10.08.2017

Superembryo

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Superembryo

Was die neue Eugenik alles kann

von Jacques Testart

Der Tasmanische Tiger ist schon lange ausgestorben. Genforscher wollen ihn zurückholen D. GRAY/reuters
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Ende des 19. Jahrhunderts erfand der Naturforscher Francis Galton, ein Cousin Charles Darwins, den Begriff Eugenik, die „Wissenschaft von der Verbesserung der Rassen“. Allerdings wird die moderne Molekulargenetik ältere Methoden der genetischen Manipulation – von arrangierten Ehen über Sterilisierung, Abtreibung und Kindstötung bis hin zur systematischen Ermordung – bald weit in den Schatten stellen.

In jüngster Zeit sind komplexe Gentechnologien entstanden, über deren faszinierendes und erschreckendes Potenzial breit berichtet wurde: die „genetische Schere“ CRISPR/Cas oder den „Gene Drive“ (zur beschleunigten Verbreitung veränderten Erbguts). In China gab es 2015 einen ersten Versuch, mit der CRISPR-Technologie Anoma­lien in menschlichen Embryonen zu reparieren, was die beschleunigte Genehmigung weiterer Forschungsprojekte in Großbritannien und den USA zur Folge hatte.

Inzwischen ist immer häufiger von einem Einsatz am Menschen die Rede, als beherrsche man die Genombearbeitung bereits. Ende Juli 2017 wurde ein weiterer Durchbruch bekannt: An der Oregon Health and Science University ist es erstmals gelungen, mithilfe der Genschere Erbkrankheiten in menschlichen Embryonen zu beheben – ohne Fehler und erkennbare Nebeneffekte.1

Oft zieht das genome editing jedoch Kollateralschäden nach sich, weil neben den angesteuerten auch andere Genabschnitte verändert werden, ohne dass man genau versteht, warum. Ein Experte vergleicht die eingesetzten Transfermittel, ob Bakterien, Partikel oder Mikroinjektionen, mit einem „Bulldozer, der sich an Spitzenklöppelei versucht: Der Druck, den man hier ausübt, hinterlässt unkontrollierbare Spuren in Form von Mutationen und Epimutationen.“2 Eine japanische Studie aus dem Herbst 20163 konnte zeigen, dass es möglich ist, Keimzellen herzustellen, indem man aus dem Schwanz einer Maus entnommene Zellen umprogrammiert – das bedeutet, man kann Embryonen in unbegrenzter Zahl herstellen.

Es begann 2005, als der Japaner Shin’ya Yamanaka entdeckte, dass Zellen, die im Organismus eine bestimmte Funktion erfüllen, auf andere Funktionen umprogrammiert werden können; so lassen sich etwa Haut- oder Blutzellen in Herz-, Nieren- oder Nervenzellen umwandeln. In allen Zellen eines Menschen oder Tiers findet sich dieselbe DNA, die ein Leben lang erneut aktiviert werden kann und dann andere Spezialisierungen hervorbringt, die in dem Organ, in dem sich die Zelle zuvor befand, nicht nötig waren und daher unterdrückt wurden. Dafür muss man die ausgereiften Zellen in multipotente oder pluripotente Stammzellen zurückverwandeln, um anschließend die gewünschte neue Funktion zu aktivieren.

Für diese Entdeckung erhielt Yamanaka 2012 den Nobelpreis für Medizin. Er konnte beweisen, dass die Zellen, die unseren Körper bilden, ähnliche Eigenschaften erwerben wie embryonale Stammzellen und damit geschwächte

Glossar

DNA Desoxyribonukleinsäure. Dieses lange Molekül in Form einer Doppelhelix ist der Träger der Erbinformation. Die Chromosomen bestehen aus DNA, die um Proteine, sogenannte Histone, gewickelt ist.

Nukleinsäuren Entlang der beiden Stränge, die das äußere Gerüst des DNA-Moleküls bilden, findet sich eine Abfolge von vier Bestandteilen, den Nuklein­basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin. Sie sind in gegenüberlie­genden Paaren miteinander verbunden, ihre Abfolge bildet die genetische Sequenz.

Gen Fragment der DNA-Sequenz, das die vererbbaren Eigenschaften eines Organismus bestimmt.

