12.10.2017

Chancen horten

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Chancen horten

von Richard V. Reeves

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Ende Januar 2015 geriet Barack Obama in politische Verlegenheit. Ein Haushaltsvorschlag, den er in den Kongress eingebracht hatte, war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Dabei war er vernünftig, einfach und fortschrittlich. Nach § 529 des Einkommensteuergesetzes kann man in den USA steuerbegünstigt Geld für die Collegeausbildung ansparen (529 College Savings Plans).

Mehr als 90 Prozent dieser Steuervorteile gehen nach Berechnungen des US-Finanzministeriums an Familien, deren Einkommen im obersten Viertel liegen. Diese Steuervorteile wollte Oba­ma streichen. Die Mehreinnahmen sollten breitere und gerechtere Steuerentlastungen finanzieren – eine eigentlich naheliegende Idee.

Doch der Präsident unterschätzte die Wut der oberen Mittelschicht. Kaum waren die Pläne bekannt gegeben, fingen die Demokraten an, unauffällig Widerstand zu organisieren. Der Abgeordnete Chris Van Hollen aus Maryland (inzwischen Senator) rief Nancy Pelosi an, die Sprecherin der Demokraten im Repräsentantenhaus. Pelosi saß gerade mit Obama in der Air Force One, auf dem Flug von Indien nach Saudi-Arabien. Über dem Arabischen Meer überzeugte sie den Präsidenten, die Reform fallen zu lassen.

Die Episode zeigt, dass vernünftige Politik nicht leicht durchzusetzen ist, zumal wenn fast alle, die darüber schrei­ben, sie analysieren und kommentieren, von den früheren Regelungen profitiert haben. Pelosi und Van Hollen vertreten beide liberale, wohlhabende Wahlkreise mit hohem Bildungsniveau. Beinahe die Hälfte ihrer Wähler leben in Haushalten mit sechsstelligen Jahreseinkommen. Ich muss es wissen: Van Hollen war damals mein Kongressabgeordneter. Meine Nachbarn und ich sind die Menschen, die in die steuerbegünstigten College-Sparpläne einzahlen.

Wie Paul Waldman in einem Blog der Washington Post schrieb, traf der Vorschlag „die Wählergruppe, die man am wenigsten vergraulen darf: die obere Mittelschicht – reich genug, um Einfluss zu haben, und zahlreich genug, um einen homogenen Wählerblock zu bilden“.1 Wie eine Röntgenaufnahme enthüllte die Kontroverse die wichtigste Bruchlinie in der US-Gesellschaft: die zwischen der oberen Mittelschicht – grob gesprochen das oberste Fünftel der Gesellschaft – und dem Rest.

In den Diskussionen über soziale Ungleichheit steht häufig das „oberste eine Prozent“ im Mittelpunkt, als wären die „unteren“ 99 Prozent allesamt in einer mehr oder weniger gleich misslichen Lage. Oft hat es den Anschein, als regten sich die Leute in der Nähe der Spitze besonders über die ganz oben auf: Mehr als ein Drittel der Teilnehmer der großen Occupy-Wall-Street-Demo vom 1. Mai 2012 kamen aus Haushalten mit einem Jahreseinkommen von mehr als 100 000 Dollar.2

Die politische Energie sowohl der linken Kräfte um Bernie Sanders als auch der Rechten von der „Tea Party“ kommt zum größten Teil aus der oberen Mittelschicht. Die Fixierung auf die dünne Oberschicht erlaubt uns, den Angehörigen der oberen Mittelschicht, zu glauben, wir säßen mit dem restlichen Amerika im selben Boot. Aber das stimmt nicht.

Es gibt einen guten Grund, warum viele US-Amerikaner das Gefühl haben, die obere Mittelschicht lasse alle anderen hängen: Sie tut es. Das einkommenstärkste Fünftel der Amerikaner – grob gesagt Haushalte mit jährlich 112 000 Dollar und mehr – sondert sich von den anderen ab. Es ist eine ökonomische Absonderung, ablesbar an Kontoständen und Gehältern. Aber auch erkennbar an Bildung, Familienstruktur, Gesundheit und Lebenserwartung und sogar am staatsbürgerlichen Verhalten und dem Alltag in der jeweiligen Nachbarschaft. Die wirtschaftliche Kluft ist nur das deutlichste Zeichen einer sich vertiefenden Kluft zwischen den Klassen.

Auf den ersten Blick mag der Erfolg des steinreichen Donald Trump bei der weißen Mittelschicht Verwunderung hervorrufen. Aber bei seiner Bewegung ging es nicht um Geld, sondern um Klassenzugehörigkeit. Trump hielt die Kultur der Arbeiterklasse hoch, und das gefiel seinen Anhängern. Sie haben kein Problem mit den Reichen, im Gegenteil, sie bewundern die Reichen. Ihre Feind sind die Akademiker der oberen Mittelschicht: Journalisten, Wissenschaftler, Technokraten, Manager, Bürokraten, die Menschen mit Abkürzungen für einen akademischen Grad hinter dem Namen.

Die obere Mittelschicht der USA verteidigt ihre Privilegien

Und hier wird es kompliziert. So verquer die Kritik an unserer Klasse auch ausgedrückt wird, vieles davon trifft zu. Wir sprechen über die „klaren“ Vorteile von Freihandel, technischem Fortschritt und Zuwanderung, im sicheren Wissen, dass wir davon profitieren werden. Ausgerüstet mit viel Humankapital, können wir uns in einer globalen Wirtschaft entfalten. Die Städte, in denen wir leben, sind so aufgeteilt, dass unser Wohlstand in bestimmten Vierteln geschützt ist und die Unqualifizierten draußen bleiben. Eine Einwanderungspolitik, die vor allem Geringqualifizierte ins Land lässt, schirmt uns ab gegen den harten Wettbewerb, den ungelernte Arbeiter erleben. Wir schwärmen von den Vorzügen des freien Markts, aber die Risiken, die er mit sich bringt, treffen uns gar nicht. Kein Wunder, dass andere Leute wütend werden.

