12.10.2017

Kuba aktualisiert seinen Sozialismus

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Kuba aktualisiert seinen Sozialismus

Kapitalakkumulation ist verboten – aber alle dürfen mit Kleinhandel und Dienstleistungen Geld verdienen

von Renaud Lambert

von Renaud Lambert

Fleischmarkt unter staatlicher Aufsicht DESMOND BOYLAN/reuters
Kuba aktualisiert seinen Sozialismus
Kasten: Ständig im Umlauf: Das Paket

Uralte amerikanische Straßenkreuzer, bröckelnde Fassaden, Ästhetik des Verfalls: Schon der Alltag in Kuba zeigt, wie sehr die politische Rhetorik der Regierung an der Wirklichkeit vorbeigeht. Die Insel wirkt wie in ihrer kommunistischen Vergangenheit erstarrt, und der Mottenkugelmief wird nur ab und an von Parafingeruch überdeckt, wenn der 86-jährige Präsident Raúl Castro wieder einmal ein Jubiläum abfeiert. Zur Eröffnung des 7. Kongresses der Kommunistischen Partei Kubas (PCC) am 16. April 2016 feierte er „55 Jahre Erklärung des ‚sozialistischen Charakters‘ der Revolution“, zur Einweihung des neuen Hafens von Mariel am 27. Januar 2014 den „161. Geburtstag unseres Nationalhelden José Martí“ und am 21. Dezember 2013 zum Abschluss der 8. Legislaturperiode des Parlaments „55 Jahre Triumph der Revolution“.

Die bärtigen Helden aus der Sierra Maestra sind allgegenwärtig, vom Platz der Revolution in Havanna bis zu den riesigen Plakatwänden am Ortseingang der Stadt Cienfuegos. Vielleicht will man damit weniger die Vergangenheit beschwören als dem Jetzt Gestalt verleihen. Die Insel ist zweifellos erstarrt, aber sie ist es in der Gegenwart einer seit jeher umstrittenen Revolution. Fast 60 Jahre nach ihrem Sieg wüsste man gern, wie die barbudos, die Bärtigen von damals, die Entwicklung ihres Staats beurteilen würden. Würde Che Guevara das Land wiedererkennen? Würde er sich über den Wandel wundern und darüber, dass der Kampf immer noch weitergeht? Ich selbst als Journalist, der zuletzt 2011 die Insel bereiste, erkenne sie jetzt kaum wieder.

Die Säle des Revolutionsmuseums von Havanna im alten Präsidentenpalast erzählen noch immer von den 1001 Wendungen des Guerillakampfs. Angriff auf die Kaserne von Moncada am 26. Juli 1953, Einschiffen auf der Jacht „Granma“ am 26. November 1956, siegreicher Einzug Fidel Castros in Havanna am 8. Januar 1959. Neben epischen Beschreibungen der Stellvertreterkämpfe im Kalten Krieg ist nur ein einziger Raum sozialen und wirtschaftlichen Fragen gewidmet – und der wird derzeit renoviert.

Man muss über die Sicherheitsbarriere steigen – mit Einverständnis einer Angestellten, die mein dreistes Ansinnen aus ihrer Lethargie erweckt hat –, um eines der Plakate zu betrachten, das schief an der Wand hängt. Es handelt sich um die Titelseite der Parteizeitung Granma vom 16. März 1968: „Wir werden die Atmosphäre reinigen, wir werden alles saubermachen, wir werden ein wahres Arbeitervolk schaffen.“ Fidel Castro in Großbuchstaben. Weiter unten die Maßnahmen der großen „revolutionären Offensive“: „Die Behörden werden alle noch im Land verbliebenen Privatunternehmen verstaatlichen. [...] Es wurden nicht nur privat geführte Bars enteignet, sondern alle Bars – auch die staatlichen – geschlossen.“ „Wir müssen dem Volk beibringen, dass das Einzige, was es ihm erlaubt, alle notwendigen Güter zu genießen und reich zu werden, seine Arbeit, sein Schweiß, seine Anstrengungen sind.“