Genom Die gesamte Erbinformation aus allen Chromosomenpaaren – beim Menschen sind es 23.

Genlokus Genaue Position auf einer DNA-Sequenz, zum Beispiel der Ort eines bestimmten Gens.

Nukleasen Enzyme, die den DNA-Strang schneiden können. Es gibt zahlreiche natürliche Varianten in lebenden Organismen, aber sie können auch im Labor gebaut werden. Gentechniker nutzen als Werkzeug Nukleasen, welche die DNA an einem bestimmten Punkt schneiden können.

DNA- oder Gensequenzierung Exakte Bestimmung der Abfolge der Nukleinsäuren in einem DNA-Molekül, aus der man die Abfolge der Aminosäuren im entsprechenden Protein ableiten kann.

Superembryo

von Jacques Testart

Organe neu aufbauen können. In der Folge kam es zu zahlreichen Therapieversuchen. Bald stellte sich die Frage, ob sich Körperzellen womöglich in Keimzellen umwandeln lassen, was der bislang unumstößlichen Annahme widersprach, dass Körperzellen und Keimzellen grundverschieden sind.

Experimente mit Mäusen brachten innerhalb weniger Jahre enorme Fortschritte bei der In-vitro-Umwandlung von Körperzellen in Keimzellen – aus im Reagenzglas hergestellten Eizellen konnten 2016 erstmals gesunde und fruchtbare Mäusebabys gezeugt werden. Mit den jüngsten Forschungen ist nun der Beweis erbracht, dass auf diesem Weg im Prinzip auch menschliche Säuglinge produziert werden können.

Die mögliche Umwandlung von Körper- in Keimzellen ist zunächst eine große Errungenschaft der Grundlagenforschung, sie weckt aber auch Hoffnungen auf den Einsatz an Tieren oder Menschen. Allerdings sprechen die meisten Wissenschaftler, die an der künstlichen Herstellung von Keimzellen beteiligt waren, nicht so gern über mögliche Eingriffe am Menschen, sondern lieber nur über die neuen Methoden zur Rettung bedrohter oder sogar ausgestorbener Tierarten oder verschiedene Behandlungsmöglichkeiten von Unfruchtbarkeit. Mag sein, dass sich in 10 bis 20 Jahren für homosexuelle oder sterile Kinderwunschkandidaten neue Wege der Fortpflanzung öffnen oder sogar die Jungfernzeugung möglich wird.4

Doch die große ethische Frage, welche eugenischen Konsequenzen es haben wird, wenn man menschliche Ei- und Samenzellen im Überfluss herstellen kann, wird in der Regel komplett ausgeblendet. Weil bei diesem Thema immer die mögliche – ersehnte oder angeprangerte – Veränderung des embryonalen Genoms im Vordergrund steht, geht es daher meist nur um die Techniken der Genomchirurgie.

Dabei könnte eine relativ einfache Selektion, wenn sie denn umfassend und sorgfältig genug vorgenommen wird, durchaus auch eine Veränderung der menschlichen Spezies bewirken, und zwar ganz ohne die Risiken, die die Genomveränderungen durch ­CRISPR bergen.5 Während man früher für eine – von den tatsächlichen Eigenschaften erwachsener Personen ausgehende – „Verbesserung“ viele Generationen gebraucht hätte, erlauben die heutige Gentechnologie und die bald zahllos vorhandenen embryonalen Stammzellen eine Veränderung der menschlichen Gattung innerhalb weniger Generationen.

Die Präimplantationsdiagnostik (PID) macht es schon heute möglich, dass aus Embryonen, die durch künstliche Befruchtung (In-vitro-Fertilisation, IVF) entstanden sind, ein oder mehrere „Wunschkinder“ vor ihrer Einpflanzung in die Gebärmutter ausgewählt werden können. Da diese Prozedur ethisch umstritten und für die Mutter mit potenziell riskanten Hormonbehandlungen verbunden ist, unterliegt sie strengen Beschränkungen.

Zeugen oder Züchten

In Deutschland ist die PID nur in Ausnahmefällen gestattet, wenn „ein oder beide Elternteile die Veranlagung für eine schwerwiegende Erbkrankheit in sich tragen oder mit einer Tot- oder Fehlgeburt zu rechnen ist“. In Frankreich erlaubt das Bioethikgesetz seit 1994 die PID nur bei Paaren, die „eine schwere und unheilbare Krankheit vererben können“.

