09.11.2017

Hinter Bratislava

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Hinter Bratislava

Eine Reise von der slowakischen Hauptstadt nach Osten

von Philippe Descamps

Das andere Košice BJÖRN KIETZMANN
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Touristen drängen sich in der Altstadt Bratislavas, die in den letzten 20 Jahren restauriert wurde. Zu den Bausünden der kommunistischen Ära – schnurgerade Wohnblöcke, eine Stadtautobahn mitten durchs Zentrum – gesellen sich die der Gegenwart: Einkaufszentren und unterkühlte Bürotürme, die einen gewissen Wohlstand anzeigen. Namen ausländischer Firmen prangen an ihren Fassaden. Wenn es um die Slowakei geht, geraten Wirtschaftsexperten gern ins Schwärmen: „Eine robuste, kräftig wachsende Wirtschaft mit gesundem Finanzsektor, eine niedrige Staatsverschuldung und eine hohe internationale Wettbewerbsfähigkeit, die von massiven Investitionen profitiert.“1

Am 5. Juli, dem Feiertag der beiden Heiligen Kyrill und Method, radeln tausende Ausflügler die Donau entlang. Am Zusammenfluss von Morava und Donau, am Fuß der Burg Devín, erinnert eine Stele an die Menschen, die zwischen 1948 und 1989 beim Versuch, den Eisernen Vorhang zu überwinden und nach Westeuropa zu gelangen, ums Leben kamen. Die meisten fahren achtlos daran vorbei. Etwas weiter südlich liegt das riesige Wasserkraftwerk Gabčíkovo-Nagymaros, das 11 Prozent des Strombedarfs der Slowakei deckt. Gegen das Projekt waren in den 1980er Jahren Umweltschützer Sturm gelaufen, mittlerweile ist es ein Ausflugsziel.

Laut dem EU-Statistikamt Eurostat ist die Region Bratislava, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, die sechstreichste Region in Europa. Und trotzdem gibt es hier eine massive Ablehnung von Flüchtlingen, Hetze gegen Roma, Aufwind für die rechten Nationalisten und eine geringe Wahlbeteiligung bei Europawahlen. Wer das besser verstehen will, sollte in die Regionen jenseits der Hauptstadt reisen, wo die Leute ­gerade einmal die Hälfte des europäischen Durchschnittseinkommens verdienen (siehe Grafik) – und man sollte diese Reise mit dem Zug machen.

Unterwegs nach Zvolen. Sobald der Zug die östlichen Vororte von Bratislava passiert hat, fängt Ostmitteleuropa an. Die Mitreisende Miro­slava K. erzählt: „Die Situation in Schulen und Krankenhäusern ist katastrophal. Es fehlt an allem. Die meisten meiner Kollegen haben ihren Beruf inzwischen aufgegeben und arbeiten jetzt in Banken, Versicherungen oder im Ausland.“ Die Lehrerin aus Košice unterrichtet 10- bis 15-Jährige in Geschichte und Kunst. Ihren Nachnamen behält sie lieber für sich, nicht jedoch ihr Gehalt: 600 Euro im Monat. „Das ist immer noch besser als die 400 Euro, die man als Krankenschwester verdient, so wie meine Schwester, die schließlich nach Österreich gegangen ist.“

Viele Lehrkräfte an ihrer Schule wollten schon für höhere Gehälter streiken, taten es am Ende aber nicht, aus Passivität und weil sie Schuldgefühle gegenüber den Kindern hatten. Um an Lernmittel oder Ausstattung für die Klassenräume heranzukommen, muss man sich einiges einfallen lassen. 2013 war Košice Kulturhauptstadt Europas, von den EU-Strukturfonds konnte sich die Schule, in der Miroslava arbeitet, ein paar dringend benötigte Computer anschaffen. Seit zehn Jahren wälzt die Regierung Investitionen in Infrastrukturprojekte, insbesondere im Bereich Schulen und Verkehr, weitgehend auf die Förderprogramme der EU ab.

Banská Bystrica, drei Bahnstunden von Bratislava entfernt. Auf einem Hügel in der Hauptstadt der Zentralslowakei thront unübersehbar das Denkmal des Slowakischen Nationalaufstands. Am 29. August 1944 hatte der Slowakische Nationalrat, ein Bündnis der Widerstandsgruppen gegen das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten, in dem von Jozef Tiso regierten „Ersten Slowakischen Staat“ einen Aufstand initiiert. Die Wehrmacht brachte das Gebiet im Oktober 1944 wieder unter ihre Kontrolle, während die aufständischen Soldaten und die Widerstandskämpfer in den Bergen ausharrten und auf die Rote Armee warteten.