Gleich neben dem Hinterhof des Museums, wo schwitzende Touristen die Reliquien der Guerilla betrachten, bewegen sich die Kellner des Chachachá im Rhythmus einer Coverversion des Madonna-Hits, „Material Girl“: „We are living in a material world, and I am a material girl.“ Es ist ein paladar, ein privates Restaurant, das vor anderthalb Jahren eröffnet wurde. Ein Dutzend Kellner serviert dort Gerichte für höchste Ansprüche: Schweinefiletspitzen mit Serranoschinken (etwa 14 Euro), frischer Fisch, mit Knoblauch gegrillt (13 Euro), gegrillte Languste (19 Euro). Die Preise sind in Peso Convertible (CUC) angezeigt, einer konvertierbaren Währung, die ursprünglich nur für Touristen gelten sollte, aber inzwischen von allen verwendet wird. Neben diesem starken, an den Dollar gekoppelten Peso ist der alte Peso noch im Umlauf, der etwa nur ein Fünfundzwanzigstel wert ist. Der Mindestlohn in Kuba beträgt 225 Pesos (rund 8 Euro). Ein Mojito im Chachachá kostet 5 CUC (etwa 4,50 Euro).

2010 gab es nur etwa 100 Paladares in Havanna, inzwischen sind es mehr als 2000. „Ein gutes Dutzend dürfte einen Umsatz über eine Million Dollar haben“, versichert uns ein Kenner der Gastronomieszene, der anonym bleiben möchte.1

Die Entwicklung ist die Folge der „Aktualisierung des kubanischen Sozialismus“, angestoßen von Raúl Castro nach seiner Amtsübernahme 2006 (zunächst als Fidels Stellvertreter, ab 2008 als Staatsoberhaupt). Unter Raúl wurden die „Arbeiter auf eigene Rechnung“– die als solche auch zur Parade am 1. Mai eingeladen wurden – immer mehr: Einzelunternehmer können 201 genehmigte Gewerbe ausüben, darunter Instrumentenstimmer, Maurer, Verleiher von Abendgarderobe, Clown, Straßenverkäufer für Obst und Gemüse, Hundeausführer und Restaurator. Die Zahl der Soloselbständigen stieg von 150 000 im Jahr 2010 auf über eine halbe Million 2016; die Privatwirtschaft (Einzelunternehmer und Kooperativen) beschäftigt inzwischen 30 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung (insgesamt 5 Millionen Menschen).

In den Innenstädten herrscht seitdem wieder Trubel. In Havanna gibt es die ersten kleinen Staus, vor allem auf der Uferstraße, dem Malecón. Auch die Hauptstraße von Cárdenas an der Nordküste der Insel ähnelt einem Bienenstock, in dem sich Fahrradtaxis und Karren um die schmalen Asphaltstreifen streiten, die zwischen den Schlaglöchern hindurchführen. In Trinidad gibt es neunmal so viele Restaurants wie 2010. In jeder Erdgeschosswohnung der Innenstadt wird etwas verkauft: Souvenirs aus Leder oder Holz, Sioux-Indianerfiguren, Gemälde, die sich kaum voneinander unterscheiden, Schund. Und immer das Bild von Che: auf Tassen, Mützen, T-Shirts, Aschenbechern. „Unter Raúl hat sich das Land mehr verändert als in 50 Jahren Revolution“, sagen alle, die ich frage.

Der Zusammenbruch Venezuelas gefährdet die Energieversorgung

Unter den Bäumen, die den Paseo del Prado in der Altstadt Havannas säumen, hängen kleine Zettel: „Zu verkaufen: Zweistöckiges Haus, leerstehend. Ankommen und einziehen. 25 000 Dollar“. Seit 2011 können die Kubaner Wohnungen kaufen und verkaufen. „Zu verkaufen: Kapitalistische Wohnung im Zentrum von Havanna, 18 000 Dollar“. Kapitalistisch bedeutet: vor der Revolution erbaut – ein Qualitätsmerkmal, wie man uns erklärt. Der Immobilienmarkt ist nicht neu entstanden, er ist, wie die Gewerbe, die früher im Verborgenen ausgeübt wurden, nur legalisiert und geregelt worden. Besitztitel bekommen nur Einwohner Kubas. Die Gesetze sind streng, aber die Menschen sehr anpassungsfähig.