Tatsächlich haben Ethikkommis­sio­nen nach und nach die medizinischen Indikationen ausgeweitet: von autosomalen Krankheiten wie Mukoviszidose und Myopathien, bei denen auch ein Schwangerschaftsabbruch erlaubt ist, bis hin zu weniger schweren Krankheiten wie Hämophilie (Bluterkrankheit) oder genetischen Risikofaktoren, vor allem für Krebs. Das hat komplexe und großenteils unvorhersehbare Folgen, weil an Krebserkrankungen viele Gene und Umweltfaktoren beteiligt sind. Heute ist es vor allem die Angst, eine schreckliche Krankheit zu vererben, weswegen sich Paare für eine künstliche Befruchtung und PID entscheiden.

Man kann sich vorstellen, welche Revolution es bedeuten würde, wenn die In-vitro-Fertilisation ohne die aufwendige und risikobehaftete Hormontherapie für die betroffenen Frauen möglich wäre – nur durch die Entnahme von einem Stückchen Haut – und wenn man dabei zugleich problematische Erbanlagen ausschließen oder gewünschte Eigenschaften auswählen könnte. Nachdem es bei Mäusen funktioniert hat, wird das wohl eines Tages auch beim Menschen möglich sein.

Zunächst kommt es darauf an, die experimentellen Bedingungen so zu verbessern, dass die Herstellung von Keimzellen auch in der Medizin möglich wird. Dafür müsste als Erstes die Zellausbeute erhöht werden – derzeit braucht man 1000 Hautzellen, um eine einzige Eizelle zu gewinnen. Für das erste Klonschaf – Dolly, die inzwischen ausgestopft im schottischen Nationalmuseum in Edinburgh steht – waren vor 20 Jahren auch noch zahllose Zellen vonnöten, während auf diese Weise später zehntausende Tiere verschiedener Arten geklont wurden. Anschließend, und das ist das Wichtigste, muss sichergestellt werden, dass die umprogrammierten Zellen und die damit verbundenen Manipulationen keine unerwünschten Folgen für die Gesundheit des ungeborenen Kindes haben.

Auch wenn die aus einfachen Hautzellen hergestellten menschlichen Stammzellen dasselbe Genom besitzen, werden die Keimzellen, die daraus entstehen, alle verschieden sein, da sie eine Zellteilung durchgemacht haben: Dabei werden die Chromosomen in jeder Keimzelle willkürlich verteilt, und zwar so effizient, dass zwei Eizellen oder Spermien desselben Menschen niemals dieselbe genetische Komposition aufweisen. Die daraus hervorgehenden Embryonen sind lauter „falsche Zwillinge“, eine heterogene Population, die sich für eine Selektion anbietet.

Dank Computertechnik lassen sich immer mehr Zusammenhänge zwischen der DNA und bestimmten Wahrscheinlichkeiten nachweisen: Bestimmte Konfigurationen eines oder mehrerer Gene korrespondieren mehr oder weniger häufig mit bestimmten Eigenschaften der betreffenden Person, ohne dass man die biologischen Gründe dafür kennt. Hier stehen der PID schier unbegrenzte Anwendungsmöglichkeiten offen, sofern genug Embryonen zum Testen da sind.

Sollte es eines Tages tatsächlich eine schmerzfreie und sichere Methode möglich machen, unter mehreren Optionen ein ganz bestimmtes Kind auszuwählen, könnte man sich schon vorstellen, dass der Run auf Fruchtbarkeitskliniken noch zunehmen wird. Den Frauen bliebe die quälende Prozedur der Hormonbehandlung erspart, und jeder Embryo würde genetisch auf seine „Normalität“ hin überprüft werden. Was auf den ersten Blick plausibel klingt, ist aber eine Kontrollillusion, denn die Natur kennt gar kein „normales Genom“. Jedes Individuum ist Träger von mehreren potenziell pathologischen Genen.

