-Bewegung („Rassenreligion“) gegründet. Es gab kaum einen Schuldirektor oder Dorfbürgermeister, der nicht der 140 000 Mitglieder umfassenden Klientel der HHK angehörte. Die Partei dominierte das Parlament, ihr Pragmatismus vertrug sich ausgezeichnet mit dem Beziehungsgeflecht zwischen Staatsbeamten und mächtigen Geschäftsleuten.

Wirtschaftspolitisch waren die Amts­zeiten von Kotscharjan und Sargsjan von beschleunigter Privatisierung geprägt. Ihre Zugeständnisse an russische und armenische Privatinteressen verkauften sie als erfolgreiche Investitionspolitik. Zudem erlaubten sie die Veräußerung von Bodenschätzen zu Schleuderpreisen und ohne Rücksicht auf die Umwelt. Um die 40 Oligarchen, darunter auch einige Abgeordnete, kontrollieren den Großteil der Industrieproduktion, des Handels und der Bankgeschäfte in Armenien. 2017 lag das Land auf einem wenig schmeichelhaften 117. Platz von 180 des Kor­rup­tions­wahr­nehmungs­indexes von Transparency International. Die Organisa­tion Freedom House ordnet das Land in ihrem Bericht über die ehemaligen Länder des kommunistischen Blocks in die Kategorie der „teilweise konsolidierten autoritären Regime“ ein.3

Die Veruntreuung der Ressourcen hatte eine zunehmende Ungleichheit zur Folge. Obwohl die armenische Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren wieder gewachsen ist, lebt knapp ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. 2016 lag die Arbeitslosenrate bei 18 Prozent.4

Die daraus resultierende Auswanderungsbewegung hat das Land völlig ausbluten lassen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung soll ausgewandert sein. Armenien zählt heute 650 000 Einwohner weniger als am Ende der Sowjet­zeit.5 Die Rücküberweisungen, die in Russland oder im Westen niedergelassene Armenier ins Land senden, stellten 2016 rund 13 Prozent des BIPs dar.6 Diese Gelder ermöglichen kaum Investitionen, sie dienen vor allem dem Konsum importierter Waren, deren Verkauf unter der Kontrolle der Oligarchen steht. Der demografische Rückgang verschlechtert auch die Sicherheitslage des Landes, denn Aserbaidschan weist im Vergleich zu Armenien eine 3,5-fach höhere Geburtenziffer auf und sein Militärbudget ist etwa dreimal so hoch.7

Im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ist Armenien mit Russland ein strategisches Bündnis eingegangen. 1992 und 1995 unterzeichnete Abkommen legen fest, dass die armenisch-türkische Grenze von russischen Soldaten bewacht wird. Der Vertrag für den russischen Stützpunkt in Gjumri, wo 3000 Soldaten stationiert sind, wurde 2010 bis 2044 verlängert.

Der Kreml tut nichts, um den diplomatischen Prozess im Karabach-Konflikt wieder in Gang zu bringen, und verstetigt so den Status quo: kein Krieg, aber auch kein Frieden. Moskau ist ein zentraler Spieler der 1992 unter anderem mit Frankreich und den USA gegründeten Minsker Gruppe, die eine Verhandlungslösung herbeiführen soll. Gleichzeitig behält sich Russland aber die Möglichkeit vor, je nach aktueller eigener Interessenlage Eriwan oder Baku aufzurüsten. Die jüngste Annäherung zwischen Moskau und Ankara schürt auf armenischer Seite die Befürchtung, erneut unter Druck gesetzt zu werden, um die besetzten aserbai­dscha­nischen Gebiete aufzugeben.

Die Russland traditionell eher wohlgesinnte armenische Öffentlichkeit betrachtete die russischen Waffenverkäufe an Aserbaidschan als Verrat. Im Oktober 2017 verkündete die armenische Regierung allerdings, dass Moskau ihr einen weiteren Kredit in Höhe von 100 Millionen US-Dollar gewährt habe, um den Kauf russischer Waffen zu finanzieren. Neben der strategischen besteht auch eine wirtschaftliche Abhängigkeit von Moskau: Die Schlüsselbereiche der armenischen Wirtschaft – Atomkraft, Gas, Strom, Verkehrswesen – sind russisch kontrolliert, 39,5 Prozent der ausländischen Direktinvesti­tio­nen stammen aus Russland, und armenische Oligarchen unterhalten enge Verbindungen zu russischen Großindustriellen.