Seine aktuelle Bekanntheit verdankt Banská Bystrica allerdings vor allem der Tatsache, dass hier 2013 Marian Kotleba von der rechtsextremen Partei Unsere Slowakei zum Regionalpräsidenten gewählt wurde. Er ist ein Scharfmacher, der gern neofaschistische Töne anschlägt und in alten Uniformen auftritt. Seit den Wahlen im März 2016, bei denen er 8 Prozent der Stimmen erhielt, sitzt er auch im slowakischen Nationalrat, mit 13 weiteren Abgeordneten seiner Partei, die sich für einen Austritt der Slowakei aus der Nato und der EU starkmachen.

Am Fuße des kleinsten Hochgebirges der Welt

„Die meisten seiner Wähler sind nicht wirklich überzeugt von Kotleba, sie stimmen eher aus Verzweiflung für ihn“, meint Ján Lunter, Kontrahent von Kotleba, vor der Regionalwahl am 4. November. „Angesichts der dramatischen Zunahme der Armut und der anhaltenden Arbeitslosigkeit kommen radikale Lösungsvorschläge gut an.“ Vor 1989 arbeitete Lunter als Informatiker bei einer landwirtschaftlichen Kooperative, nach dem Regimewechsel war er in EDV-Abteilungen tätig und gründete schließlich die Lebensmittelfirma AlphaBio, die 200 Mitarbeiter beschäftigt. „Ich möchte zeigen, dass man die Dinge verändern kann mit einem Projekt, das die Qualitätslandwirtschaft und den Tourismus weiterentwickelt“, erklärt Lunter, in dessen Firma 10 Prozent der Beschäftigten Roma sind.2

Tisovec, in der hügeligen Umgebung des Na­tio­nalparks Muránska planina. An der Landschaft lässt sich die Entwicklung der letzten Jahrzehnte ablesen, von der rasanten Industrialisierung der 1960er und 1970er Jahre bis zum radikalen Rückbau der „sozialistischen“ Wirtschaft in den 1990ern. Die Wälder rund die Dörfer sind durch illegale Abholzung ausgedünnt. In jedem Ort eine Kohlegrube, ein Steinbruch, eine Fabrik und Schlote. Doch nur wenige qualmen noch. Im Zentrum von Tisovec parkt ein alter Škoda neben dem Haus von Vladimír Clementis. Dieser Sohn der Stadt war Außenminister der kommunistischen Tschechoslowakei, 1952 wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die drei jungen Leute, die aus dem Auto steigen, sind alle nach 1989 geboren und mehr mit der Gegenwart als mit der Vergangenheit beschäftigt.

„Wenn ich hier so um die 1000 Euro verdienen könnte, würde ich bleiben“, meint Andrej. Der Lackierer ist irgendwann ins fünf Autostunden entfernte Wien abgewandert, wo er 2000 Euro im Monat bekommt. Sein Freund Marian L., der in der Region geblieben ist, darf nicht sagen, wie viel er als Auslieferungsfahrer verdient, aber sein Gehalt dürfte nur knapp über dem Mindestlohn von 405 Euro im Monat liegen. Seit dem Beitritt zur Eurozone 2009 sind in der Slowakei die Preise gestiegen, aber die Gehälter nicht. Das Geld, das das Land von der EU bekommt, fließt vor allem in den Bau von Straßen und Schulen. Arbeit haben dadurch nur wenige. Der Wirtschaftswissenschaftler Joachim Becker schreibt dazu: „In der Slowakei wird erkennbar, dass der Regionalförderung der EU Grenzen gesetzt sind und dass hier eine Industriepolitik fehlt. Es reicht nicht, in die Infrastruktur der Randregionen zu investieren; wir brauchen produktive Investitionen. Ich sehe keine andere Lösung als staatliche Initiativen, wenn man die Zunahme des Ungleichgewichts zwischen den Regionen aufhalten will.“3

Patrick V., der dritte Mann aus dem Škoda, arbeitet für weniger als 600 Euro im örtlichen Kalkwerk Calmit. Nachdem ein Österreicher seine Firma übernommen hatte, wurde modernisiert: Die umweltschädlichen alten Öfen wurden ausgetauscht – viele Beschäftigte verloren ihren Job. Die anderen nicken zustimmend, als Patrick sein Desinteresse für Politik begründet: „Die Älteren sagen, im Sozialismus war es besser. Unsere Eltern haben an die Versprechungen der 1990er Jahre geglaubt, aber heute sind sie sehr kritisch geworden. Und wir selbst wollen vor allem nicht, dass unsere Freunde ins Ausland gehen müssen, um Arbeit zu finden.“ 2015 hatten beinahe 150 000 Slowaken, das heißt 6,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung, einen Job in Grenznähe. Insgesamt sind etwa 250 000 Arbeitnehmer ins Ausland abgewandert, was die Hassliebe zum Westen nährt.