Da anzunehmen ist, dass die meisten Paare bei ihrer Auswahl übereinstimmende Kriterien besitzen, die sich an den medizinischen und gesellschaftlichen Normen orientieren, könnte das auf eine neue Eugenik hinauslaufen, die sich von der früheren nur insofern unterscheidet, dass sie nicht von oben verordnet, sondern von den Eltern gewünscht wird. Die Krankenkassen würden von der Zurückdrängung schwerer Krankheiten durch vorgeburtliche Selektion zwar profitieren. Doch bei der statistischen Bewertung genetischer Risikofaktoren gibt es auch einen Haken: Sie ist keine Garantie für ein gesundes Kind.

Die Etappen für eine solche Selek­tion sind allesamt schon realisiert oder stehen kurz vor der Umsetzung: Dank der möglichen Umprogrammierung von Körperzellen stehen massenhaft Eizellen außerhalb des weiblichen Körpers zur Verfügung; den durch künstliche Befruchtung herangezüchteten Embryonen werden zwei Zellen entnommen; deren Genom wird mithilfe von Algorithmen mit einem „normalen“ Genom verglichen; Embryonen mit unerwünschten Genomen können mit „Einwilligung nach erfolgter Aufklärung“ der Eltern aussortiert und vernichtet werden; der „beste“ Embryo kann dann in die Gebärmutter eingepflanzt und die überzähligen Embryonen zur späteren Verwendung kryokonserviert werden.

In dem Prozess, in dem man das „Optimum“ des biologischen Menschheitserbes anstrebt, um eine neue Normalität zu fabrizieren, werden Unterschiede oder Abweichungen, auch von der Verhaltensnorm, wie etwa geistige Behinderungen, bald nicht mehr toleriert werden. Autoritäre Tendenzen im Namen des Allgemeininteresses sind ebenfalls nicht ausgeschlossen, und die optimierten, sich zunehmend ähnlichen Genome könnten innerhalb weniger Generationen dazu führen, dass wir – ganz nach dem Wunsch der Transhumanisten – den Homo sapiens hinter uns lassen, auf die Gefahr hin, die menschliche Vielfalt drastisch zu reduzieren.

Die aktuelle Debatte über das Thema wird durch zwei gegensätzliche Einstellungen verzerrt: Während man in westlichen Demokratien dazu neigt, Eugenik meistens nur mit den Zwangssterilisationen in der NS-Zeit und überhaupt autoritären Regimen zu asso­ziie­ren und den potenziell eugenischen Charakter der freien Entscheidung abstreitet, den die fortgeschrittene Genforschung impliziert, ist andererseits für die katholische Kirche jede Vernichtung eines Embryos oder Fötus gleichbedeutend mit Eugenik. Dabei gerät in Vergessenheit, dass die Selektion von Embryonen in der Lage sein könnte, die gesamte menschliche Spezies zu verändern.

Schließlich wäre eine solche eugenische Auslese etwas ganz anderes als eine Abtreibung, die in den meisten Fällen mit körperlichem und psychischem Leid verbunden ist. Wie viele Bedenkenträger oder Gesetzesinitiativen könnten sich der Forderung widersetzen, Kinder „besserer Qualität“ in die Welt zu setzen, wenn die Möglichkeit dazu besteht?

1 Siehe: Steve Connor, „Rewriting Life. First Human Embryos Edited in U. S. Researchers have demons­tra­ted they can efficiently improve the DNA of human em­bryos“, in: MIT Technology Review, 26. Juli 2017.

2 Yves Bertheau, „Nouveaux OGM: ‚Le débat est manipulé‘“, in: Pour la science,Nr. 464, Paris, Juni 2016. Vergleiche auch: Sharon Begley, „Do CRISPR enthusiasts have their head in the sand about the safety of gene editing?“, 18. Juli 2016, www.statnews.com.

3 Hikabe Orie et al., „Reconstruction in vitro of the entire cycle of the mouse female germ line“, in Nature, Nr.  39, London, 10. November 2016.

4 Elsa Abdoun, „Cellules de peau. Elles peuvent faire des petits“, in Science et Vie, Nr. 1191, Issy-les-Moulineaux, Dezember 2016.

5 „CRISPR gene editing can cause hundreds of unintended mutations“, Phys.org, 29. Mai 2017.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Jacques Testart ist Biologe und Forschungsdirektor am französischen Nationalinstitut für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm).

Le Monde diplomatique vom 10.08.2017, von Jacques Testart