09.11.2012

Europa und seine Roma

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Europa und seine Roma

von Henriette Asséo

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Das von großen Unterschieden geprägte Europa will nicht bloß als loser Verbund gelten. Doch die Krise sorgt dafür, dass mit der Enttäuschung über einander auch die politische Irrationalität zunimmt und die alten Klischees wieder aufleben: Die Deutschen sind diszipliniert, die Franzosen chauvinistisch, die Griechen typische Südländer und die Roma – Nomaden.

Dabei sind die Roma in Mitteleuropa und auf dem Balkan seit vier Jahrhunderten sesshaft. Die Familien haben langjährige, stabile Bindungen an ihre Siedlungsgebiete, sie haben sich nicht an irgendwelchen zufälligen Lagerplätzen spontan vermehrt. Aber warum hält sich das Bild vom fahrenden Zigeuner so hartnäckig? Durch welchen teuflischen Schachzug sind die Bewohner „illegaler Lager“ – die wohlgemerkt mit Genehmigung der Behörden seit einem Jahrzehnt dort leben – zu „umherziehenden Roma“ und „verwaltungsmäßigen Nomaden“ erklärt worden, die man von heute auf morgen umquartieren kann? Warum sieht niemand die Gefahr, die darin liegt, wenn diese Familien zusammengefasst, erkennungsdienstlich erfasst und kollektiv in Polizeiakten geführt werden?

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus bot sich in den ehemaligen Ostblockländern die Möglichkeit eines demokratischen Neuanfangs. Multikulturalismus galt als höhere Form der Demokratie, sogar Wahlgremien wurden nach ethnischem Proporz zusammengesetzt. Die von der jeweiligen Verfassung garantierten Minderheitenrechte sollten die soziale und politische Gleichstellung möglich machen. Mithilfe der multikulturellen Staatsbürgerschaft (multicultural citizenship) sollten sich Minderheitenrechte und die Verankerung der Demokratie in schöner Harmonie entfalten.1

Obwohl diese Idee in den beiden föderalen Staaten des ehemaligen Ostblocks, in Jugoslawien und der Tschechoslowakei, scheiterte, hielten viele daran fest und erklärten kurzerhand das ungarische Modell für beispielhaft. Das dortige Gesetz über die Rechte der nationalen und ethnischen Minderheiten von 1993 folgte ganz der Logik des Minderheitenschutzes. Dreizehn „alteingesessene“ Minderheiten wurden gesetzlich anerkannt, darunter auch die Roma. Diese hatten nun Anspruch darauf, auf allen gesellschaftlichen Ebenen vertreten zu sein; faktisch lief das Gesetz aber darauf hinaus, dass kleinere ethnische Gruppen den größeren nachgeordnet waren.

In den mittel- und osteuropäischen Ländern kehrte sich nach der Samtenen Revolution der Trend zur Integration der Roma um.2 Brüssel reagierte darauf mit der Entwicklung diverser Sonderprogramme. Anfang der 2000er Jahre einigten sich die Europäische Kommission und der Europarat dann auf ein Konzept für die „transnationale Minderheit in Europa“, das den Kampf gegen Diskriminierung im Rahmen einer „Roma-Dekade“ (Decade of Roma Inclusion, 2005 bis 2015) sowohl finanziell als auch rechtlich absichern sollte.

Die „transnationale Minderheit“ ist ein abstraktes politisches Gebilde, das mit der historischen und sozialen Wirklichkeit der Roma nicht viel zu tun hat. Vielmehr handelt es sich um ein bürokratisches Hirngespinst, das die Roma losgelöst von ihren Siedlungsgebieten betrachtet. Die Regierungen Osteuropas nahmen die Vorteile dieser Begrifflichkeit schnell wahr: Zum einen erhielten sie erhebliche finanzielle Unterstützung, zum anderen brauchten sie „Transnationalismus“ nur als „unzeitgemäßes Nomadentum“ zu übersetzen, um Enteignungen zu rechtfertigen.3 Bei ihren russischen Nachbarn konnten sie beobachten, wie ganze Roma-Dörfer umgesiedelt wurden.

