07.12.2017

China und der Rest der Welt

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China und der Rest der Welt

In der kapitalistischen Volksrepublik steuert der Staat immer noch die Wirtschaft – trotz Globalisierung

von Philip S. Golub

Tirtzah Bassel, Trader Joe’s, 2013, Öl auf Leinwand, 183 x 305 cm
China und der Rest der Welt
Aufstieg in Zahlen

China spielt heute in der Weltwirtschaft eine zentrale Rolle. Das war nicht immer so. Im 19. Jahrhundert begann für das Riesenland eine lange Phase des Niedergangs, die zwei Ursachen hatte: zum einen der Druck der europäischen Kolonialmächte und später Japans, zum anderen der innere Zerfall aufgrund von Hungersnöten, Naturkatastrophen und Aufständen.

Nach der Gründung der Volksrepublik 1949 folgte unter Mao Tse-tung eine Zeit der Quasi-Autarkie, die bis 1976 andauerte. Mit der Rückkehr ins Zen­trum des globalen Wirtschaftssystems gewinnt China nun die Stellung zurück, die es schon im 18. Jahrhundert, vor dem globalen Auseinanderdriften von Ost und West beziehungsweise Nord und Süd, eingenommen hatte.

Chinas Wiederaufstieg, der dem demografischen Gewicht des Landes entspricht, hat weitreichende politische und strategische Auswirkungen. Davon zeugen die Gebietsansprüche im Südchinesischen Meer, das wachsende Militärpotenzial, die Erschließung neuer Seehandelsrouten und interkontinentaler Verkehrskorridore zu Land.1 Hinzu kommt die Rolle Chinas bei der Schaffung neuer übernationaler Institutionen der Wirtschaftsförderung, wie der Asian International Investment Bank (AIIB) oder der New Development Bank (NDB). Kurzum: Bei der Neugewichtung der politisch-ökonomischen Kräfteverhältnisse, die die künftige Weltordnung bestimmen wird, spielt China eine Schlüsselrolle.

Diese Veränderungen werfen die Frage auf, wie viel Autonomie dem Staat im Rahmen des Globalisierungsprozesses noch bleibt. Bislang herrschte die Einschätzung vor, der Staat werde aufgrund der Internationalisierung der ökonomischen Prozesse und der Verdichtung von Zeit und Raum von der rasanten Entwicklung der neuen Me­dien überwältigt und im Grunde seiner Souveränität wie seiner Interventionsmöglichkeiten beraubt.

Diese These gibt es in einer liberalen Version, die lautet: Der moderne Nationalstaat wie auch das zwischenstaatliche System, das mit dem Westfälischen Frieden von 1648 entstanden ist, haben demnach eine postinternationale oder postmoderne Gestalt angenommen, deren Hauptmerkmal die Verlagerung der Macht auf private Akteure und „Global Governance“-Institutionen ist.

Nach den unterschiedlichen neomarxistischen Versionen dieser These ist seit 1991 wieder eine globale Sphäre für die erweiterte kapitalistische Akkumulation entstanden, weshalb die Nationalstaaten (teilweise oder vollständig) der Kapitalverwertung unterworfen sind. Diese wird von dominierenden transnationalen Akteuren vorgegeben, die heute eine transna­tio­na­le herrschende Klasse darstellen. Deren Interessen und Einschätzungen sind – bei allen kulturellen oder nationalen Unterschieden – weitgehend dieselben. Daraus wird entweder gefolgert, dass der Staat im Prozess der kapitalistischen Internationalisierung nur noch einer von mehreren Akteuren sei, oder aber, dass die neu entstandenen Abhängigkeitsstrukturen seine Autonomie beseitigt haben.

Das Beispiel China stellt solche Theorien infrage. Denn hier geht die Entwicklung in eine andere Richtung. Selbstverständlich übt die Globalisierung einen systemischen Druck auf alle Gesellschaften und Staaten aus. Und manche können dem Druck des Weltmarkts, der nach der Logik der globalen Ausbreitung des Kapitalismus funktioniert, schlicht nicht standhalten.

