07.12.2017

Zeitbombe in Mezamor

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Zeitbombe in Mezamor

Das marode armenische Atomkraftwerk läuft immer weiter – mitten im Erdbebengebiet

von Damien Lefauconnier

1981: Reparaturenin Mezamor SPUTNIK/alamy
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Gut 100 Meter von der Einfahrt zum armenischen Atomkraftwerk Mezamor entfernt machen sich ein paar Frauen an Tomatenstauden zu schaffen. Die vier Kühltürme des Kraftwerks wachsen inmitten von Gemüsefeldern gen Himmel. Nicht weit von hier ragen die erloschenen Vulkane Aragats und Ararat empor. Ersterer ist mit 4095 Metern heute der höchste Berg Armeniens, der Ararat mit 5165 Metern der höchste Berg der Türkei, die 50 Kilometer weiter südlich beginnt. Die Frauen gehen mit vollen Ernte­eimern nach Hause. „Unsere Männer arbeiten alle im Kraftwerk. Sie sagen, das sei ungefährlich“, erzählt die etwa 50-jährige Ayegotsakan. Ihre Freundin Diddora gibt allerdings zu: „Wir haben natürlich schon Angst vor einem nächsten Erdbeben.“

Das Kraftwerk Mezamor liegt knapp 30 Kilometer südwestlich von Armeniens Hauptstadt Eriwan entfernt. Erbaut wurde es zu Sowjetzeiten – an einem Ort, an dem die arabische und die eurasische Erdplatte aufeinandertreffen und daher eine hohe seismische Aktivität herrscht. Der erste Druckwasserreaktor vom Typ WWER 440 mit einer Leistung von 400 Megawatt ging 1976 ans Netz, der zweite, ebenso starke, drei Jahre später. Ein Erdbeben der Stärke 6,9 auf der Richterskala zerstörte 1988 die 60 Kilometer nördlich gelegene Stadt Spitak. 25 000 Menschen kamen dabei um, eine halbe Million wurde obdachlos. Als Vorsichtsmaßnahme schalteten die Behörden danach beide Reaktoren ab.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde Energie in Armenien knapp. Die Lage verschärfte sich noch durch den Krieg um Bergkarabach1 und die Blockaden, die Aserbaidschan und die Türkei gegen Armenien verhängten. 1995 beschloss die Regierung deshalb, den Reaktor Nummer zwei wieder hochzufahren, was in den Nachbarländern große Besorgnis auslöste. Ein EU-Abgesandter schrieb 2004: „Das Atomkraftwerk ist aufgrund seines Alters und seines Standorts in einer Erdbebenregion eine Gefahr für ganz Europa.“2 Die Europäische Union bot 100 Millionen Euro Hilfe an, damit das Kraftwerk vom Netz genommen wird, was Armenien jedoch nicht reichte. Bis heute drängt die Union darauf, dass der Meiler möglichst schnell abgeschaltet wird, weil er den interna­tio­nalen Sicherheitsstandards nicht genügt. Doch aus armenischer Sicht ist das AKW Mezamor überlebenswichtig.

Die Bevölkerung erfährt nicht viel über das Kraftwerk. Die Einwohner von Mezamor sehen gelegentlich Konvois offizieller Fahrzeuge zum AKW fahren. Bei unserem Besuch wurden die Beschäftigten am Eingang durchsucht und mussten außerdem einen Metalldetektor passieren. Zwischen den Gebäuden patrouillierten Soldaten in kleinen Gruppen, es wirkte alles wie ein Freilichtmuseum der sowjetischen Atomindustrie.

Kraftwerksleiter Movses Varda­nian erinnert sich, dass beim Erdbeben 1988 keine einzige Fensterscheibe in dem AKW zu Bruch ging. 1400 technische Verbesserungen habe man seit der Wiederinbetriebnahme 1995 eingeführt. So wurden die Außenwände der Kraftwerksblöcke mit Metallplatten gegen Erdstöße gesichert. Zudem stützen Spezialkonstruktionen Decken und Böden ab, insbesondere in dem Gebäude, in dem die Reaktoren und Turbinen laufen.

Fotografieren ist im unteren Teil der riesigen Halle verboten – kein Wunder, bei dem Gewirr von Rohrleitungen, hinter denen die Maschinen der seit 1989 stillgelegten Kraftwerkseinheit verstauben. Der dazugehörige Reaktor ist noch immer nicht zurückgebaut.

Ein Durchgang führt zum bau­gleichen zweiten Reaktor, der noch in Betrieb ist und besser instand gehalten wird. Die an die dampfführenden Rohre montierten Bleche wirken allerdings wie Flickwerk. Um die besonders gefährdeten Teile gegen Erdbebenstöße zu schützen, sollen 62 hydraulische Dämpfer aus japanischer Produktion unter den großen Kraftwerksblöcken eingebaut worden sein.