Nach dem EU-Beitritt Bulgariens und Rumäniens im Jahr 2007 funktionierte die Multikultipolitik jedoch nicht mehr. In den beiden Ländern stellen die Roma zwischen 6 und 11 Prozent der Bevölkerung. Die meisten von ihnen hatten in den großen, inzwischen abgewickelten Industriebetrieben der kommunistischen Ära gearbeitet – und lebten nun unter den Augen Europas in elenden Gettos.

Zu den Kopenhagener Kriterien, die die EU-Beitrittskandidaten erfüllen mussten, zählte auch die Verabschiedung eines Verhaltenskodexes gegenüber den Roma. Im Gegenzug ließ Brüssel einen warmen Euroregen über die mittel- und osteuropäischen Ländern niedergehen, deren Regierungen die für die Integration der Roma vorgesehenen Gelder oft für eigene Zwecke abzweigten. Schwindelerregende Summen wurden ausgegeben, ohne dass die ansonsten sehr wachsamen europäischen Finanzinstitutionen deren Verteilung kontrolliert hätten. Bei den Roma-Familien ist jedenfalls nicht viel davon angekommen. Laut Weltbank-Bericht von 2012 verfügen 40 Prozent von ihnen nicht einmal über das lebensnotwendige Minimum an Nahrung.4

Die Definition der Roma als „transnationale Minderheit“ verwehrt ihnen den Status eines europäisches Volks mit eigener Kultur und Geschichte und drückt ihnen stattdessen den Stempel der ewigen Nomaden auf. Es gibt in manchen osteuropäischen Ländern sogar noch Kriminalbiologen, die wie in kommunistischen Zeiten (und wie in Deutschland unter den Nazis) das Bild der typischen Roma entwerfen: eine Mischung aus „orientalischen Nomaden“ und „sozialer Randgruppe“. Die biometrischen Daten ganzer Familien werden nach und nach im gesamten Schengenraum verfügbar gemacht.5

In Ungarn folgte auf die anfangs weitreichende Anerkennung der Minderheiten eine Welle antisemitischer und antiziganer Paranoia: Inzwischen bringen die regierungsfreundlichen Medien fast täglich etwas zum Thema „Zigeunerkriminalität“ und vermuten hinter dem Geldsegen aus Brüssel die unsichtbare Hand einer internationalen „jüdischen Plutokratie“. Bewaffnete rechte Milizen terrorisieren die Roma-Dörfer.

Das nebenstehende Foto macht die Diskriminierung der Roma im 20. Jahrhundert deutlich. Im Jahr 1968 wurden die Khaladitka Roma beim „Abschied vom Tabor“6 fotografiert, bevor man sie endgültig zwangsumsiedelte. Das Foto ruft Vorstellungen vom ewigen Reisenden auf, und man erkennt gar nicht, dass es in Wirklichkeit die Auswirkungen der großen Politik abbildet: nämlich der Umsiedlungsabkommen nach dem Zweiten Weltkrieg, die ab 1956 den Streit über die sowjetisch-polnische Grenzziehung durch die „Repatriierung“ der in der UdSSR ansässigen Polen lösen sollten.7

Damals standen die Wagen der Roma im Schlamm unbefestigter Straßen. Die Familien mussten die UdSSR verlassen und sich auf den Weg nach Polen machen. Sie galten nicht als Nomaden, sondern offiziell als „polnische Flüchtlinge“. Ihr Schicksal war tragisch: Die Khaladitka Roma wurden erst von den Nazis verfolgt und zum Teil ermordet, dann in die Kolchosen der russischen Sowjetrepublik gezwungen und mussten nun ihre letzte Kraft aufbringen, um ihre Pferde dem Zugriff der Zöllner, Veterinäre und Apparatschiks zu entreißen. Sie trugen die alten polnischen Namen ihrer Vorfahren: Alexandrowicz, den der polnische Fürst Pawel Sanguszko im Jahr 1732 zum wojt (Chef) ernannt hatte, Marcinkiewicz oder Stefanowicz, die von den Fürsten Radziwill 1778 in Litauen zu Chefs gemacht worden waren. Sie waren alle Katholiken und bildeten die „Polska Roma“, die Roma polnischer Nationalität.

