10.08.2017

Kalte Luft

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Kalte Luft

Der Siegeszug der Klimaanlage begann in einer kleinen Druckerei in Brooklyn

von Benoît Breville

Pioniere der elektrischen Klimaanlage akg
Kalte Luft
Global gekühlt, global erwärmt

Hamilton ist nicht gerade für sein mildes Klima bekannt: An 129 Tagen liegen die Temperaturen in der kanadischen Großstadt unter null, und nur an 18 Tagen wird es richtig warm. Trotzdem besitzen 82 Prozent der Haushalte eine Klimaanlage. Nach US-amerikanischem Vorbild will die Kommune demnächst sogar den Armen, die gesundheitliche Probleme haben, den Einbau einer Klimaanlage bezahlen.1

Subventionen für Klimaanlagen in den USA? So abwegig ist das gar nicht, wenn man etwa an die Hitzewelle denkt, die in diesem Sommer vor allem Arizona, das südliche Kalifor­nien und Nevada heimgesucht hat, wo die Temperaturen bis zu 48 Grad Celsius erreichten, und es selbst nachts kaum abkühlte. Da ist es geradezu gesundheitsgefährdend ohne Klimaanlage: Von Schlafstörungen und chronischen Kopfschmerzen über Bluthochdruck und Atembeschwerden bis hin zu Lungeninsuffizienz und Schlimmerem reichen die Beschwerden. Kein Wunder, dass im Süden der USA 97 Prozent der Haushalte klimatisiert sind. In einigen Bundesstaaten wie Arizona gehören Klimaanlagen sogar zur gesetzlich vorgeschriebenen Grundausstattung von Mietwohnungen.

Auf die künstlich erzeugte Kühle schwört man aber nicht nur in den trockenen und subtropischen Regionen, selbst in Vermont und Montana, wo man eher gegen zu viel Schnee als Hitze kämpft, sind überall Klimaanlagen eingebaut. In Wohnhäusern, Autos, Restaurants, Geschäften, Ämtern, öffentlichen Verkehrsmitteln, Stadien, Fahrstühlen, Schulen, Sporthallen und sogar Kirchen sorgen sie in jedem Winkel der Vereinigten Staaten das ganze Jahr über für eine konstante Temperatur von etwas mehr als 20 Grad. Selbst die US-Soldaten in Afghanistan haben ein klimatisiertes Zelt dabei.

Doch die Abhängigkeit hat einen hohen ökologischen Preis. Die Treib­haus­gasemissionen, Kühlmittelzusätze und der Energieaufwand belasten die Umwelt. In den USA fließen jährlich 6 Prozent des produzierten Stroms – vor allem aus Kohlekraftwerken – und 20 Prozent des Haushaltsstroms in den Betrieb von Klimaanlagen. 2015 war der Stromverbrauch für die Gebäudekühlung in den Vereinigten Staaten so hoch wie der Gesamtverbrauch des afrikanischen Kontinents. Hinzu kommt der Benzinverbrauch für die Klimaanlagen in Autos, der jährlich bei 26 bis 38 Milliarden Liter liegt.2

Im Juli 1960 – die brummenden Kästen begannen sich gerade in immer mehr Privathaushalte einzunisten – staunte man in der Saturday Evening Post schon über die „Re­vo­lu­tion“ der Klimatisierung, die im frühen 20. Jahrhundert zuerst für die Warenwelt entwickelt worden war und mittlerweile den gesamten Globus erreicht hat (siehe Kasten).

Tatsächlich hat die Klimatisierung die Vereinigten Staaten nachhaltig verändert und beeinflusst, vom Städtebau über Freizeit und Konsum bis hin zu den sexuellen Gewohnheiten. Vor der Klimatisierung ging im April und Mai, also neun Monate nach dem Hochsommer, die Geburtenrate stets deutlich zurück. Doch seit sich die Innenraumtemperatur regulieren lässt, sind diese saisonalen Schwankungen komplett verschwunden.3

Dabei ging es anfangs gar nicht um den individuellen Komfort, sondern erst mal nur um den Schutz von Waren, genauer gesagt um das Papier der New Yorker Druckerei Sackett-­Wilhelms ­Lithographing & Printing Company. In der feuchtwarmen Luft der Brooklyner Fabriketage konnte man kein Papier lagern; schon nach kurzer Zeit ließ es sich nicht mehr bedrucken. Die Firma beauftragte den jungen Ingenieur und Erfinder Willis Carrier (1876–1950), ein Gerät zu entwickeln, das die Feuchtigkeit und Umgebungstemperatur steuern sollte.