Viele Länder des globalen Südens haben sich jedoch auf einer unteren Position in der neuen internationalen Arbeitsteilung gehalten. Sie sind entweder Rohstofflieferanten (etwa Subsahara-Afrika) oder Lieferanten von Arbeitskräften (Philippinen, Mexiko, Bangladesch); oder sie beschränken sich auf Branchen mit geringer Wertschöpfung wie die Textilindustrie (Kambodscha, Bangladesch, Indien) und die Montage von elektrischen oder elektronischen Geräten, wobei die Komponenten mit höherer Wertschöpfung in anderen Zentren der transnationalen Produk­tion hergestellt werden.

Die Eingliederung in die globalisierten Strukturen hatte allerdings nicht überall dieselbe Wirkung: Die Internationalisierung der Produktion und der Warenströme führte zu einem geografisch ausdifferenzierten Wachstum, wobei bestimmte Staaten große absolute und relative Gewinne einfahren, während andere unterentwickelt bleiben oder stagnieren.

Diese Unterschiede rühren unter anderem daher, dass die globale Ausbreitung des Kapitals sich im Rahmen bestimmter politischer Gemeinschaften und unterschiedlicher, historisch gewachsener institutioneller Systeme vollzieht. Dabei verstärkt die Interna­tio­nalisierung die Abhängigkeit und Verletzlichkeit der Länder mit schwachem staatlichem Potenzial. Andererseits kann sie aber auch eine relative Autonomie fördern und die Macht einzelner Länder vergrößern, wenn es ihnen gelingt, den Weltmarkt für sich zu nutzen und den internationalen Handel im Sinne ihrer eigenen ökonomischen Entwicklung zu kanalisieren (siehe Japan, Südkorea, Taiwan, Singapur oder auch Malaysia).

China war mit dieser Strategie besonders erfolgreich. Sein steiler ökonomischer Aufschwung seit den 1980er Jahren (siehe Randspalte) ist umso bemerkenswerter, als das Land Ende der 1970er Jahre in einer tiefen politischen, ökonomischen und sozialen Krise steckte. Damals war es unvorstellbar, dass China binnen weniger Jahrzehnte eine der größten Volkswirtschaften der Welt sein würde, die den interna­tio­na­len Konkurrenten die Bedingungen diktieren kann – und nicht umgekehrt. Es sah vielmehr so aus, als stehe in China ein Systemzusammenbruch bevor, wie ihn die UdSSR 1990 erlebt hatte.

Im Gegensatz zur KPdSU, die notwendige ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungen zu spät vorantrieb, konnten Staat und Partei in China den Zusammenbruch der Ökonomie und des Staates verhindern. Sie vollzogen rechtzeitig die Transformation vom Totalitarismus zu einem „rationalen Autoritarismus“2 und von einer autarken Kommandowirtschaft zu einer gelenkten Marktwirtschaft, die Schritt für Schritt zunächst in die regio­nalen und dann in die globalen Märkte integriert wurde.

Von Japan lernen

Die Post-Mao-Führung betrieb ein nationalistisches Modernisierungsprogramm. Das Streben nach Patriotismus, Wohlstand und Einfluss knüpfte an die „Selbststärkungskampagne“ an, mit der ein Teil der Elite im späten 19. Jahrhunderts das Land (nach dem Vorbild der Meiji-Reformen in Japan) von oben modernisieren wollte, um die Macht der ausländischen Imperialisten zu begrenzen.

Auf der Suche nach einem dritten Weg zwischen westlichem Kapitalismus und rigider maoistischer Planwirtschaft richtete sie den Blick gen Osten: auf dirigistische Modelle, mit denen man eine Wachstumsdynamik erzeugen und die Befehlsökonomie überwinden konnte, ohne die Macht und Autorität von Staat und Partei aufzugeben.