„Wo kann ich einen Immobilienmakler finden?“, frage ich eine kleine Gruppe, die sich vor der Hitze in den Schatten eines Baums geflüchtet hat. „Ich kümmere mich darum“, sagt eine junge Frau und streckt mir ihre Visitenkarte entgegen. In einem verknitterten Schulheft notiert sie die Kauf- und Verkaufswünsche der Leute, die an diesem Nachmittag zu ihr kommen. Die Anfrage eines Ausländers überrascht sie keineswegs. Sie hat auch eine Lösung für das Grundproblem: „Du heiratest einfach eine Kubanerin!“ Was kostet der Spaß? „Ungefähr 2500 Dollar.“ Die Ehe muss fünf Jahre halten, damit man das Besitzrecht an der Immobilie erwirbt. Die Maklerin erklärt: „Aber die junge Frau, die ich dir vorstelle, wird so schön sein, dass du sie gar nicht verlassen magst.“

„2500 Dollar? Die hat dich ganz schön auf den Arm genommen“, sagt der Künstler Fernando und lacht so heftig, dass sein Bauch wackelt. „Die meisten Frauen würden dich gratis heiraten! Weißt du, wie viel Geld man mit einer doppelten Staatsbürgerschaft verdienen kann!?“ Im Oktober 2012 hob Havanna die Beschränkungen für Auslandsreisen auf.2 Kubaner mit doppelter Staatsangehörigkeit brauchen seitdem kein Ausreisevisum mehr, um zum Beispiel nach Frankreich zu fahren. Sie bringen kofferweise Konsumgüter zurück, die sie zu gesalzenen Preisen weiterverkaufen können. „Es gibt jede Menge Leute, die nur noch davon leben“, erklärt Fernando, „und sie leben sehr gut.“

Mit der diplomatischen Annäherung zwischen Washington und Havanna3 seit 2015 jagt ein historisches Ereignis das andere: das erste Konzert der Rolling Stones, der erste Dreh eines großen Hollywoodfilms („Fast & Furious 8“), das erste Fünfsternehotel „plus“, die erste Modenschau von Chanel und Karl Lagerfeld, die erste Zimmervermietung über AirBnB und die erste Ankunft eines US-Kreuzfahrtschiffs seit 1959. Im Jahr 1961 schlugen Kubas Revolutionäre die Invasion in der Schweinebucht zurück. 2017 war in How To Spend It, dem Luxusmagazin der Financial Times, zu lesen: „Die Invasion der Gringos hat offiziell begonnen.“4

Letztes Jahr kamen 4 Millionen Touristen auf die Insel, ein Rekord, der die Branche auf Platz 3 der Devisenquellen katapultierte (nach Dienstleistungen, hauptsächlich medizinischen, und Überweisungen aus dem Ausland). Seit 20 Jahren wächst der Sektor um 5 bis 10 Prozent pro Jahr. 2016 verzeichnete man zudem einen rasanten Anstieg der Besucherzahlen aus den USA: Von dort kamen 615 000 Gäste, davon 329 000 kubanische Exilanten, 74 Prozent mehr als 2015. Zwar kündigte Donald Trump an, die Lockerungen Obamas zurückzunehmen, und der Wirbelsturm „Irma“ zerstörte im September einen Teil der touristischen Infrastruktur im Norden der Insel. Doch die Touristen werden nicht lange wegbleiben.

Nichts, schreibt How To Spend It, sei erfahrenen Reisenden angenehmer als eine Mischung aus paradiesischen Stränden und Kulturangebot. Da hat die Revolution gute Arbeit geleistet. „Wenn Sie sich für Afrozentrismus interessieren, können Sie in den einfachen Vierteln einen renommierten Historiker, einen bekannten Vertreter der HipHop-Szene oder eine Kämpferin für die Rechte schwarzer Frauen treffen. [...] Amerikanische Experten haben sich sogar LGBT-Kulturevents ausgedacht, wie etwa ein Abendessen mit dem ersten transsexuellen Abgeordneten.“ Das Reisebüro OnCuba Travel bietet demnächst eine Free Market Havana Tour an, eine Führung durch Orte, die dem Gott des freien Markts huldigen.