Carrier konstruierte eine Maschine, in der die angesaugte Luft durch ein Kältemittel abgekühlt wurde. 1902 kam der Apparat auf den Markt und war sofort ein Verkaufsschlager. Die Hersteller von Textilien, Tabak, Teigwaren, Kaugummi, Mehl und Schokolade stürzten sich geradezu auf Car­riers genialen Airconditioner. In weniger als zehn Jahren führten alle Branchen, in denen die Produktionsprozesse durch Temperaturschwankungen beeinträchtigt wurden, klimatisierte Fabrikhallen ein.

Bis dahin hatte auch die Produktivität der Belegschaft, so die einschlägige Erfahrung der Vorarbeiter, während der Hitzeperioden regelmäßig stark nachgelassen; im Sommer verlangsamte sich nicht nur das Arbeitstempo, manchmal blieben die Arbeiter einfach gleich zu Hause. Manche Unternehmen führten zusätzliche Pausen oder einen früheren Arbeitsbeginn ein. Doch es kam auch vor, dass die Fließbänder abgestellt werden mussten. In den 1920er und 1930er Jahren warb die Carrier Corporation, die heute noch zu den größten Herstellern von Kälteanlagen gehört, daher vor allem mit einem Argument: „Fabriken mit Carrier-Anlagen stehen bei den Arbeitern hoch im Kurs, und die Produktion läuft wie geschmiert“, hieß es in einer Reklame von 1921. Oder acht Jahre später: „Die gesunde und angenehme Luft lockt nicht nur exzellente Kräfte an, sie sorgt auch für ein gutes Betriebsklima.“4

Die Zeichen der Zeit standen auf Taylorismus und Rationalisierung. Die Arbeitgeber ließen untersuchen, bei welcher Temperatur in der Fabrikhalle oder im Büro die größte Effizienz zu erwarten war. Und die US-Regierung stellte bei ähnlichen Tests fest, dass die Produktivität in ihren Schreibbüros ohne Klimatisierung im Sommer um 24 Prozent abnahm.5 „Warum kommen die besten Erfindungen und die größten wissenschaftlichen sowie indus­triel­len Fortschritte aus den gemäßigten Zonen?“, fragte Carrier auf einem Werbeplakat, auf dem ein braun gebrannter Mann mit einem Sombrero über dem Gesicht in der Sonne liegt. Die Antwort: „Weil die Menschen jahrhundertelang unter der tropischen Hitze ihrer Energie beraubt wurden und jeglichen Ehrgeiz verloren. Es gab keine Klimaanlage. Daher machten sie Siesta.“ Und darunter das in Großbuchstaben geschriebene Fazit: „Temperatur 102 Grad Fahrenheit, Produktion 0.“6

Nach den Fabrikhallen kamen die Lichtspielhäuser. Im Sommer waren die Kinosäle entweder gähnend leer oder wurden gleich dichtgemacht. Doch kaum hatte die Kino­kette ­Balaban & Katz 1917 in ihren Sälen in Chicago Klimaanlagen einbauen lassen, strömten so viele Zuschauer in die Vorführungen, dass sich die Investitionskosten innerhalb eines Sommers amortisiert hatten. Die Konkurrenz zog alsbald nach. 20 Jahre später waren drei Viertel der 256 Kinosäle in Chicago klimatisiert. Es dauerte nicht lange, da standen auch vor den Kinos in New York, Houston und Los Angeles bunte Allwetterschilder mit Eisbären, Eiswürfeln oder Schneeflocken und Slogans wie „Drinnen ist es kühl“ oder „Konstant 20 Grad“. Die Sommerflaute war passé, der Sommer-Blockbuster konnte kommen.

Und die Klimaanlage setzte ihren Siegeszug fort. Auf die Kinos folgten Züge, Restaurants, Geschäfte, Hotels. Die großen Ketten gingen stets voran, dann folgten die kleineren, und am Ende hatte selbst der Tante-Emma-Laden um die Ecke eine Klimaanlage7 , um mit der Konkurrenz Schritt halten zu können. Denn die Kunden freuten sich, der Sommerglut für einen Moment entfliehen zu können, und machten einen großen Bogen um die überhitzten Geschäfte.