Der Übergang zum gelenkten Kapitalismus wurde durch die Erfahrung der kapitalistischen Entwicklungsländer in der Region beeinflusst, die in der Zeit des Kalten Kriegs einen enormen Boom erlebt hatten. Nachdem Deng Xiaoping 1978 Japan und Singapur besucht hatte, übernahmen und modifizierten die chinesischen Planer die Ansätze und Erfahrungen Japans, das aus ihrer Sicht den chinesischen Bedingungen viel näher und angemessener waren als der westliche Kurs.

Japan hatte mit der administrativen Steuerung und indikativen Planung der Volkswirtschaft – die lediglich Empfehlungen bezüglich des gewünschten Verhaltens der Wirtschaftssubjekte gibt, statt es imperativ vorzuschreiben – große Erfolge erzielt. Diese Methoden, die in den 1960er und 1970er Jahren auch die ostasiatischen Schwellenländer Südkorea, Taiwan und Singapur für sich abgewandelt und übernommen hatten, fand die durch eine lange kommunistische und präkommunistische Staatstradition geprägte chinesische Führung besonders attraktiv.

In dieser Einschätzung wurde China von japanischen Ökonomen und Planern bestärkt, die in den 1980er Jahren einen regen Gedankenaustausch mit ihren chinesischen Kollegen pflegten. Die Japaner betonten dabei die Unterschiede zwischen dem neoklassischen, liberalen, regulierenden Staat nach englischem oder US-amerikanischem Modell und dem japanischen Entwicklungsstaat: einem „regulären kapitalistischen Staat mit einer dezidierten Wirtschaftspolitik, in der die staatliche Steuerung der Märkte eine unentbehrliche Rolle spielt“.3

Diese Unterscheidung bestimmte die innovativen Studien des US-amerikanischen Asien­experten Chalmers John­son aus den frühen 1980er Jahren.4 Er betont die Unterschiede zwischen der bürokratischen Rationalität des asia­tischen kapitalistischen Entwicklungsstaats und sowohl der neoklassischen Theorie und Praxis, die von nach Nutzenmaximierung strebenden Individuen ausgeht, als auch der starren kommunistischen Kommandowirtschaft.

Der asiatische Entwicklungsstaat setzt auf rationale Planung und eine „lenkende Hand“, die aber die Märkte keineswegs abschafft. Allerdings bestimmt er die langfristigen Ziele, indem er strategische Branchen begünstigt oder neu schafft. Sein wichtigstes Werkzeug sind dabei Rahmeninstitutionen und Interventionsinstrumente, die auf die jeweiligen Phasen der Industrialisierung abgestimmt sind.

Dieses Modell ähnelt stark dem Dirigismus, der in Frankreich gleich nach 1945 praktiziert wurde, bemerkt der französische Ökonom Robert ­Boyer. Damals wurde die industrielle Dynamik maßgeblich bestimmt durch „die Rolle des Staates bei der Erneuerung der Infrastrukturen, bei der Ankurbelung der Massenproduktion durch Verstaatlichung, bei der Kontrolle des Kreditwesens durch verstaatlichte Banken wie die Banque de France und schließlich durch einen einmaligen Ausbau der sozialen Sicherung nicht nur bei den Renten- und Krankenkassen, sondern auch durch eine soziale Bildungs- und Wohnungsbaupolitik“.5

Für die chinesische Führung lautete die zentrale Frage: Wie kann man eine Liberalisierung einleiten und Märkte schaffen, ohne die politische Kontrolle zu verlieren? Wie kann man Chinas Wirtschaft für die Welt öffnen, ohne ihre Autonomie aufzugeben? Und wie lässt sich verhindern, dass in den Wirtschaftsbeziehungen am Ende die typische Nord-Süd-Asymmetrie entsteht?