In der Umgebung der ostslowakischen Kleinstadt Rožňava. In der Burg Krásna Hôrka oberhalb der Gemeinde Krásnohorské Podhradie, die von 1938 bis 1945 zu Ungarn gehört hat, war am 10. März 2012 ein Großbrand ausgebrochen, der ziemlich schnell zwei Roma-Jungen angelastet wurde. Daraufhin marschierte der rechtsextreme Kotleba mit seinen Handlangern ins Roma-Viertel und legte alte Besitzurkunden vor, um die Familien zu vertreiben. „Alle hatten damals große Angst“, erzählt Ľudovít Gunár, Sprecher des Viertels und damals einziger Roma im Gemeinderat. „Ich bin zum Radio gegangen und hab den anderen Bewohnern, von denen viele der ungarischen Minderheit angehören, erklärt, dass wir zusammenhalten müssen und dass beim nächsten Mal vielleicht sie selber dran sind.“

Inzwischen konnten mit EU-Mitteln die Hauptstraße asphaltiert und die Wasserleitungen erneuert werden. Der Kontrast zu anderen Vierteln ist dennoch unübersehbar: große Armut, zusammengezimmerte, winzige Behausungen, zugleich aber auch viel mehr Leben, Kinder, Tiere, Musik auf den Straßen. Hier wie in der übrigen Slowakei sind die Roma in ein Ghetto eingesperrt; ihre Lebenserwartung ist 11 Jahre (Männer) beziehungsweise 14 Jahre (Frauen) niedriger als beim Durchschnitt der Slowaken.

„In meiner Kindheit haben alle in der Landwirtschaft oder in der Textilindustrie gearbeitet und die Kinder gingen alle in dieselbe Schule“, erinnert sich Gunár. „Doch vor 20 Jahren haben die Weißen beschlossen, ihre Kinder nach Rožňava zu schicken. Nur unsere Kinder gehen weiter in die Dorfschule, und mehr als 70 Prozent meiner Nachbarn sind arbeitslos.“

Seitdem es kaum noch gering qualifizierte Jobs in der Landwirtschaft gibt, stellt die auf 450 000 Personen (von 5,4 Millionen Einwohnern) geschätzte Roma-Bevölkerung einen Großteil der Langzeitarbeitslosen. In diesem Bereich schlägt die Slowakei europaweit alle Rekorde: 7,1 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung sind seit mehr als einem Jahr ohne Job. Sie alle müssen mit 62 Euro Arbeitslosengeld im Monat zurechtkommen; der Betrag verdoppelt sich, wenn man 17 Stunden gemeinnützige Arbeit leistet. Noch viel zu großzügig sind diese Leistungen in den Augen von Kotleba und den Parteien, die über das „Sozialschmarotzertum“ herziehen.

Košice, die zweitgrößte Stadt des Landes. 1995 änderte die Stadt im Osten der Slowakei ihre Wohnungspolitik und siedelte sozial benachteiligte Haushalte in den Stadtteil Luník IX um, der dadurch zu einem der größten Roma-Ghettos Ostmitteleuropas wurde. Daraufhin zogen die meisten anderen Familien in den Norden der Stadt um, nach Sídlisko Ťahanovce, die letzte verbliebene Wohnanlage aus kommunistischen Zeiten. Heute leben hier etwa 22 000 Menschen.