Außerdem galten Klimaanlagen als gesundheitsfördernd. „Rein“ und „gesund“ sei die klimatisierte Luft, hieß es unisono in den Werbebotschaften und amtlichen Verlautbarungen. In den Zügen verschwinde der Zigarettenrauch „wie von Zauberhand“. Auch schwangere Frauen profitierten davon, versicherte zumindest der Chicagoer Gesundheitsdienst und riet werdenden Müttern im Sommer 1921, die Kinosäle von Balaban & Katz aufzusuchen. Dort erwarte sie „reinere Luft als auf dem Pikes Peak“ in den Rocky Mountains.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte dann auch der Durchbruch in den US-amerikanischen Privathaushalten. In den Zwischenkriegsjahren hatten mehrere Unternehmen noch vergeblich versucht, den Verkauf von Klimageräten an Privatkunden anzukurbeln. Zu laut, zu groß und vor allem zu teuer waren die Anlagen, die nicht mehr als eine Handvoll wohlhabender Käufer fanden. Der Wendepunkt kam 1951, als Carrier ein kleineres Klimagerät zu einem erschwinglichen Preis auf den Markt brachte, das sich leicht am Fenster installieren ließ. Die Verkaufskurve schnellte nach oben: 1960 waren bereits 12 Prozent der Privathaushalte klimatisiert, 20 Jahre später 55 und 2005 über 80 Prozent. Heute sind fast 90 Prozent der Privathaushalte in den USA mit einer Klimaanlage ausgestattet.

Die landesweit und schichtenübergreifend verbreitete Klimatechnik steigerte zugleich deren Nachfrage. Das war besonders im Süden der USA zu spüren, der lange nicht so stark urbanisiert war wie der Norden und zwischen 1910 und 1950 zehn Millionen Einwohner verloren hatte – vor allem schwarze Arbeiter, die wegen der Rassengesetze und des Arbeitsplatzmangels in der rationalisierten Landwirtschaft in den Mittleren Westen zogen.

Nach der offiziellen Abschaffung der Rassentrennung kehrte sich die Situation in den 1960er Jahren um. Der bis dahin als unerträglich stickig empfundene Süden war auf einmal wieder attraktiv. Man konnte die Sonne genießen, ohne ihr schutzlos ausgeliefert zu sein, und die Firmen freuten sich über das gewerkschaftsfreie und arbeitgeberfreundliche Umfeld.

Zwischen 1950 und 2000 stieg der Bevölkerungsanteil der Sun-Belt-­Staaten im Verhältnis zur US-Gesamtbevölkerung von 28 auf 40 Prozent. „Ohne Klimatisierung wäre das Wachstum der Bevölkerung Floridas auf aktuell 18,5 Millionen Einwohner undenkbar gewesen“, meint der Historiker Gary Mormino.8 Es gäbe weder einen Freizeitpark Disney World in Orlando noch die Kasinos von Las Vegas mitten in der Wüste Nevadas.

In Phoenix, Arizona, lebten 1930 etwa 50 000 Menschen. Heute hat die Stadt, in deren Randbezirken der unwirtlichen Umgebung täglich mehr Bauland abgetrotzt wird, 1,5 Millionen Einwohner. Die tagsüber von Beton und Asphalt absorbierte Hitze wird nachts abgestrahlt. So kühlt es kaum ab. An rund 30 Tagen im Jahr steigt das Thermometer auf weit über 40 Grad Celsius; in den 1950er Jahren war das nur an sieben Tagen der Fall. Während der diesjährigen Hitzewelle kletterte die Temperatur an drei aufeinanderfolgenden Tagen im Juni sogar auf fast 50 Grad. Von morgens bis abends brummen hunderttausende Klimaanlagen und emittieren Wärme, im Schnitt ist es dadurch heute um 2 Grad wärmer als früher.9