Eigene Patente anmelden

In der ersten Phase des Übergangs (von der Ankündigung von Reformen 1978 bis zur blutigen Repression auf dem Tiananmenplatz 1989) vollzog sich die politische Öffnung nur vorsichtig und schrittweise. In den seit jeher nach außen orientierten, küstennahen Provinzen wurden bereits 1979 Sonderwirtschaftszonen geschaffen. Diese zogen in den 1980er Jahren immer mehr private internationale Investitionen aus Asien an, zunächst aus der chinesischen Diaspora und dann aus Japan. Die Investoren aus Hongkong, Macao, Taiwan und Singapur konzentrierten sich auf arbeitsintensive und technologisch anspruchslose Industriezweige (Textilien, Spielwaren, Plastikprodukte).

Damit kam eine lokale Wachstumsdynamik in Gang, die sich rasch beschleunigte. Die japanischen Investi­tio­nen im verarbeitenden Sektor flossen zur Hälfte in Joint Ventures, die sowohl für den chinesischen Markt als auch für das asiatische Ausland produzierten. Ab 1985 nahm ihre Bedeutung ständig zu: Ihr Anteil an den gesamten japanischen Investitionen in Ostasien stieg binnen zehn Jahren von 4,5 auf 44,7 Prozent. Das Kapital aus Japan und den asiatischen Tigerstaaten floss vor allem in den exportorientierten verarbeitenden Sektor. Das Ergebnis war eine starke Integration von Südchina in die Wirtschaftsordnung Ostasiens, die bis heute von Japan dominiert wird.

Eine weitere wichtige Entwicklung setzte in den 1990er Jahren ein, nachdem die Machtkämpfe im Gefolge der Studentenproteste auf dem Tiananmenplatz und ihrer gewaltsamen Niederschlagung das Land drei Jahre lang gelähmt hatten.

In den 1990er Jahren beschleunigten und vertieften die mächtigen Leute um Deng die liberale Umgestaltung und die stärkere Ausrichtung der chinesischen Wirtschaft auf die globale und nicht nur die regionale Ebene. Diese Entscheidung wurde durch weltpolitische Ereignisse beeinflusst: den Zerfall der Sowjetunion, den Golfkrieg von 1990 und die Stagnation in Japan nach der asiatischen Finanz- und Wirtschaftskrise von 1997/1998.

All diese Entwicklungen festigten zugleich die Vormachtstellung der USA. In dieser neuen Situation entschloss sich China, in den Worten Dengs, „den wirtschaftlichen Aufbau fortzusetzen und auf dieser Linie weiterzumachen, wenn es nicht zu einem großangelegten ausländischen Überfall kommt“.6 Für ihn blieb die Integration in die globale kapitalistische Ökonomie die zentrale Aufgabe für sein Land – was freilich auf die Notwendigkeit hinauslief, ein friedliches Verhältnis zu den USA aufzubauen.

1992 unterzeichnete Peking eine Vereinbarung mit Washington über Zolltarife, Patente und Urheberrechte. Aus Sicht der USA eröffnete die Eingliederung Chinas in die Weltwirtschaft neue und weite Investitionsfelder – zugleich aber auch Möglichkeiten, Einfluss auf den ökonomischen und politischen Kurs des Landes zu nehmen.

China stand damit vor demselben Problem wie alle Staaten des globalen Südens: Soll man die ökonomische Entwicklung vorantreiben, indem man auf den Weltmarkt drängt, wo internationale Konzerne das Sagen haben und wo die seit jeher mächtigen Staaten die Regeln und Strukturen bestimmen?

Das Hauptmotiv für die Öffnung war die Aussicht gewesen, sich neue Technologien anzueignen. 1980 hatte Deng verkündet: „Die Technologie, die Wissenschaft und sogar die hoch entwickelte Organisation der Produktion, die auch eine Art Wissenschaft ist, werden in jeder Gesellschaft, in jedem Land nützlich sein. Wir haben die Absicht, technologische, wissenschaftliche und Managementkompetenzen zu erwerben, um unserer sozialistischen Produktion zu dienen.“7

Allerdings wurden China beim Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO) im Dezember 2011 strengere Bedingungen auferlegt als zuvor anderen Ländern. Zum Beispiel hatten Japan, Südkorea und Taiwan ihre dirigistische Politik fortsetzen und damit ihre nationalen Märkte schützen können.