Vor dem Parteikongress 2011 zeigte sich der Exilkubaner José Azel von der Universität Miami noch skeptisch, was die von Raúl Castro verkündeten Reformen anging. „Es ist doch klar, dass sich nur wenig ändern wird.“5 Man möchte ihm von heute aus gern widersprechen, aber die Dinge entwickeln sich nicht nur in eine Richtung.

„Raúl hat viel bewirkt, aber seit Obamas Besuch im März 2016 erleben wir das Gegenteil von dem, was alle erwartet haben: Der Annäherungsprozess von beidseits der Meerenge von Florida wird eingefroren“, sagt der Ökonom Omar Everleny Pérez. 2011 galt er als Vertrauter des Präsidenten, sogar als Vordenker der wirtschaftlichen Öffnung. Fünf Jahre später wurde er aus dem Wirtschaftsforschungszentrum der Universität Havanna hinausgeworfen, weil er zu viel mit ausländischen Journalisten sprach. Das beweist vor allem, dass die Gegner von Raúl Castros Reformen im Staatsapparat neue Mittel gefunden haben, dessen Pläne zu vereiteln.

„Obama hätte weitergehen sollen“, fährt Pérez fort. „Je weiter er die Öffnung vorangetrieben hätte, desto schwerer wäre es für Trump geworden, sie wieder zurückzunehmen.“ Trump ist kein Glück für Kuba, zudem häufen sich die wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf der Insel: Im Jahre 2016 erlebte sie eine Rezession (–0,9 Prozent), die erste seit der „Sonderperiode in Friedenszeiten“ nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, in der zwischen 1991 und 1994 das Bruttoinlandsprodukt um 35 Prozent einbrach. „Es ist die Chronik eines angekündigten Todes: Es war klar, dass unsere Abhängigkeit von Venezuela Folgen haben würde, wenn es dort Probleme gibt.“

Der Ölpreisverfall und die endlose innenpolitische Krise ließen die Wirtschaftsleistung Venezuelas 2016 um ein Fünftel sinken, die Inflation stieg auf über 700 Prozent. Früher lieferte Caracas 100 000 Barrel Öl zu subventionierten Preisen an Kuba, 2016 waren es 40 Prozent weniger. Seitdem heißt es Energie sparen: Manche Regierungsstellen schließen früher, man öffnet die Fenster, statt die Klimaanlage einzuschalten, und es gibt noch weniger Straßenbeleuchtung. „Jeder nicht lebensnotwendige Verbrauch muss aufhören“, warnte Raúl Castro im Juli 2016. Der einzig wachsende Wirtschaftszweig, der Tourismus,ist besonders energiehungrig: Ein Treffen mit einer Kämpferin für die Rechte schwarzer Frauen ist ja ganz schön, aber nur wenn der Ventilator sich dreht und ein eiskalter Mojito serviert wird.

Venezuela ist zudem der wichtigste Kunde für alle Dienstleistungen, die Havanna exportiert, allein 30 000 Ärzte arbeiteten 2016 dort. 2014 waren knapp 25 Prozent der kubanischen Wirtschaftsleistung vom Handel mit Venezuela abhängig. Inzwischen arbeiten mehr als 4000 kubanischen Ärzte in Brasilien, die nun dagegen protestieren, dass der kubanische Staat ihre Gehälter einstreicht und sie selbst mit Hungerlöhnen abspeist.

Kuba tut sich schwer damit, Exportmärkte zu erschließen. „Das wusste man ja schon“, meint Pérez. „Auch deshalb hätten wir mit den Reformen weitermachen müssen. Aber Raúl hat auf halbem Wege kehrtgemacht. Auf seine ersten Maßnahmen sollten weitere folgen, damit sie überhaupt Früchte tragen. Aber nein: Die Reformen erfolgen nur tröpfchenweise, und neue Probleme treten auf“ – wie Energieknappheit und Hamsterkäufe.

