12.10.2017

Sowjetische Diplomaten

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Sowjetische Diplomaten

von Gabriel Gorodetsky

Rapallo, 1. Januar 1922. Reichskanzler Joseph Wirth beim Smalltalk mit Leonid Krassin (Mitte), Georgi Tschitscherin (mit Aktentasche) und Adolf Abramowitsch Joffe (rechts) ullstein bild
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Nach ihrer Machtübernahme verzichteten die Bolschewiki zunächst darauf, außenpolitische Grundsätze zu formulieren. Sie hielten die Sicherheit Russlands erst für gewährleistet, wenn die Gefahr einer imperialistischen Intervention durch eine Revolution im Westen gebannt wäre. Andererseits waren sie auf technische und wirtschaftliche Unterstützung der westlichen Länder angewiesen, um im rückständigen Russland die Grundlagen für den Sozialismus zu schaffen.

Als Kommissar des Auswärtigen fungierte Leo Trotzki, der als Verfechter der „permanenten Revolution“ für dieses Amt nur Verachtung übrig hatte. Er sah keinen Sinn darin, diplomatische Beziehungen mit kapitalistischen Re­gimes anzuknüpfen, wo doch deren Ende unmittelbar bevorstand. Gegenüber Mitarbeitern des Kommissariats äußerte er die Absicht, die Geheimverträge zu veröffentlichen, die das alte Regime mit imperialistischen Regierungen geschlossen hatte. Anschließend wolle er „den Laden zumachen“ und sie alle entlassen.

Knapp zehn Jahre später kommentierte das britische Außenministerium den Aufstieg des „starken, strengen, schweigsamen“ Josef Stalin zum unangefochtenen Parteiführer mit spürbarer Erleichterung: Es sei nicht überraschend, „dass die Niederlage der fanatischen bolschewistischen Opposition eine Außenpolitik ankündigt, die ,nationale Instrumente‘ nutzt.“

An der Kluft zwischen den Auffassungen Trotzkis und Stalins lässt sich der Wandel in der sowjetischen Außenpolitik ablesen, deren Angelpunkt auch nach dem Ausbleiben der Revolutionen in Zentral- und Osteuropa der Klassengegensatz blieb. Die Normalisierung der Beziehungen zu anderen Ländern wurde selten als eigenständiges Ziel behandelt, sondern mehr als Taktik zur Erweiterung des eigenen Spielraums. In diesem Sinne formulierte Lenin bereits im November 1920: „Wir haben immer noch keinen internationalen Sieg errungen, der für uns die einzige Garantie für echte Sicherheit ist. Doch heute sind wir in ein neues Zeitalter eingetreten, in dem wir als wichtige Größe auf der internationalen Bühne anerkannt werden.“

Wichtige Meilensteine waren aus Sicht des neuen Regimes das Dekret über den Frieden (ohne Annexionen und Entschädigungen) gleich nach der Revolution; der Vertrag von Brest-Litowsk, der den Krieg mit Deutschland beendete; und der Vertrag von Rapallo zwischen Deutschland und der Sowjet­union im Jahr 1922 (siehe Chronik, Seite 18). Doch für ein Regime, das sich selbst als dynamisch und internationalistisch verstand, war das Streben nach Anerkennung und politischer Stabilität ein zweischneidiges Schwert.

Da die Bolschewiki verzweifelt bemüht waren, ihre Prinzipien hochzuhalten, mussten sie in der Außenpolitik zwei Linien verfolgen: Einerseits versuchten sie, ihre nationale Sicherheit durch eine Intensivierung der diplomatischen Beziehungen mit dem Westen zu gewährleisten. Zugleich förderten sie Subversion und revolutionäre Umtriebe, wenn die Umstände günstig schienen – und unterstützten selbst so aussichtslose Aktionen wie den gescheiterten Hamburger Aufstand von 1923.

Der Widerspruch spitzte sich 1924 zu, als Großbritannien, Frankreich und Italien zur Überraschung der Moskauer Regierung die Sowjetunion anerkannten und die Komintern zugab, dass die Weltrevolution nicht so bald kommen werde wie erhofft. Wie konnte die Sow­jet­union unter diesen Umständen ihre nationalen Interessen wahren, ohne ihr Image als Avantgarde der Weltrevolution zu beschädigen? Die Komintern wurde nach und nach auf die sowjetische Außenpolitik verpflichtet, während ihre internationalistische Fassade erhalten blieb. Der XI. Parteitag 1922 beschloss eine Politik der „Einheitsfront“ und eröffnete damit die Möglichkeit von Kompromissen im Rahmen einer Zusammenarbeit mit nichtkommunistischen Arbeiterorganisationen.

Das Verhältnis zu Großbritannien in der kritischen Phase von 1924 bis 1927 illustriert die Widersprüche dieser Politik. Im Februar 1924 erkannte Großbritanniens erste Labour-Regierung unter Ramsay MacDonald die Sowjetunion an, wenn auch widerstrebend. Aber die Abneigung des Pre­mier­ministers gegen die Vorgänge in der Sowjetunion und sein fehlender politischer Rückhalt standen einer Verbesserung der Beziehungen im Wege. Im November konnte die konservative Partei nach einem Wahlkampf, in dem sie die Labour Party mit der „kommunistischen Gefahr“ gleichgesetzt hatte, die Regierung zurückerobern. Die Sowjetunion fand sich in der Defensive und war bestrebt, ihre inzwischen geknüpften Verbindungen zur britischen Arbeiterbewegung für ihre diplomatischen Ziele zu nutzen.