In der Kommandozentrale voller Anzeigetafeln und Dioden aus den 1970er Jahren zeigt eine rote Zahl, die auf dem Computerbildschirm hinten an der Wand noch einmal aufleuchtet, den jeweils aktuellen Stand der Energieproduktion an. Dank des IT-Sicherheitssystems lässt sich der Reaktor auch von außen abschalten. Eine Sicherheitshülle um die Reaktorhalle existiert nicht; sie nachträglich einzubauen, kommt nicht infrage, weil die Fundamente die Last nicht tragen würden.

Ein weiteres Problem ist der radioaktive Müll, der seit 1976 in Mezamor angefallen ist und dort auch gelagert wird. Gérald Ouzounian, Chef der französischen Agentur für das Management radioaktiver Abfälle (Andra), weiß von seinen Besuchen in Mezamor, dass die Abfallfässer im Kraftwerk eingelagert sind. „Idealerweise sollten sie aber so aufbewahrt werden, dass auch zukünftig jegliches Risiko ausgeschlossen wird, dass Radioaktivität in die Umwelt entweicht.“

In Mezamor werde das allerdings genauso gehandhabt wie in den anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion: Die atomaren Abfälle verbleiben bis zum Betriebsende in den Kraftwerken selbst und werden erst danach, beim Rückbau der gesamten Anlage, zusammen mit den Abrissresten weiter behandelt. Und dass die Fässer natürlich altern, haben die Planer nicht einkalkuliert. Die armenische Regierung prüft derzeit angeblich ein Vorhaben zur Lagerung radioaktiver Abfälle für die Dauer von 300 Jahren.

Spekulationen über Strahlenschäden

Die Stadt Mezamor liegt einen Kilometer südlich des AKW. Sie wurde eigens für die 1700 Kraftwerksmitarbeiter und ihre Familien gegründet. Baufällige Hochhäuser prägen den Ort. Die Mehrheit der 10 000 Einwohner verlässt sich auf die Arbeit der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), deren Aura sie zu beruhigen scheint und die ungefähr alle zwei Jahre ein Expertenteam nach Mezamor schickt. Der kanadische Ingenieur Greg Rzentowski leitet die Abteilung für die Sicherheit von Atomanlagen bei der IAEO. Er spricht zwar von „Fortschritten bei der Einführung von Schutzsystemen gegen Erdbeben und der Modernisierung mehrerer Sicherheitssysteme“. Doch auf Nachfragen zum Zustand des Reaktors und der konkreten Erdbebengefahr will er unter Berufung auf die IAEO-Kommunika­tions­regeln keine Auskunft geben.

In der Gegend wird über mögliche Strahlenschäden spekuliert. Naira Arakelian, Vorsitzende der Nichtregierungsorganisation „Entwicklung für Armawir“, berichtet von etwa 30 Familien, die über die Behinderungen ihrer Kinder rätseln. Doch zu einem eigens einberufenen Treffen, bei dem wir uns die Schilderungen der Betroffenen anhören wollten, erschienen auch leitende Mitarbeiter des Kraftwerks, die niemanden zu Wort kommen ließen.

Also haben wir eine der Mütter zu Hause aufgesucht.„Vor ein paar Jahren haben wir uns noch öfter getroffen, aber heute nicht mehr“, erzählt Tsovinar Harutiuanian. „Ich erinnere mich an zwei Kinder, die waren blind, und an einige andere mit diversen Handicaps.“ Harutiuanians 20-jähriger Sohn Rostom hat eine schwere geistige Behinderung. „Seine Krankheit kann keine genetische Ursache haben. Bei uns in der Familie gibt es keinen ähnlichen Fall, weder bei mir noch bei meinem Mann. Der arbeitet als Baumaschinenführer im Kraftwerk. Vielleicht gab es irgendwann einen Unfall in dem gefährlichen Bereich.“

Auch Vahagn Chachatrian, von 1992 bis 1996 Bürgermeister von Eriwan und danach für zwei Jahre Präsidentenberater, ist beunruhigt. Ein paar Tage vor unserem Besuch ist ein Freund von ihm, der lange im Kraftwerk gearbeitet hat, an Krebs gestorben. „Ich weiß nicht, ob es eine Verbindung zum Atomkraftwerk gibt. Aber jedes Mal, wenn ich mit dem Auto dort vorbeikomme, denke ich: Das ist gefährlich. Vor allem weil das im Reaktor verbaute Metall schon uralt ist.“

2012 waren Experten der Japanischen Agentur für Entwicklungszusammenarbeit angereist, um die armenische Regierung in Fragen der Erdbebensicherheit zu unterstützen. Sie wunderten sich über den Notfallplan bei nuklearen Unfällen. Die Menschen sollen sich im Erdgeschoss oder in den Kellern ihrer Häuser in Sicherheit bringen. Dabei ist es, wenn die Erde bebt, gerade in Gebäuden äußerst gefährlich, auch weil Nachbeben die Häuser zum Einsturz bringen können. Das Wichtigste ist für solche Fälle, dass eine Eva­kuie­rungsroute festgelegt wird.