Auch wenn es inzwischen legal ist, ein Restaurant zu eröffnen oder Pizza auf der Straße zu verkaufen, hat der Staat keinen Großhandel für Gastronomiebetriebe vorgesehen. Die Paladares müssen die ohnehin knappen Lebensmittel in Geschäften oder auf Märkten einkaufen, was die Preise hochtreibt und zu Spekulation führt. Wenn man mit Eiern handelt, verdient man mehr als mit einer Anstellung als Grundschullehrer. Versorgungsengpässe entstehen, wie im August 2014 und im April 2016, als es praktisch kein Bier mehr zu kaufen gab.

Pérez’ Telefon klingelt dreimal, endlich nimmt er ab. Das Gespräch dauert nicht lange. Er steckt das Telefon ein und schüttelt den Kopf: „Ich arbeite mit einem brillanten jungen Mann zusammen. Wenn er seine Arbeiten abliefern soll, ist es immer dasselbe: Es klappt nicht. Er ist Wirtschaftsmathematiker, aber er verdient seinen Lebensunterhalt damit, Zimmer an Touristen zu vermieten. Ich versuche ihn bei der Stange zu halten, damit er die Wissenschaft nicht ganz aufgibt. Aber er ruft dauernd an: ‚Tut mir leid, heute Abend kommt ein amerikanisches Paar. Kannst du mir mehr Zeit geben?‘ Mich nervt das, aber ich muss auch darüber lachen. Für das Land ist es jedoch ein großer Verlust.“

Kein Mensch in Kuba lebt allein von seinem Gehalt. Das Chachachá verlangt Touristenpreise, aber auch in den normalen Wohnvierteln Havannas kostet ein Mojito 1 CUC, ein Achtel des Mindestlohns. Alle müssen sich irgendwie durchschlagen, irgendwelche Tricks erfinden oder in lukrativen Branchen tätig werden: Zahllose diplomierte Ingenieure arbeiten als Kellner oder wandern aus – in einem Land, das vorbildliche 25 Prozent seines Haushalts für Bildung ausgibt.

Lohnerhöhungen zählen zu den obersten Prioritäten des Präsidenten. Doch ohne Wachstum würden mehr Ausgaben nur zu steigender Inflation führen. Zudem bietet Kuba eine breite Palette an Sozialleistungen, wie man sie sonst nur in hochentwickelten Ländern findet, obwohl es lediglich über die Produktivität eines Entwicklungslands verfügt. Die Produktivität zu steigern, um den Sozialstaat zu retten – Raúl Castros angekündigtes Projekt –, hieße, die Zahl der Staatsbediensteten zu reduzieren und die Kubaner zu ermuntern, in der Privatwirtschaft zu arbeiten. Doch manche Parteikader halten das Unternehmertum für den schlimmsten Feind der Revolution.

„Das Hauptproblem ist der ideologische Starrsinn eines Teils der Regierung“, meint Pérez. „Das Land befindet sich in einer Rezession, aber sie machen sich vor allem Sorgen darum, dass manche ein Vermögen aufbauen könnten. Der Ökonom Pedro Monreal sagte dazu: „Die meisten Länder kämpfen gegen die Armut, aber Kuba kämpft gegen den Reichtum!“

Auf dem Parteikongress 2016 wurde eine neue, strengere Linie formuliert. 2011 hatte es noch geheißen: „Innerhalb der neuen, nichtstaatlichen Verwaltungsformen ist die Konzentration von Besitz durch juristische oder natürliche Personen nicht gestattet.“ Fünf Jahre später wurde hinzugefügt, die „Konzentration von Reichtum“ sei verboten. Die Bedrohung durch Kapitalakkumulation war bei Weitem das meistbesprochene Thema der außerordentlichen Sitzung der Nationalversammlung im Juni 2017, bei der die aktuelle Parteilinie debattiert wurde.