China hingegen musste seinen Markt – unter gewissen Bedingungen – für ausländische Investoren öffnen, die sich entweder direkt oder über Beteiligungen an Joint Ventures engagieren konnten. Die Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen in China lagen im Zeitraum 1984 bis 1989 bei durchschnittlich 2,2 Milliarden Dollar im Jahr, stiegen im Zeitraum 1992 bis 2000 bereits auf 30,8 Milliarden Dollar und erreichten im Zeitraum 2000 bis 2013 die 170-Milliarden-Dollar-Grenze.

In den 1990er Jahren brachten die Investitionen im Hinblick auf Technologietransfer und Wertschöpfung nicht die erwarteten Ergebnisse. Die Effekte für die nationale Wirtschaft blieben bescheiden. Das lag unter anderem daran, dass der Großteil der Gewinne bei den „geistigen Eigentümern“ von Lizenzrechten hängen blieb. Damals verkündeten skeptische Stimmen bereits das Scheitern des staatlichen Modernisierungsprogramms.

Eine grundlegende Kritik an der Post-Mao-Führung hat der an der London School of Economics lehrende Jian­yong Yue formuliert. Für ihn hat das Zusammenwirken von chinesischem Marktsozialismus und globalem Kapitalismus einen „sich selbst verstärkenden Prozess eingeleitet, der China auf einen Entwicklungspfad drängt und beschränkt, der durch eine Industrialisierung ohne technologischen Fortschritt gekennzeichnet ist“.8

Solche Bedenken sind bis heute aktuell, wobei es in den letzten 15 Jahren Kurskorrekturen gab: Unter Staatspräsident Hu Jintao und seinem Ministerpräsidenten Wen Jiabao (2002–2012) wurde eine ehrgeizige Industriepolitik auf Basis mehrjähriger branchenübergreifender zentralisierter Programme betrieben; hinzu kamen gewaltige Anstrengungen „einer Orientierung und umfassenden Koordinierung der industriellen und technologischen Modernisierung Chinas“.9

Dank der Schaffung eines weit gespannten Netzes von Institutionen für Forschung und Entwicklung (F&E) erhöhte sich der Anteil von F&E-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt zwischen 1995 und 2012 von 0,5 auf 1,98 Prozent und erreichte damit den Durchschnittswert der OECD-Länder. Bei den Patentanmeldungen liegt China heute weltweit an vierter Stelle, hinter den USA, Japan und der EU.

Das britische Wirtschaftsmagazin The Economist beklagte vor fünf Jahren, der in den 1990er Jahren verzeichnete „Rückzug des Staats“ habe sich verlangsamt oder gar ins Gegenteil verkehrt. Die neuerliche „Zentralisierung der Industrie- und Technologiepolitik“ betreffe vor allem Schlüsselsektoren wie Energie und Telekommunikation, den Schiffsbau oder den Ausbau der Schienennetze für Hochgeschwindigkeitszüge.11

Auch in der Rangliste der Wertschöpfung klettert China immer weiter nach oben. Gary Gereffi, Analyst der globalen Wertschöpfungsketten und der Internationalisierung der Produktion, schrieb schon 2014, die wachsende Bedeutung alternativer Zentren für ökonomische und politische Macht“ sowie das Ende des Washington Consensus (Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung) bedeute einen Systemwechsel.

Aufgrund der „geografischen Konsolidierung und neu entstandener Zentren der Wertschöpfung“ verschiebe sich die Balance zwischen internationalen Konzernen und einigen großen aufstrebenden Staaten. Als künftige Wachstumspole der Weltwirtschaft identifiziert er „eine zunehmende Anzahl aufsteigender Mächte, die sowohl über relativ stabile nationale Märkte, qualifizierte Arbeitskräfte und kompetente Hersteller verfügen als auch einen Drang zu eigenständiger Innova­tion entwickeln“.