Diese Hoffnung findet ihren Grund in den Erfahrungen Russlands zwischen 1918 und 1920, als die britische Linke das militärische Eingreifen in den russischen Bürgerkrieg kritisiert und sich mit der Parole „Hände weg von Russland“ der Entsendung von Truppen und Munition an die russische Front standhaft widersetzt hatte. Auf Druck der Basis forderten die Labour Party und der Gewerkschaftsdachverband TUC (Trades Union Congress) die Regierung auf, die britischen Truppen „unverzüglich“ aus Russland zurückzuholen. Und als im August 1920 die Rote Armee auf Warschau vorrückte, verhinderte die Gewerkschaft der Hafenarbeiter das Verladen von Waffen auf das Schiff „Jolly George“, das nach Danzig auslaufen sollte.

Lenin setzte in die „britischen Sowjets“ große Hoffnungen. Aber seine Vorstellung von den „britischen Menschewiken“ als Wegbereiter für die „bolschewistische Revolution“ war eher unrealistisch: Die britischen Gewerkschaften waren zwar durch die Russische Revolution beeinflusst, aber nach dem Ersten Weltkrieg auch stark pazifistisch eingestellt. So blieb die Kampagne „Hände weg von Russland“ der erste und letzte ernsthafte Versuch der britischen Linken, die Regierung zu einer bestimmten Außenpolitik zu zwingen.

Wie weit sich die sowjetische Außenpolitik von der ursprünglichen Ideologie entfernt hatte, wurde 1924 deutlich, als die Sowjets mit ihrem mittlerweile typischen Pragmatismus auf eine „Einheitsfront“ mit den TUC-Führern drängten. Der ersten Labour-Regierung gehörten viele Gewerkschaftsführer an. Damit rückten in die TUC-Spitze viele linke Politiker nach, die zuvor mit der KPdSU kooperiert hatten und der Sowjetunion freundschaftlich verbunden waren.

Doppeltes Spiel mit den britischen Genossen

Während der neun Monate Labour-Regierung hatte diese Gewerkschaftsspitze großen Einfluss auf das Verhältnis zu Moskau. Im Wissen um dieses Potenzial drängten die Russen auf eine feste Vereinbarung mit dem TUC. Dabei verhüllten sie ihre Absichten durch eine marxistisch-dialektische Rhetorik, die die Vereinbarung als reine Klassensolidarität darstellte. Die britische KP musste dieses Vorgehen unterstützen, obwohl sie fürchtete, damit ihre Identität zu verlieren und sich letztlich selbst zu zerstören.

Als die Konservativen wieder an die Macht gelangt waren, drängten die Bolschewiki die britischen Gewerkschaftsführer, einen gemeinsamen Ausschuss mit sowjetischen Gewerkschaftsvertretern zu etablieren, was im April 1925 geschah. Das englisch-russische Joint Advisory Council hatte die Aufgabe, „die freundschaftlichen Beziehungen“ zwischen beiden Bewegungen „enger zu knüpfen“.

Nach dem Sturz der Labour-Regierung war die Führung des TUC jedoch an gemäßigtere Gewerkschafter wie Ernest Bevin und Walter Citrine übergegangen. Die befürworteten die Kooperation mit Moskau nur noch aus wirtschaftlichen Gründen: Die Öffnung russischer Märkte für britische Produkte sollte dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit in Großbritannien abzubauen.

Aus Sicht Moskaus hatte diese Form der Kooperation allerdings den Nachteil, dass die britischen Gewerkschaften im Falle einer außenpolitischen Krise nicht zu militanten Protestaktio­nen oder diplomatischen Initiativen verpflichtet waren. Die sowjetische Auffassung war anachronistisch. So wie die Bolschewiki die Gefahr einer neuerlichen britischen Militärintervention übertrieben hatten, überschätzten sie jetzt den möglichen Beistand der britischen Arbeiterbewegung. Die inneren Widersprüche dieser Politik und die Notwendigkeit, Prioritäten zu setzen, standen im Zentrum einer erbitterten Debatte, die von der trotzkistischen Opposition eröffnet wurde. Auf dem XIV. Parteitag der KPdSU im Dezember 1925 forderten die Trotzkisten die Auflösung der Partnerschaft mit dem TUC.

Während die Sowjetunion auf eine diplomatische Annäherung an Großbritannien hinarbeitete, ließ ihr Inte­res­se am gemeinsamen Gewerkschaftsausschuss nach. Als es dann 1926 zu einem Arbeitskampf in der britischen Bergbauindustrie kam, beschloss der Kreml, den Ausschuss nicht aufzulösen, eine Entscheidung, die die Trotzkisten als Opportunismus kritisierten.