Sicher lässt es sich auch ohne Klimaanlage im Süden der USA leben, und noch vor 100 Jahren hat sich diese Frage gar nicht erst gestellt. Man passte sich damals den klimatischen Bedingungen an. Die Geschäfte waren wie heute noch im Süden Europas während der Mittagszeit geschlossen, die Kinder bekamen hitzefrei, und nach dem Mittagessen freute man sich auf die Siesta. Man stellte die Füße in eine Wanne kalten Wassers oder legte sich ein feuchtes Tuch in den Nacken. Auch die Architektur richtete sich nach der Hitze. Große Türen und Fenster sorgten für Luftzirkulation. Die Decken waren hoch, die Zwischenwände dünn, und ein breiter Dachfirst schützte vor der Sonne. Höher gelegte Holzdielen und schattige Veranden sorgten zusätzlich für Kühlung. Der Deckenventilator verbrauchte nur einen Bruchteil der Energie, den heute eine Klimaanlage verschlingt.

Seit den 1960er Jahren wird im Sun Belt fast genauso stromlinienförmig gebaut wie in Pennsylvania oder In­dia­na: direkt auf den Boden installierte Fertighäuschen mit schmalen Fenstern, moderne Glaskästen mit zentraler Klimaanlage und Wolkenkratzer, deren Fenster sich nicht öffnen lassen. Wegen der günstigen Grundstückspreise sind die Städte extrem in die Breite gewachsen, weshalb man im Süden noch mehr auf das Auto angewiesen ist als im Norden. Die „Amerikanisierung des Südens“ nennt der Historiker Raymond Arse­neault diese Nivellierung der re­gio­nalen Unterschiede durch die Klimatisierung des Alltags.10

In Louisiana oder Alabama setzten sich ganztägige Öffnungszeiten in Schulen, Geschäften und Büros durch. Die schattige Veranda, auf der man sich früher traf und mit seinen Nachbarn plauderte, war Geschichte. In New York verschwanden die Eiswürfelverkäufer von der Straße, und niemand legte mehr im Sommer seine Matratze nachts auf den Balkon oder die breite Außentreppe. Im Norden wie im Süden des Landes hatte sich bald jeder an den Komfort der Klimatisierung gewöhnt.

Aus Sicht der meisten Amerikaner gehören Klimaanlagen einfach immer und überall dazu. Als Übernachtungsgast in Seattle wird man Ihnen ganz selbstverständlich die Klimaanlage in Ihrem Zimmer erklären, auch wenn die Temperatur nachts nicht über 8 Grad Celsius steigt. Selbst in Alaska sind fast ein Viertel der Hotels klimatisiert. Die Hitzetoleranz ist so stark gesunken, dass sich viele Amerikaner mittlerweile bei Innentemperaturen wohlfühlen, die die meisten Touristen als zu niedrig empfinden.

Temperaturen für Männer im Anzug

Die Zeiten, als nur Luxushotels oder Zugabteile erster Klasse klimatisiert waren, sind zwar schon lange vorbei. Doch der vornehme Nimbus gekühlter Räume hat sich gehalten. In „­Mode und Stil“vom 26. Juni 2005, einer Beilage der New York Times, wurde eine Untersuchung über die Raumtemperatur in Bekleidungsgeschäften veröffentlicht. Je kühler, umso exklusiver, lautete das Ergebnis: Im Discounter Old Navy herrschten 26,8 Grad Celsius, im vornehmen Macy’s waren es 22 und in der Luxusboutique Bergdorf Goodman 20 Grad.

Die Klimatisierung stößt damals wie heute jedoch nicht nur auf Begeisterung. In den ersten Jahren bekamen Kino- und Ladenbesitzer bitterböse Beschwerdebriefe wegen der Kälte. Und manche Südstaatler verschmähten die Technologie als Import aus dem Norden, wo die Leute zu verweichlicht seien und deshalb keine Hitze aushielten. Selbst Präsident Roosevelt (1882–1945) hasste das von seinem Vorgänger installierte Klimagerät: „Die vehemente Kritik, die er regelmäßig gegenüber der Presse äußert, ist eine miserable Pu­bli­ci­ty für die Klimaanlage“, notierte die Geschäftsleitung von Carrier.11

Zahlreiche Intellektuelle stimmten in den Chor der Kritiker ein, von Henry Miller, der in der Klimaanlage ein Symbol für die Entfremdung des Amerikaners von der Natur sah („Der klimatisierte Alptraum“, 1945), bis zu dem Stadtforscher Lewis Mumford (1895–1990), der die Kontrollsucht des Menschen über seine Umwelt anprangerte („The Pentagon of Power“, 1970).