Doch die Polen sonderten die „Zigeuner“ gleich an der Grenze aus und machten die Flüchtlinge zu „Russka Roma“, zu Fremden, die von anderswoher stammten – eine Bezeichnung, an die sie sich schließlich selbst gewöhnten.

Ihre Loyalität zu Polen wurde ihnen also niemals vergolten. Im Jahr 1980 konnten sich die Familien der Khaladitka Roma in ihrem eigenen Land nicht mehr frei bewegen. Zwar gingen mehr als 80 Prozent ihrer Kinder zur Schule, aber dort durften sie kein Romani (oder Romanes) sprechen – die schöne Sprache, deren Ursprung man in Nordrussland vermutet und die bis in die Mandschurei hinein gesprochen wurde, war verboten. Seit dem frühen 19. Jahrhundert gab es auch Romani-Literatur, verfasst von den verfolgten russischen und polnischen Roma-Intellektuellen.

Seit 1948 und verstärkt seit Unterzeichnung des Warschauer Pakts im Jahr 1955 praktizierten die kommunistischen Staaten die „Ciganska politika“, eine gesonderte Erfassung ihrer Roma-Staatsbürger, die als „Volk zigeunerischer Herkunft“ galten, nach Familien. Die zunächst „sanft“, dann „mit Zwang“ umgesetzte Assimilation sollte „die rückständige Zigeunerlebensweise“ beseitigen.

Verrat der Staaten an ihren Bürgern

Der kollektive Ausweiszwang hatte katastrophale Auswirkungen, was die freie Wahl des Arbeitsplatzes anbelangte: In der Tschechoslowakei wurden die Roma aus der Slowakei in die Industriebetriebe Böhmens umgesiedelt; in Ungarn, wo man die alteingesessenen Roma entwurzeln wollte, zerstörte man homogene Roma-Dörfer auf dem Land, um Arbeitskräfte für die Fünfjahrespläne zu gewinnen. Da die meisten Roma von da an in staatlichen Industriebetrieben oder landwirtschaftlichen Kollektiven beschäftigt waren, zählten sie auch zu den Verlierern des Privatisierungsjahrzehnts nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Sie sammelten sich in den Gettos der aufgegebenen Industriestädte.

Auch in den westlichen EU-Staaten werden die Roma trotz ihrer jahrhundertelangen Geschichte und ihrer Verfolgung in der jüngsten Vergangenheit nicht als vollwertige Staatsbürger anerkannt. Roma-Organisationen, die sich für öffentliche Anerkennung in ihren Heimatländern starkmachen, können nicht mit Unterstützung rechnen.

In seinem Buch über den Meister des sogenannten Zigeunerjazz, Django Reinhardt, erzählt Patrick Williams8 von einem Frankreich, das so treulos war, Franzosen, die der „Zigeunerverordnung“ unterlagen, im Jahr 1940 auf Verlangen der Deutschen in die Lager zu deportieren. Diese französischen Familien wurden erst im Mai 1946 freigelassen – und von den französischen Behörden als „Nomaden“ eingestuft. Seit 1969 heißen sie offiziell „Fahrende“.

Der 1982 gegründete Zentralrat deutscher Sinti und Roma hat bislang vergeblich dafür gekämpft, dass die Sinti und Roma als deutsche Volksgruppe und damit als Teil der deutschen Nation anerkannt werden. Eine Volksgruppe, die auf 600 Jahre Geschichte und Kultur in deutscher Sprache zurückblickt! Nach dem Zweiten Weltkrieg blieb den „deutschen Zigeunern“, den Überlebenden der Konzentrationslager, die deutsche Staatsbürgerschaft verwehrt; das Land Hessen übernahm sogar für seine „Landfahrer“-Kartei die Nummerierung von Hitlers Reichskriminalpolizeiamt.

Überall wurde mit zweierlei Maß gemessen. Angesichts der Frage, wie Europa darauf verfallen konnte, den Multikulturalismus für ein Allheilmittel zur Demokratisierung der mittel- und osteuropäischen Länder zu halten, befällt einen daher zumindest Ratlosigkeit.