Der Kreml erkannte den Wert des Ausschusses in einer Zeit, da der Sowjetunion die internationale Isolation drohte. In London drängten die konservativen Hardliner die Regierung, die Beziehungen zu Moskau zu kappen. Der von den Briten inspirierte Vertrag von Locarno 1925, der als Schritt zur Aussöhnung mit Deutschland gedacht war, entwertete aus der Sicht Moskaus den Vertrag von Rapallo und verschärfte die Isolation Russlands. Zudem ebnete er für Deutschland den Weg zur Aufnahme in den Völkerbund, der nach russischer Auffassung einen Kreuzzug gegen die Sowjetunion führte.

Die Risiken der zweigleisigen „Ein­heitsfront“-Taktik wurden vollends offenbar, als der TUC im Mai 1926 zur Unterstützung des Bergarbeiterstreiks einen Generalstreik für Großbritannien ausrief. Obwohl die Sowjetunion von dieser Entwicklung überrascht wurde, fühlte sie sich zunächst gezwungen, getreu ihrer Rolle als Führer der Weltrevolution den Generalstreik zu unterstützen. Nach dessen Scheitern warf Moskau dem TUC „Verrat an den Bergarbeitern“ vor, weil er sich geweigert habe, finanzielle Unterstützung aus Moskau anzunehmen.1

Allein die Erwähnung einer Hilfe aus Moskau führte in London zur Forderung, die russischen Diplomaten aus Großbritannien auszuweisen. Die Sowjets konnten das Rezept nicht umsetzen, das die zweigleisige Politik diktiert hatte. Stalin beschloss, nachdem die Opposition Trotzkis abgewehrt war, die Solidarität mit dem TUC weiter zu pflegen – in der Absicht, sie als diplomatisches Instrument zu nutzen. Die Komintern und die Profintern kritisierten jedoch ihre britischen Partner weiter hart. Damit wurden die Beziehungen zum TUC ausgerechnet zu einer Zeit beschädigt, als man dessen ­Unterstützung dringend gebraucht hätte, als nämlich die britische Regierung alle Beziehungen zur Sowjetunion abzubrechen drohte.

Im Herbst 1926 unternahm Moskau einen letzten Versuch, die Krise doch noch abzuwenden. Die Diplomaten Iwan Maiski, der 1932 Botschafter in Großbritannien wurde,2 und Leonid Krassin, ein konservativer Traditionalist, wurden nach London entsandt; zugleich wurden die Aktivitäten der Komintern deutlich gebremst. Aber diese Schritte kamen zu spät, um eine Kette diplomatischer Niederlagen im Jahr 1927 zu verhindern. Deutschland orientierte sich immer stärker nach Westen. Im April durchsuchte die chinesische Polizei – auf britischen Wunsch – die Büros der sowjetischen Delegation in Peking, zur gleichen Zeit schlachteten die Truppen von Chiang Kai-shek chinesische Kommunisten ab.

Im Mai veranlasste die britische Regierung eine Razzia in den Büros der sowjetischen Handelsdelegation in London, bei der angeblich Dokumente gefunden wurden, die subversive Umtriebe belegten. Daraufhin brach London die diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion ab. Auch mit der gewerkschaftlichen Solidarität war es vorbei, als der TUC Anfang Juli 1927 aus dem englisch-russischen Joint Advisory Council austrat. Im September gerieten auch die Wirtschaftsgespräche zwischen Moskau und Paris ins Stocken, und Frankreich erklärte den sowjetischen Botschafter Christian Rakowski zur unerwünschten Person.

Das Jahr 1927 löste in Moskau akute „Kriegsängste“ und Pessimismus aus. Und die Erkenntnis, dass die sowjetische Außenpolitik gescheitert war. 1930 wurde der Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten, Georgi Tschitscherin, von seinem Stellvertreter Maxim Litwinow abgelöst, der auf konventionelle Diplomatie und die Integration in das europäische Staatensystem setzte.

In der Folge ersetzte die Sowjet­union ihre feindselige Haltung zu kapitalistischen Regimen durch das Bekenntnis zu einer friedlichen Koexistenz. Es begann eine weitere „Atempause“. Mit der schrittweisen Aufgabe der revolutionären Ambitionen näherte sich die sowjetische Diplomatie immer stärker dem westlichen Vorbild an. Und konnte sich sogar ein Ansehen verschaffen, das zuvor Diplomaten anderer Länder vorbehalten war.

1 In der Tat hatte die TUC-Führung am 8. Mai 1926 beschlossen, eine erste Rate von 25 000 Pfund – formell gespendet von der Gewerkschafts-Internationale Profintern – mit der Begründung zurückzuweisen, der Klassenfeind könnte die Annahme des „roten Goldes“ propagandistisch ausnutzen.

2 Siehe „Diplomatie in Zeiten des Krieges“, Le Monde diplomatique, Januar 2016.

Aus dem Englischen von Ursel Schäfer

Gabriel Gorodetsky leitet das Cummings Center for Russian and East European Studies an der Universität Tel Aviv und ist Herausgeber der „Maiski-Tagebücher“, München (C. H. Beck) 2016.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2017, von Gabriel Gorodetsky