Heute beklagen Umweltschützer die ökologischen Schäden der Klimatisierung, und Wissenschaftler machen sie für die Fettleibigkeit verantwortlich. Ihr Argument: Die Menschen essen bei kühlen Temperaturen mehr, bleiben eher zu Hause, wo sie vor allem sitzende Tätigkeiten verrichten, und der Körper muss keine Kalorien verbrennen, um sich aufzuheizen oder abzukühlen. Und Feministinnen verweisen auf den Gendergap: Die Temperaturen in den Büros richteten sich nur nach Männern im Anzug, während Frauen in Sommerkleidern und Sandalen fröstelten.12 Jeden Sommer wimmelt es in den so­zia­len Netzwerken von Posts weiblicher – und manchmal auch männlicher – User, die sich über die Kälte in den klimatisierten Gebäuden beschweren.

Die Klimatechnik hatte von Anfang an sehr einflussreiche Unterstützer: die US-Regierung, die ab den 1960er Jahren Privathaushalte mit einer Prämie bei der Anschaffung einer Klimaanlage unterstützte, Kreditanstalten, die von Gewerbetreibenden höhere Zinsen für Kredite verlangten, wenn deren Geschäfte nicht klimatisiert waren, Bauträger, die in ihren Plänen den Einbau von Klimageräten automatisch inte­grier­ten, und last but not least Energiegiganten wie General Electric.

Die Klimatisierung sorgte aber nicht nur für mehr Produktivität, Komfort und Umweltprobleme. Sie trug auch zur Entseuchung der Südstaaten bei, in denen damals noch tropische Krankheiten wie Gelbfieber oder Malaria grassierten. Und die sommerliche Sterberate ging tatsächlich zurück: Zwischen 1979 und 1992, als viele arme Amerikaner noch keine Klimaanlage hatten, kamen bei Hitzewellen mehr als 5000 Menschen ums Leben. Im Sommer 1995 gab es allein in Chicago 500 Todesopfer. Mittlerweile sind die Todeszahlen bei extremer Hitze glücklicherweise nicht mehr so hoch. Klimaanlagen sind in Krankenhäusern und Operationssälen genauso unverzichtbar wie für die Herstellung von Medikamenten, die eine kontrollierte Umgebungstemperatur brauchen. Und auch das Internet würde ohne die Kühlanlagen für Rechenzentren nicht funktionieren.

Den Einsatz von Klimaanlagen einzuschränken käme in den USA daher niemandem in den Sinn. 2008 wollte die UNO mit gutem Beispiel vorangehen und erhöhte die Temperatur in ihrem New Yorker Hauptsitz um 3 Grad. Doch die Initiative fand kaum Nachahmer. Nur einige wenige Städte erließen halbherzige Maßnahmen, um Exzesse einzudämmen. So versuchte 2015 die Stadt New York Einzelhändler zu bestrafen, die bei laufenden Klimaanlagen ihre Türen offen stehen ließen – ein alter Trick, um Passanten durch die kühle Brise anzulocken.

Nach dem Reaktorunfall in Fuku­shima mussten die Japaner ihren Stromverbrauch und damit auch die Klimatisierung drastisch reduzieren. Das rief auch gleich wieder die Tayloristen auf den Plan: Ein Professor der Tokioter Waseda-Universität ließ die nachlassende Produktivität von Büroangestellten bei höherer Raumtemperatur messen. Er kam zu dem Ergebnis, dass sie einem Arbeitszeitverlust von 30 Minuten pro Tag entsprach.13

1 Die öffentliche Beihilfe für Klimaanlagen belief sich 2011 in den USA auf 269 Millionen Dollar, was einem Viertel der Heizkostenzuschüsse entspricht. Siehe: „Low income home energy assistance program“, U. S. Department of Health and Human Services, Washington, D. C., 2015.

2 Siehe: Stan Cox, „Cooling a warming planet: a global air conditioning surge“, Yale Environment Magazine, 10. Juli 2012.

3 Alan Barreca, Olivier Deschenes und Melanie Guldi, „Maybe next month? Temperature shocks, climate change, and dynamic adjustments in birth rates“, Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA), Bonn, November 2015.