Für die Einschätzung der Erdbebengefährdung eines Orts ist unter anderem dessen Entfernung zu einer tektonischen Verwerfung entscheidend. Nach offiziellen Angaben ist die nächstgelegene tektonische Verwerfung 19 Kilometer vom Kraftwerk Mezamor entfernt – was als ausreichend gilt. Hakob Sanasarian, ehemaliger Parlamentsabgeordneter und heute Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation „Green Unions of Armenia“, weist darauf hin, dass Armeniens Regierung die Ergebnisse einer Untersuchung aus dem Jahr 1992 verschweige.

Die Studie haben damals vier Forscher vom Physikalischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften im Auftrag der Nationalen Armenischen Behörde für Erdbebenschutz erstellt. Darin heißt es: „Die größte Gefahr für das Atomkraftwerk stellt eine tektonische Verwerfung in unmittelbarer Nähe der Anlage (0,5 Kilometer) dar. Hier treffen die Erdplatten von Aragaz-Spitak und Süd-Eriwan aufeinander, was hohes seismisches Potenzial birgt.“ Die Untersuchung erinnert auch an mehrere schwere Beben, die im 9. Jahrhundert 50 Kilometer östlich des heutigen Kraftwerks eine Stärke von mindestens 6,5 auf der Richterskala erreichten.

In den Annalen des Jahres 893 wird das verheerende Beben beschrieben, das die 25 Kilometer südöstlich vom heutigen Mezamor gelegene Stadt Dvin, die alte Hauptstadt Armeniens, dem Erdboden gleichmachte. Damals seien 70 000 der 100 000 Einwohner Dvins ums Leben gekommen, schreibt der Zeitzeuge und Gelehrte Thomas Artsruni. Im Armenischen Nationalatlas sind um die 20 Erdbeben der Stärke 5,5 bis 7,5 verzeichnet, die seit dem 9. Jahrhundert im Umkreis von 45 Kilometern um das heutige Atomkraftwerk Mezamor stattfanden. 1830 ereignete sich sogar in unmittelbarer Nähe von Mezamor ein Beben der Stärke 6.

„Ja, das geht auf unsere Untersuchungen zurück“, bestätigt einer der Autoren der Studie von 1992, Walentin Iwanowitsch Ulomow von der usbekischen Akademie der Wissenschaften. Ein anderer Forscher, der Moskauer Professor Jewgeni Alexandrowitsch Rogosin, kann sich hingegen angeblich nicht mehr daran erinnern, ob das Expertenteam die tektonische Verwerfung damals tatsächlich untersucht hat. Die Nachfrage beim Energieministerium nach Informationen über das Erdbebenrisiko wurde abschlägig beschieden, mit dem Argument, dass „diese Dokumente der Öffentlichkeit nicht zugänglich sind“.

Falls aus dem Kraftwerk irgendwann Radioaktivität austritt, wäre die Poliklinik Mezamor die erste Anlaufstation für die medizinische Versorgung. Die Klinikleitung verweist auf ihre Vorräte an Jodtabletten, die dann an die Bevölkerung verteilt würden. Allerdings wirkt das Klinikgebäude nicht gerade vertrauenerweckend, die Wände in den oberen Etagen sind verschimmelt und löchrig. Der Onkologe Samuel Aleksanian beschreibt die Situation folgendermaßen: „Als die Russen weg waren, hat die Kraftwerksleitung beschlossen, kein Geld mehr für das Krankenhaus auszugeben. Die Geburtsstation wurde dichtgemacht und die Abteilung für Strahlenkrankheiten auch. Wer Geld hat, lässt sich jetzt gleich in Eriwan behandeln, alle anderen kommen zu uns.“

Trotz aller Gefahren will Arme­nien auf die Atomkraft nicht verzichten. 2015 verlängerte die Regierung die Laufzeit des AKW Mezamor bis 2026. Bis dahin soll am selben Ort ein neues Kraftwerk gebaut werden, finanziert mit russischer Hilfe und mit einer Gesamtleistung von 600 bis 1000 Megawatt.

1 Siehe auch Philippe Descamps, „Nichts ist normal in Karabach“, in: Le Monde diplomatique, Dezember 2012.

2 Strategiedokument zur Kooperation zwischen Armenien und der Europäischen Union 2007 bis 2013.

Aus dem Französischen von Christian Siepmann

Damien Lefauconnier ist Journalist.

Le Monde diplomatique vom 07.12.2017, von Damien Lefauconnier