Politiker und Wissenschaftler sind sehr besorgt über die in der Tat geringe soziale Mobilität in den Vereinigten Staaten. Am erstaunlichsten aber ist, dass es nirgends so wenig Bewegung gibt wie an der Spitze der Pyramide. Der Mobilitätsforscher Gary Solon spricht von einer regelrechten Erstarrung und von einer „Reichtumsfalle“. Die Sprösslinge der Reichen könnten sich anscheinend auf bessere Sicherheitsnetze verlassen.3

Mobilität nach unten ist nicht gerade eine wahnsinnig beliebte Vorstellung. Aber es ist eine unbestreitbare mathematische Tatsache, dass, wenn der eine aufsteigt, ein anderer dafür absteigen muss. Manchmal eines unserer Kinder. Das Problem sind nicht einfach die Klassenschranken, sondern das Fortbestehen der Klassen.

Wir horten Chancen und Möglichkeiten, auch mit unfairen Methoden. Damit helfen wir unseren eigenen Kindern, aber schaden anderen, indem wir deren Chancen schmälern. Jeder College- oder Praktikumsplatz, der aufgrund von Herkunft oder Beziehungen an eines unserer Kinder geht, ist ein Platz weniger, der anderen zur Verfügung steht. Zu viele Amerikaner der oberen Mittelschicht sind immer noch überzeugt, ihr Erfolg oder der Erfolg ihrer Kinder habe einzig mit Talent und Tüchtigkeit zu tun.

Drei wichtige Mittel für das Horten von Chancen sind die Abgrenzung von Wohngebieten, die Einflussnahme oder ererbte Bevorzugung bei der Zulassung zum College sowie die intransparente Vergabe von Praktika. Damit stehen Kinder aus der oberen Mittelschicht besser da.

Als Klasse sind wir mächtig. Zum einen sind wir eifrige Wähler, beinahe 80 Prozent von uns gehen regelmäßig zur Wahl. Aber auch sonst sind wir einflussreich. Wie Bertrand Russell gesagt hat, ist die wichtigste Form der Macht die „Macht über die (öffentliche) Meinung“. Und damit kennen wir uns aus. Auf praktisch jedem Posten im Geschäft der Meinungsmacher sitzen Leute aus der oberen Mittelschicht. Journalismus, Lehre, Forschung, Wissenschaft, Werbung, Meinungsforschung, Verlage, Medien (alte wie neue) oder Künste sind fast schon definitionsgemäß Hochburgen der oberen Mittelschicht, und wir nutzen diese Macht tendenziell, um unsere Position und unseren Status zu schützen, ohne uns um Fairness zu kümmern.

Der Politikwissenschaftler Charles Murray fordert in einem Buch über die jüngere Geschichte des weißen Amerika ein allgemeines staatsbürgerliches Erwachen. Die neue Oberschicht müsse sich genau anschauen, wie sie lebt, und überlegen, wie sie das ändern könnte. Wobei nicht ganz klar wird, was sie verändern soll. Murray findet, sie solle nicht so schüchtern sein mit ihren Überzeugungen und Werten und bewusster konsumieren. „Doch ihr Eigeninteresse müsse sie dafür nicht opfern.Ich meine, wir sollten das tun, wenigstens ein bisschen.“4

Es ist leicht nachzuvollziehen, warum Murray so behutsam mit uns umgeht. Wir sind die Leute, die seine Bücher lesen und vielleicht einige seiner Ideen umsetzen. Wer ein politisches Bündnis zusammenbringen will, greift nicht die mächtige obere Mittelschicht an, sondern kleinere und fernere Gruppen. Deshalb behaupten die Konservativen, die Einkommensschwachen oder die Zuwanderer ruinieren Amerika, die Linken geben dem einen Prozent der Superreichen die Schuld. Welcher politischen Richtung auch immer unsere Sympathie gilt, als Angehörige der oberen Mittelschicht zählen wir zu den Guten.

Aber diese Selbstbeschwichtigungs­strategie ist ein Auslaufmodell. Die Angst, die ohnehin Privilegierten zu verärgern, lähmt die Politik – und beschert uns ein angenehmes Leben, während die Mehrheit kämpfen muss. Nur wenn wir das zugeben, kann sich das politische Klima verändern.

1 Paul Waldman, „Don’t mess with government giveaways to the well-off“, Washington Post Plum Line (Blog), 28. Januar 2015.

2 Adam Levine, „American Insecurity: Why Our Economic Fears Lead to Political Inaction“, Princeton (Princeton University Press) 2017, S. 29.

3 Gary Solon, „What we didn’t know about multigenerational mobility“, Ethos, Nr. 14, Februar 2016.

4 Charles Murray, „Coming Apart: The State of White America 1960–2010“, New Yor (Crown Forum) 2012.

Aus dem Englischen von Ursel Schäfer

Richard V. Reeves ist Wirtschaftswissenschaftler an der Brookings Institution, Washington. Dieser Text ist ein Auszug aus seinem Buch: „Dream Hoarders: How the American Upper Middle Class Is Leaving Everyone ­Else in the Dust, Why That Is a Problem, and What to Do about It“, Washington (Brookings Institution Press) 2017.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2017, von Richard V. Reeves