Nach Gereffi haben diese Länder nicht nur ihre Position innerhalb der Wertschöpfungskette verbessert, sondern auch den Übergang von einer auf externe Nachfrage gestützten Indus­tria­li­sierung zu einem Modell geschafft, das sich auf die Binnennachfrage und regionale Märkte konzentriert.12 Dazu passt, dass China seit ein paar Jahren versucht, seine Währung Renminbi (oder Yuan) zu internationalisieren, um so seine Finanzierungsquellen diversifizieren und sich aus der Abhängigkeit vom Dollar lösen zu können.

Mithilfe eines starken Entwicklungsstaats, der in einer langen Tradition bürokratischer Strukturen wurzelt, bemüht sich China seit über hundert Jahren, sein altes Modernisierungsprojekt zu verwirklichen. In schwächeren Ländern muss sich die Politik auf die Rolle eines „Agenten der Anpassung der nationalen Ökonomie an die Bedürfnisse der Weltökonomie“15 beschränken. Der chinesische Staat hingegen hat es verstanden, sich in die Weltwirtschaft zu integrieren und dennoch seine Autonomie einigermaßen zu bewahren – wenn auch um den Preis großer sozialer Spannungen und Umweltbelastungen. Das Beispiel China sollte uns – obwohl es kaum wiederholbar ist – dazu bringen, die Rolle des Staats in der globalisierten Welt zu überdenken.

1 Siehe Sebastian Hellmann und Jan Gaspers, „Die Neue Seidenstraße“, Le Monde diplomatique, Juni 2017.

2 Vgl. Peter Nolan, „Transforming China: Globaliza­tion, Transition and Development“, London (Anthem Press) 2004.

3 Sebastian Heilmann und Lea Shih, „The rise of industrial policy in China, 1978–2012“, Harvard-Yenching Institute Working Paper Series, 2013.

4 Chalmers Johnson, „MITI and the Japanese Miracle: The Growth of Industrial Policy“, Stanford (SUP) 1982.

5 Robert Boyer, „Heurs et malheurs de l’industrie française: 1945–1995. Essor et crise d’une variante étatique du modèle fordiste“, Centre pour la recherche économique et ses applications (Cepremap), Paris 1998.

6 Zitiert in Suisheng Zhao, „Deng Xiaoping’s southern tour: Elite politics in post-Tiananmen China“, Asian Survey, Berkeley, August 1993.

7 Zitiert in Yasheng Huang, „The role of foreign-invested enterprises in the Chinese economy: An institutional foundation approach“, in: Shuxun Chen and Charles Wolf (Hg.), „China, the United States and the Global Economy“, Rand Corporation, Santa Monica 2001.

8 Jianyong Yue, „Dilemma of national development in globalization: The politics behind China’s acces­sion to the WTO“, PHD-Dissertation, London School of Economics, 2011.

9 Siehe Heilmann und Shih, siehe Anmerkung 3.

10 „State-owned enterprises: The state advances“, The Economist, London, 19. Oktober 2012.

12 Gary Gereffi, „Global value chains in a post-Washington consensus world“, Review of International Political Economy, Heft 1, 2014.

13 Gregory Chin, „Between ‚outside-in‘ and ‚inside-out‘: The internationalization of the Chinese state“, in: David Zweig und Chen Zhimin (Hg.), „China’s Reforms and International Political Economy“, New York (Routledge) 2007.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Philip S. Golub ist Professor an der Amerikanischen Universität von Paris. Autor von: „East Asia’s Reemergence“, Cambridge (Polity Press) 2016.