Um die verfügbaren Flächen optimal zu nutzen, wurden in den frühen 1980er Jahren in Sídlisko Ťahanovce Häuserblocks und Wohntürme hochgezogen. Inzwischen hat der Vorort die größte Bevölkerungsdichte der Slowakei. Der Bürgermeister des Stadtteils, Cyril Betuš, ist stolz auf die vielen Geschäfte, Schulen und Sportanlagen, die den Ort lebendig machen. Ein großes Hindernis ist in seinen Augen die Frage des Eigentums an Grund und Boden. „Der ursprüngliche Bebauungsplan hat nicht berücksichtigt, dass die Zahl der Autos derart zunehmen würde“, erklärt Betuš. „Heute müssen wir viel umbauen, um einen Verkehrskollaps zu vermeiden und die Parkplatzsituation zu verbessern. Aber leider ist es fast unmöglich, den Grundbesitz anzutasten. Die Kommunisten haben sich nicht um ordentliche Enteignungsverfahren gekümmert, und seit dem Restitutionsgesetz von 1989 liegen alle Ansprüche bei den Alteigentümern. Sie alle ausfindig zu machen, ist kompliziert, und wenn es gelingt, verlangen sie horrende Preise.“ Früher lebten in Sídlisko Ťahanovce Menschen verschiedener Nationalitäten, einschließlich Flüchtlinge aus Tschernobyl. Seit der Privatisierung gibt es hier keine einzige Sozialwohnung mehr.

Levoča, am Fuße des kleinsten Hochgebirges der Welt. Die Gipfel der Hohen Tatra sind der ganze Stolz der Slowaken und sind auch auf ihrer Nationalflagge, unter dem Doppelkreuz abgebildet. Hier, in der ärmsten Region des Landes, liegt, von Mauern umgeben, die Kleinstadt Levoča, in der das erste slowakische Gymnasium erbaut wurde. Hier steht auch das Denkmal von Ľudovít Štúr, der im 19. Jahrhundert die slowakische Schriftsprache kodifizierte. Für Štúr waren das Dorf, die schöne Landschaft und die Sprache Quell des „nationalen Lebens“. Mit Festivals, aber auch in öffentlichen Reden pflegen die Slowaken diese bäuerliche Vergangenheit und ihre Folklore. Es ist eine Rückkehr zum „Ethnonationalismus“ der Ära Mečiar (Vladimír Mečiar war von 1992 bis 1998 Ministerpräsident), wobei verschleiert wird, dass nationale Narrative in eine Sackgasse führen. Die Slowaken, die es eigentlich geschafft haben, ihr eigenes Staatswesen aufzubauen, erleben in Wahrheit seit 25 Jahren den Verfall ihres Sozialstaats. Sie fühlen sich nach wie vor beherrscht von äußeren Mächten – auch wenn die unklaren und oft mit Korruptionsaffären verbundenen EU-Subventionen als Ausgleich für die geringen öffentlichen Investitionen wirken.

„Den Kommunisten ist es in all den Jahren nicht gelungen, eine antiwestliche Stimmung zu schüren, aber heute ist die ziemlich stark“, konstatiert Juraj Marušiak, Politologe an der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. Nachdem die Realeinkommen zwischen 1970 und 1985 um ungefähr 50 Prozent gestiegen waren, gingen sie in den 1990er Jahren zurück. Erst 2007 erreichte das Bruttoinlandsprodukt wieder das Niveau von 1989. „Die Slowaken fühlen sich vom Westen nicht als gleichwertige Partner wahrgenommen“, so Marušiak. „Und sie sind zutiefst frustriert über die neoliberalen Wirtschaftsreformen, für die sie ihre Eliten verantwortlich machen.“

Brigita Schmögnerová, Finanzministerin in den Jahren 1998 bis 2002, beklagt das allgemeine Sozialdumping. „Seit der EU-Osterweiterung interessieren sich die ausländischen Firmen nur noch dafür, wo sie die billigsten Arbeitskräfte herbekommen. Und die Regierungen der Region wetteifern darum, das niedrigste Steuerniveau anzubieten, statt dass sie ihre Kräfte bündeln.“

Bei ihrem EU-Beitritt 2004 war die Slowakei das erste OECD-Land, das einen einheitlichen Steuersatz von 19 Prozent einführte, und zwar für Körperschaftsteuer, Einkommensteuer und Mehrwertsteuer. Da es keine Steuerprogression gab, nahmen die sozialen Ungleichheiten deutlich zu. Mit dem Versprechen, für mehr Steuergerechtigkeit zu sorgen, konnten die Sozialdemokraten mehrere Wahlen für sich entscheiden. Der 2006, 2012 und 2016 gewählte Robert Fico ist in der dritten Amtszeit Ministerpräsident, mit einer kurzen Unterbrechung zwischen 2010 und 2012.

Dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Partei Smer-SD4 gelang es, sich an der Macht zu halten, indem er das beim EU-Beitritt durchgesetzte liberale Steuermodell nur geringfügig reformierte, ohne die „komparativen Vorteile“ seines Landes bei den Löhnen infrage zu stellen. Inzwischen gibt es zwei Einkommensteuersätze (19 und 25 Prozent); Lebensmittel werden nur noch mit 10 Prozent besteuert; auf Kurzzeit befristete Arbeitsverträge sind die Ausnahme; Personen, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld mehr haben, erhalten ein Minimum an Sozialhilfe; und für Studierende, Rentnerinnen und Rentner ist der öffentliche Nahverkehr kostenlos.

Fico redet zwar gern von den Vorzügen des Wohlfahrtsstaats, doch von staatlichem Handeln ist nicht viel erkennbar, und die Ausgaben für Gesundheit, Bildung und Wohnungsbau liegen deutlich unterhalb des europäischen Durchschnitts. Außerdem wirkt die Smer-Partei, die sich zur Regierungsbildung mit nationalistischen Gruppierungen zusammengeschlossen hat, eher wie ein Sammelbecken für alle möglichen Einstellungen, gern auch konservative. Robert Fico selbst meint zum Beispiel: „Der Islam hat keinen Platz in der Slowakei.“ Beim Parteikongress im Dezember 2016 kündigte er Maßnahmen an gegen „die zweite Generation, die nicht arbeiten will“, sowie gegen Leute, die „das System missbrauchen“, wobei er hinzufügte: „nicht nur die Zigeuner“. „Die Sprache der Intoleranz ist leichter in einem Land, in dem man jeden Sinn für das Gemeinwesen zerstört hat“, erklärt Miroslav Tizik, Soziologe an der Akademie der Wissenschaften. „Dieselben Medien, die heute moralisierend Toleranz predigen, hämmern uns seit 25 Jahren ein, jeder solle sich um sich selbst und nicht um andere kümmern.“

Zurück in Bratislava. Wir treffen Karol Klo­bu­šický an der „Partisanenwiese“ im Waldpark, an den Ausläufern der Kleinen Karpaten, die im Stadtgebiet von Bratislava beginnen. 2005 hatte Klo­bušický einen erfolgreichen Studentenstreik gegen die Einführung von Studiengebühren angeführt. Später konnten dank seiner Beratung engagierte Ärzte die Privatisierung der Krankenhäuser aufhalten. Und bei dem sechstägigen Streik bei Volkswagen Slovakia im Juni dieses Jahres hatte er wieder die Hand im Spiel. VW ist mit 12 300 Beschäftigten der größte private Arbeitgeber im Land. Mit dem von der Regierung unterstützten Arbeitskampf konnte man immerhin bestimmte Lohnerhöhungen durchsetzen.

Klobušický findet die Gewerkschaften aber immer noch zu schwach. „Der Streik hat eine tiefe Frustration ans Licht gebracht. Die slowakischen Arbeitnehmer verstehen nicht mehr, warum sie so viel weniger verdienen als ihre Kollegen in Westeuropa. Sie glauben, sie werden schlecht bezahlt, nur weil sie Slowaken sind, und sehen sich als Opfer von Fremdenfeindlichkeit. Von da aus ist es dann kein weiter Weg mehr zu der Überzeugung, dass die EU-Gelder in erster Linie korrupten Politikern, Migranten oder Roma zugutekommen.“ Dass diese Logik alles andere als unausweichlich ist, zeigt der Erfolg des ersten großen Streiks in der Privatwirtschaft seit 1989.

1 2017 OECD Economic Survey of the Slovak Republic, Bratislava, 21. Juni  2017, www.oecd.org/slovakia/economic-survey-slovak-republic.htm.

2 Lunter hat die Abstimmung um den Gouverneursposten in Banská Bystrica am 4. November gewonnen.

3 Joachim Becker, „Europe’s other Periphery“, New Left Review, Mai/Juni 2016, S. 39–64.

4 Smer (dt. „Richtung“) entstand 1999 aus einer Spaltung der Partei der demokratischen Linken (SDL, Nachfolgerin der Kommunistischen Partei). 2005 vereinigte Smer sich mit der SDL und der So­zial­demokratischen Alternative (SDA) und der von Alexander Dubček 1990 gegründeten Sozialdemokratischen Partei der Slowakei (SDSS).

Aus dem Französischen von Regine Schmidt

Silvia Rupeldtova und Milan Jaron aus der Slowakei haben an diesem Artikel mitgearbeitet.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2017, von Philippe Descamps