Als Paschinjan noch Oppositionsführer war, hielt er sich nicht mit Kritik an Russland zurück. Während der Demonstrationen im April entschied sich der Kreml allerdings zur Vorsicht. Ein deutliches Zeichen dafür war die Tatsache, dass die russischen Machthaber den Berichten der eigenen Di­plo­maten mehr Glauben schenkten als den Abgesandten der armenischen Regierung, die umgehend nach Moskau geschickt wurden, um die Ereignisse als Wiederholung der „Farbrevolutionen“ der 2000er Jahre zu präsentieren, die in der Ukraine, in Georgien und in Kirgistan moskauskeptische Regierungen an die Macht brachten.

Die jüngsten Proteste konzentrierten sich auf Eriwan und andere größere Städte, während im Süden des Landes, in dem die HHK stärkeren Einfluss hat, und vor allem in Bergkarabach alles ruhig blieb. Im Verlauf der Auseinandersetzungen warnte die Parteiführung der HHK wiederholt vor einem bevorstehenden Angriff Aser­bai­dschans. Doch dieses Schreckgespenst hatte einen wesentlich größeren Einfluss in der Diaspora als vor Ort. Auch Paschinjan ist sich der Bedeutung der Karabach-Frage bewusst: Seine erste offizielle Reise als Regierungschef machte er nach Schuschi in Karabach, zum Jahrestag der Eroberung der Stadt am 9. Mai 1992.

Der neue Ministerpräsident, dessen Erfahrung sich bislang auf journalistische Tätigkeiten und Straßenproteste beschränkt, muss das Land nun mit einem Parlament regieren, das nach wie vor von der HHK dominiert wird. Auch mit einigen seiner neuen Verbündeten wird er Kompromisse aushandeln müssen, so zum Beispiel mit dem Oligarchen Gagik Zarukjan, Chef der konservativen Partei „Blühendes Arme­nien“ (BHK), der zweitstärksten Kraft im Parlament.

Wenn er nicht in die Trägheit der 1988er Generation zurückverfallen und so die Menschen, die ihn an die Macht gebracht haben, enttäuschen möchte, muss Paschinjan vor allem in drei Bereichen möglichst schnell Erfolge erzielen: bei der Organisation transparenter Wahlen, beim Kampf gegen die Pfründe und beim Aufbau einer ausgeglicheneren Beziehung zu Russland.

1 Siehe Philippe Descamps, „Nichts ist normal in Karabach“, Le Monde diplomatique, Dezember 2012.

2 „Report on the Misuse of Administrative Resources during Electoral Processes“, Venedig-Kommission, Europarat, Straßburg, 16. Dezember 2013.

3 Nations in Transit Report 2018, www.freedomhouse.org.

4 Statistikamt der Republik Armenien, http://armstatbank.am.

5 Den offiziellen, wahrscheinlich sehr optimistischen Statistiken zufolge zählte Armenien 1992 gut 3,6 Millionen Einwohner, verglichen mit 2,9 Millionen im Jahr 2017.

6 „Migrant remittance inflows“, Weltbank, Washington, D. C.

7 Das aserbaidschanische Militärbudget belief sich 2017 auf 1,5 Milliarden US-Dollar, gegen 444 Millionen US-Dollar in Armenien. Siehe „Military expenditure by country“, Internationales Friedensforschungsinstitut Stockholm (Sipri), 2018.

Aus dem Französischen von Inga Frohn

Tigrane Yégavian ist Journalist und Autor von „Arménie. À l’ombre de la montagne sacrée“, Brüssel (Nevicata) 2015, und von „Diasporalogue“ (mit Serge Avédikian), Marseille (Thaddée) 2017.

Le Monde diplomatique vom 07.06.2018, von Tigrane Yégavian