Aufstieg in Zahlen

Kaufkraftbereinigt ist China derzeit die größte, währungsbereinigt die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt.1 Diesen Aufstieg verdankt es einem stetigen Wachstum, das mit dem Aufschwung Japans zwischen 1950 und 1975 vergleichbar ist (jährlich über 9 Prozent). Chinas Anteil am kaufkraftbereinigten globalen BIP ist von weniger als 2 Prozent im Jahr 1980, dem Beginn des postmaoistischen Übergangs, bis 2014 auf über 17 Prozent gewachsen. Damit liegt das Land vor der Europäischen Union (16,9 Prozent) und den USA (15,9 Prozent). Das kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf, an dem sich die Entwicklung genauer ablesen lässt, vervielfachte sich zwischen 1980 und 2015 von 250 Dollar auf 14 450 Dollar – um das 57-Fache.

Die damit einhergehende Internationa­lisierung der chinesischen Ökonomie hatte starke globale Auswirkungen. Chinas Anteil am Welthandel betrug Anfang der 1970er Jahre weniger als 0,5 Prozent; heute ist es die größte Handelsnation (13,15 Prozent der Exporte, 9,78 Prozent der Importe 2015) und steht im Zentrum der transnationalen Produktion- und Handelsnetze, die die Weltwirtschaft strukturieren.

Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat China Japan im Epizentrum der Regio­nalentwicklung in Ostasien abgelöst und eine bestimmende Rolle bei der Entstehung eines neuen Handels- und Investitionsnetzes „Süd-Süd“ eingenommen.

China hat einen entscheidenden, oft ­dominierenden Anteil am internationalen Handel vieler „aufstrebender“ Länder außerhalb Ostasiens. Das betrifft vor allem Brasilien (2016 gingen 18 Prozent der brasilianischen Exporte nach China, Anfang der 1990er Jahre weniger als 1 Prozent), Chile (18 Prozent), Argentinien (9 Prozent), Südafrika (13 Prozent) oder Indien (11 Prozent). Im selben Zeitraum wurde China dank seiner Exportüberschüsse zum zweitgrößten Gläubiger der Welt hinter Japan und zum zweitgrößten Gläubiger der USA.2

Diese Angaben sagen nichts aus über die Qualität der Entwicklung, also Innovation, Branchenvielfalt, soziale Auswirkung des technischen Fortschritts, und ebenso wenig über die problematischen Folgen eines Wandels, der tiefgehende regionale und soziale Verwerfungen sowie schwere ökologische Schäden verursacht hat.

Die kapitalistische Restrukturierung hat eine duale Gesellschaft hervorgebracht. Der Gini-Koeffizient, der das Auseinanderdriften der Einkommen und damit die Ungleichheit in der Gesellschaft bemisst, ist von 0,16 in den frühen 1980er Jahren auf durchschnittlich 0,4 seit Ende der 1990er Jahre gestiegen (0,27 in Schweden, 0,32 in Frankreich, 0,34 im Vereinigten Königreich und 0,4 in den USA).

Die ungleiche Entwicklung zwischen den Regionen hat sich sehr verstärkt. Gewaltige Unterschiede im Lebens­stan­dard zwischen Stadt und Land führen zu nie dagewesenen Migrationsströmen Richtung Küsten und Großstädte. Industrialisierung und Urbanisierung verursachen dramatische Umweltschäden. Der Anteil der Stadtbevölkerung ist von 16 Prozent 1960 auf 56 Prozent gestiegen und dürfte Mitte des Jahrhunderts 70 Prozent erreichen.

1 Das bedeutet nicht, dass China global mehr Gewicht hat als die USA. 2016 hat China währungsbereinigt 11 200 Milliarden Dollar produziert, die US-Ökonomie 18 569 Milliarden Dollar. Chinas BIP pro Kopf ist aufgrund der Bevölkerungszahl viel schwächer (8260 Dollar gegenüber 56 180 Dollar 2016, Angaben der Weltbank).

2 2008 war China zum größten Gläubiger der USA vor Japan geworden. 2015 kam Japan wieder knapp an die erste Stelle, siehe www.treasury.gov.

Le Monde diplomatique vom 07.12.2017, von Philip S. Golub