4 Gail Cooper, „Air-Conditioning America. Engineers and the Controlled Environment, 1900–1960“, Baltimore (Johns Hopkins University Press) 1998.

5 Gail Cooper, „Air-Conditioning America“, siehe Anmerkung 4.

6 Marsha E. Ackermann, Cool Comfort. America’s Romance with Air-Conditioning, Washington, D. C. (­Smi­tho­nian Institution Press), 2002.

7 Jeff E. Biddle, „Making consumers comfortable: The early decades of air-conditioning in the United States“, The Journal of Economic History, Bd. 71, Nr. 4, Cambridge, Dezember 2011.

8 Zitiert in Stan Cox, „Losing Our Cool: Uncomfortable Truths About Our Air-Conditioned World (And Finding New Ways to Get Through the Summer)“, New York (The New Press) 2010.

9 Stan Cox, „Cooling a warming planet“, siehe Anmerkung 2.

10 Raymond Arsenault, „The end of the long hot summer: The air conditioner and Southern culture“, The Journal of Southern History, Baton Rouge (Louisiana), Bd. 50, Nr. 4, November 1984.

11 Marsha E. Ackermann, „Cool Comfort“, siehe Anmerkung 6.

12 Petula Dvorak, „Frigid offices, freezing women, ­ob­livious men: An air-conditioning investigation“, The Washington Post, 23. Juli 2015.

13 Elisabeth Rosenthal, „The cost of cool“, The New York Times, 18. August 2012.

Aus dem Französischen von Markus Greiß

Global gekühlt, global erwärmt

Die Zeiten, als die USA der Hauptabsatzmarkt für innovative Klimatechnik waren, sind vorbei. Während insgesamt der Stromverbrauch für die Klimatisierung steigt (Stichwörter Erderwärmung und Hochhausboom), stagniert in den USA die Nachfrage nach neuen Modellen. Hier repariert man lieber sein altes Gerät. Dafür rückt nun die aufstrebende Mittelschicht in den Schwellenländern nach. In China wurden zwischen 2010 und 2016 mehr als 200 Millionen Klimaanlagen verkauft; bis 2020 könnte China bei der Anzahl der Geräte die USA überholen.

In Indien sind Klimaanlagen zwar bislang relativ wenig verbreitet (2 bis 3 Prozent der Haushalte), aber es gibt ein enormes Potenzial durch die wachsenden Me­tro­po­len und das feuchtheiße Klima. Im Mai 2016 kletterte das Thermometer im westindischen Phalodi auf über 50 Grad – ein neuer nationaler Hitzerekord. Seit etwa zehn Jahren steigt der Verkauf von Klimaanlagen in Indien jährlich um 15 bis 20 Prozent. Allein in den Jahren 2013 und 2014 wurden nach einem Bericht der US-Energiebehörde („International Energy Outlook 2016“) 3,3 Millionen Klimaanlagen auf dem Subkontinent verkauft. Das Produkt ist inzwischen so begehrt, dass in mancher Autowerbung nicht mehr die PS-Angabe, sondern die Kapazität der Klimaanlage im Zentrum steht. Sommer für Sommer stellt der steigende Stromverbrauch Indiens Infrastruktur auf eine harte Probe. Häufig gibt es Stromausfälle, die sich mitunter zu gigantischen Pannen auswachsen – wie im Juli 2012, als 600 Millionen Menschen zwei Tage lang keinen Strom hatten.

In Südkorea, dem heutigen Weltmarktführer, in Japan und den Golfstaaten sind Klimaanlagen längst selbstverständlich. In manchen Einkaufszentren am Persischen Golf kann man sogar Ski fahren, während es draußen über 40 Grad heiß ist. In Brasilien, Indonesien, Nigeria, Mexiko und auf den Philippinen steigt der Absatz ebenfalls rasant. Nach Hochrechnungen des Lawrence Berkeley Laboratory könnten bis 2030 etwa 700 Millionen und bis 2050 sogar 1,6 Milliarden Klimaanlagen verkauft werden. Dann wäre der Rest der Welt mit ungefähr genauso vielen Klimaanlagen ausgestattet wie die USA – und wird es mit demselben Teufelskreis zu tun bekommen.⇥B. B.

Le Monde diplomatique vom 10.08.2017, von Benoît Breville