Andere bekämpfen die Armut, Kuba bekämpft den Reichtum

Geht es hier lediglich um eine Demonstration der ideologischen Standfestigkeit Kubas? Inzwischen werden Löhne gezahlt, die an die Produktivität gekoppelt sind, Exilkubaner in den USA dürfen immer größere Geldsummen an ihre Verwandten zu Hause schicken. Die Ungleichheit wächst, wie auch der Präsident erkannt hat. Der Grundsatz des Sozialismus, „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“, hat Raúl Castro in einer Rede vor Parteigenossen am 17. April 2016 umformuliert: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Arbeit.“ Aber mit Arbeit allein kommt man nicht weit, nicht in Kuba und auch nicht anderswo. Die allermeisten Kleinunternehmer (70 bis 80 Prozent) konnten sich nur dank der Überweisungen ihrer Verwandten aus Miami selbstständig machen. Sie stammen meist aus wohlhabenden Familien, die nie große Freunde des Sozialismus waren. Das neue Kleinunternehmertum gehört zu den schärfsten Gegnern der Revolution. Schwarze trifft man in diesen Kreisen nur selten.

„Bis zur ‚revolutionären Offensive‘ vom März 1968 gab es hier kleine und mittelständische Unternehmen“, erzählt Rafael Hernández, Chefredakteur der Zeitschrift Temas, die ihre letzte Ausgabe dem Thema Ungleichheit gewidmet hat. „Vom 1. Januar 1959 bis zu diesem Zeitpunkt hätte sich niemand vorstellen können, dass Fidel oder Che den Privatsektor als Feind der Revolution bezeichnen würden. Raúl hat lediglich den Gedanken wieder hervorgeholt, dass Privatunternehmen keineswegs eine Krebszelle des Kapitalismus in der kubanischen Gesellschaft sind. Er hat das Arbeiten auf eigene Rechnung legalisiert und dann auch legitimiert.“

Dennoch: Die Kubaner heute können ihre technischen oder wissenschaftlichen Qualifikationen nicht nutzen, sondern kämpfen mit den Härten des Markts. „Arbeitet der Chef auch hier?“ Die Kellnerin des großen Paladar von Trinidad wiederholt meine Frage und bricht in Lachen aus. „Aber nein! Der Chef ist nicht da, er ruht sich aus. Das ist auch besser so, denn wenn er kommt, dann erteilt er sowieso nur Befehle.“ „Und wie sind Ihre Arbeitszeiten?“, frage ich. Die junge Frau hebt nur die Augen zum Himmel.

„Ein Problem ist, dass die Privatunternehmer sich nicht an das Gesetz halten, vor allem nicht ans Arbeitsrecht“, meint Hernández. „Wenn Sie jemanden fragen, der in einem Paladar arbeitet, werden Sie wahrscheinlich hören, dass der Chef mehr als acht Stunden arbeiten lässt, dass es keinen gleichen Lohn für gleiche Arbeit gibt, dass der Chef nicht gern Schwarze beschäftigt und so weiter.“ Die Lösung wäre, „das Arbeitsrecht durchzusetzen, ohne die Privatwirtschaft durch zu viel Kontrolle zu ersticken“. Doch wenn der Privatsektor wächst, gewinnt er auch die Macht, in der Politik Türen zu öffnen. Hernández glaubt jedoch nicht, „dass es einen einzigen Unternehmer gibt, der die Regierung derzeit beeinflussen könnte“. Das heiße aber nicht, dass sich das in Zukunft nicht ändern könnte.

Auf der Insel herrschen zwei gegensätzliche Denkweisen. Javier, Atomphysiker und Taxifahrer, fasst die eine so zusammen: „Gestern war es die UdSSR, die unsere sozialistischen Errungenschaften finanzierte. Heute sind es die Touristen und die Kleinunternehmer: Wir brauchen etwas mehr Markt, um unsere Revolution zu retten.“ Gegen diese Haltung, die auch Raúl Castro unterschreiben könnte, wenden sich die orthodoxen Parteigenossen. Sie meinen, eine Prise Kapitalismus werde nicht zur Stabilisierung des kubanischen Sozialismus führen, sondern das Gegenteil bewirken. Eine Vertreterin der Obama-Regierung, ­Maria Contreras-Sweet, erklärte vor Unternehmern, die auf Kuba investieren wollten, ganz offen: „Sie müssen die amerikanischen Werte und das Verständnis für den Kapitalismus exportieren!“7