Durch eine seltsame Wendung der Geschichte fanden sich diejenigen, die in bester Absicht die Interessen der Sinti und Roma vertreten wollten, plötzlich auf einer Ebene mit Renaissance-Gelehrten, die auch schon von einer „wandernden Nation“ sprachen. Das war zu einer Zeit, als Prophetie und Vernunft noch zusammengedacht wurden. Das „ägyptische“ Element (in der Renaissance wurden die Roma als „Ägypter“ bezeichnet, aus dem französischen Egyptiens leitet sich das Wort Gipsies ab) gehörte noch zur höfischen Kultur, und Zukunftsvorhersage war ein Teil davon. Erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde Wahrsagerei ins Reich der Illusionen verbannt. Die Einbildungskraft war fortan nicht mehr, wie in der aristotelischen Tradition, eine zwischen Wahrnehmung und Verstand vermittelnde Fähigkeit (oder wie für die Neuplatoniker die verborgene Verbindung zwischen Mikro- und Makrokosmos), sondern eine gefährliche Sache, die Fiktion und Irrtum erzeugen konnte.

Später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als eine „Zigeunerin“ dem österreichischen Erzherzog Franz Ferdinand vorhersagte, er werde bald den Anlass zu einem großen Krieg liefern, lachte dieser bloß: Keinesfalls würde er für eine solche Katastrophe verantwortlich sein. Die beiden Söhne dieser Frau wurden später von den Nazis nach Buchenwald deportiert, zusammen mit den anderen „Zigeunern“ aus dem einstigen Habsburgerreich. Und im brandenburgischen KZ Ravensbrück schrieb die Ethnologin Germaine Tillion den Romani-Wortschatz einer französischen Deportierten auf, einer Manouche (Sinti) aus Lille. Das Flickwerk der Staaten Mitteleuropas ersetzte die Vielvölkerkartografie des 19. Jahrhunderts.

Wie können wir die Zerstörung eines zivilisatorischen Bands, das über Jahrhunderte hinweg gewebt wurde, einfach hinnehmen? Die Angriffe auf friedliche Familien, die es trotz allem schaffen, sich ihre Familientraditionen, ihre Kultur und ihre Sprache zu erhalten? Um es mit einem Roma-Sprichwort zu sagen: „Jeder hat Anspruch auf einen Platz im Schatten.“

Fußnoten: 1 Will Kymlicka, „Multikulturalismus und Demokratie. Über Minderheiten in Staaten und Nationen“, Hamburg (Rotbuch) 1999. 2 Vgl. Norbert Mappes-Niediek, „Arme Roma, böse Zigeuner“, Berlin (Christoph Links) 2012. 3 Siehe Michael Stewart, „The Gypsy ‚Menace‘. Populism and the New Anti-Gypsy Politics“, London (Hurst) 2012. 4 „The situation of Roma in 11 EU Member States“, Gemeinsamer Bericht der Weltbank, der Grundrechte-Agentur der EU und des UN-Entwicklungshilfeprogramms UNDP, Brüssel, Mai 2012: fra.europa.eu/en/publication/2012/situation-roma-11-eu-member-states-survey-results-glance. 5 So zum Beispiel die seit Oktober 2009 bestehende französische Datenbank „Oscar“, die Fotos und Fingerabdrücke von ausgewiesenen Ausländern sammelt: www.unwatched.org/node/2164. 6 „Tabor“ ist ein polnisches Wort für Lager, auch für Militärlager; es ist auch ein Romani-Wort für einen Zusammenschluss mehrerer Familien. 7 Die Abkommen führten zur „Repatriierung“ polnischer Staatsbürger in mehreren Etappen (zwischen 1955 und 1960). 8 Patrick Williams, „Les quatre vies posthumes de Django Reinhardt. Trois fictions et une chronique“, Marseille (Parenthèses) 2010. Aus dem Französischen von Sabine Jainski Henriette Asséo ist Historikerin und Professorin an der Ecole des hautes études en sciences sociales (EHESS), Verfasserin von „Les Tsiganes: une destinée européenne“, Paris (Gallimard) 2010 und Koautorin des Dokumentarfilms „Mémoires tsiganes, l’autre génocide“ von 2011.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2012, von Henriette Asséo