Wie würden sich die einstigen Helden der Sierra Maestra entscheiden: Orthodoxie oder Reform? Vielleicht schiene ihnen die Frage überflüssig. Vielleicht würden sie sich dem Blogger Fernando Ravsberg8 anschließen, der schreibt, dass „der Sozialismus sowjetischer Prägung niemals ein politisches Ziel für Kuba darstellte, sondern nur ein Mittel war, um die Revolution zu retten, bei der es vor allem um die nationale Unabhängigkeit ging“. Dieser Kampf gehe weiter, „ob mit Sozialismus oder ohne“.

1 Die Namen einiger unserer Gesprächspartner wurden geändert.

2  Außer für Menschen mit für das Land wichtigen Berufen, wie etwa Ärzte.

3 Siehe Patrick Howlett-Martin, „Händedruck mit Castro“, Le Monde diplomatique, Dezember 2014.

4 Lydia Bell, „Cuba’s travel revolution“, How To Spend It, London, 10. Januar 2017.

5 José Azel, „So much for Cuban economic reform“, in: The Wall Street Journal, New York, 11. Januar 2011.

6 Carmelo Mesa-Lago, „La reforma de la economía cubana: secuencia y ritmo“, in: Estudios de Politica Exterior, Nr. 161, Madrid, September/Oktober 2014.

7 Zitiert nach: Lucie Robequain, „Comment l’Amérique compte envahir Cuba“, in: Les Échos, Paris, 5. Mai 2015.

8 cartasdesdecuba.com/.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

El paquete

Fernsehen in Kuba: regierungstreue Nachrichten, ausgesprochen didaktische Lehrfilme, eine Auswahl von Sendungen des vorwiegend von Venezuela finanzierten Kanals Telesur, der aber nicht direkt übertragen wird. Wie gehen die Kubaner damit um?

„Ganz einfach“, antwortet Mariela, „wir schauen gar kein Fernsehen!“ Hier guckt und liest man lieber „El Paquete“ (das Paket). Diese neueste kubanische Erfindung, um den schwierigen Internetzugang und die Medienzensur zu umgehen, besteht aus einer etwa 1 Terabyte großen Zusammenstellung digitaler Inhalte wie Artikeln, Nachrichten, Filmen oder ganzen Magazinen, die von Miami aus über Peer-to-peer-Netzwerke verbreitet wird.

Jeden Sonntag gibt es ein neues Paket, auf der Insel kann man sich die Dateien, die einen interessieren, für einen oder zwei Dollar herunterladen – je nach Datenmenge. Laut New Yorker handelt es sich um das größte Privatunternehmen der Insel: Etwa 45 000 Beschäftigte erwirtschaften einen Umsatz von einer halben Million Dollar pro Woche. Die Auswahl erreicht jeden zweiten Kubaner, sogar in Regionen, die nur ein paar Stunden Strom pro Tag bekommen.

Die Lieferung vom 5. Juni 2017 umfasste 921 Gigabyte. Sie enthielt Bündel von Kinofilmen, sortiert nach Genres (in dieser Woche „Abenteuer“), nach Schauspielern („Bruce Willis“) und nach Stoffen („Terminator“); Nachrichten über neu erschienene Videospiele, Filme und andere technische Neuheiten; 41 GB Reality-TV auf Spanisch und Englisch; die neuesten Meldungen auf Revolico.com, einer An- und Verkaufsseite für Güter und Dienstleistungen (auch Prostitution); Musik, Mangas und Serien („Klassiker“, „Aus Kuba“, „Neuerscheinungen“), einige Episoden der Sendung „The Voice“ sowie Zeitschriften (Mode, Sport, Fotografie und Technik).

Die einzigen politischen Nachrichten stammen aus der offiziellen kubanischen Presse (wie Granma oder Juventud rebelde). Das erklärt vielleicht, warum „El Paquete“ zwar ­illegal ist, aber dennoch toleriert wird.⇥R. L.

Le Monde diplomatique vom 12.10.2017, von Renaud Lambert