09.11.2012

Nasser und die Muslimbrüder

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Nasser und die Muslimbrüder

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Als am 19. Juni 1967 der damalige ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser zum ersten Mal in seiner Amtszeit den Ministerrat einberief, erklärte er mit kaum hörbarer Stimme: „Dieses System ist zusammengebrochen, heute entsteht ein neues System.“ Was viele Beobachter nach Israels Überraschungsangriff vierzehn Tage zuvor schon vermutet hatten, wurde nun von dem Staatsoberhaupt selbst bestätigt: Nasser war mit seiner politischen Agenda1 am Ende. Den Nasseristen wurde nicht nur die Schande der militärischen Niederlage angelastet, auch ihr Programm galt als gescheitert. Die gewaltige Lücke, welche die verschiedenen laizistischen Kräfte – Nasserismus, Baathismus, Sozialismus und Kommunismus – nach ihrer Auflösung hinterließen, wurde später vom politischen Islam gefüllt.

Ich erinnere mich noch an die ungewöhnlichen Szenen von damals: Die Moscheen waren so überfüllt, dass viele Gläubige draußen auf dem Bürgersteig und in den Nebenstraßen beteten. Überall wurden Gebetsteppiche ausgebreitet. Der Straßenverkehr kam zum Erliegen. Es war offensichtlich, dass viele Verzweifelte Zuflucht und Trost im Glauben suchten. Die Parole, mit der die Islamisten schließlich auftraten, passte genau: „Al-islam huwa al-hal“ (Der Islam ist die Lösung). In Gesprächen mit gläubigen Muslimen hörte ich damals häufig, Israel habe gesiegt, weil die Juden an ihrer religiösen Tradition festhielten, weil sie an ihre Heilige Schrift glaubten, die ihnen das Recht auf einen Staat in Palästina verbürge. Die Niederlage der Muslime hingegen sei eine Folge ihrer Entfremdung von der Religion und ihrer Hinwendung zu weltlichen Ideologien.

Nasser erkannte früh, welche Veränderungen sich in der ägyptischen Gesellschaft vollzogen. Zur allgemeinen Überraschung ließ er etwa tausend inhaftierte Muslimbrüder frei, denen vorgeworfen wurde, einen Racheakt für den Tod ihres Vordenkers Sayyid Qutb zu planen, der 1966 hingerichtet worden war. Zugleich nahm Nasser Kontakt zu den im Ausland lebenden Führern der Bruderschaft auf, um die „nationale Einheit“ zu verwirklichen. Mit Nassers Einheitspartei ging es nicht recht voran, und die Bruderschaft war die einzige politische Kraft im Land, die über eine gut funktionierende und bewegliche Organisation verfügte.

Radio- und Fernsehsender wurden angewiesen, fortan regelmäßig Koranverse auszustrahlen und öfter auch konservative Prediger zu Wort kommen zu lassen. Aus Saudi-Arabien flossen reichlich Gelder nach Ägypten, es wurden Moscheen und Koranschulen gebaut und islamische Stiftungen eingerichtet – letztlich ein mehr oder weniger direkter Beitrag zur Herausbildung des Terrorismus. Auch andere Länder in der Region profitierten vom Geldsegen aus dem wahhabitischen Königreich. Die arabische Welt begann sich unwiderruflich zu wandeln.

Anwar al-Sadat2 , der 1970 Nassers Nachfolger wurde, förderte die allmähliche Islamisierung von Staat und Gesellschaft. Die Lehren des Propheten kannte er gut, schließlich hatte er in einer Koranschule lesen und schreiben gelernt. Er konnte fehlerfrei aus dem Koran zitieren und war schon mehrmals nach Mekka gepilgert. Man sah ihn häufig beim Gebet in der Moschee neben den gewöhnlichen Sterblichen demütig kniend – und stets im Blitzlichtgewitter der Journalisten. Auf all diesen Fotografien konnte man den kleinen dunklen Abdruck (zebib) auf seiner Stirn sehen, der sich durch häufiges Beten bildet. So ließ sich der „Vater der Nation“ auch gern als der „fromme Präsident“ bezeichnen.

In Radio und Fernsehen wurden immer mehr religiöse Feierlichkeiten und Predigten übertragen, in den Schulen gehörte der Religionsunterricht zu den Pflichtfächern. 1980 erreichte der Wandel seinen Höhepunkt: In die Verfassung wurde ein Zusatz aufgenommen, der den Islam zur Staatsreligion erklärte und die Scharia zur wichtigsten Quelle der Rechtsprechung.

Eine solche fast theokratische Staatsform hatte es in der Geschichte Ägyptens noch nicht gegeben, es war ein deutlicher Bruch mit der laizistischen Nasser-Ära. Doch Sadat brauchte politische Bündnispartner, um seine Macht zu festigen. Bei den Kräften der Linken war nichts zu holen, also umwarb er die Muslimbruderschaft. Zunächst begnadigte er einige hundert ihrer Mitglieder, die noch unter Nasser inhaftiert worden waren. Und er begann Gespräche mit den Führern der Bruderschaft.

Heute weiß man, dass Sadat dabei versuchte, seine Bewunderung für Hassan al-Banna ins Feld zu führen: Er hatte den Gründer der Muslimbruderschaft 1940 kennengelernt und verdankte ihm viel – als Sadat von den Briten interniert worden war, erhielt seine Familie regelmäßig Unterstützung von den Muslimbrüdern.

Die Bruderschaft vergaß aber auch nicht, was Sadat in seinen mehrfach umgeschriebenen Lebenserinnerungen nie erwähnte. Er hatte eine Reihe ihrer Führungsmitglieder an den Galgen gebracht, die 1954 angeklagt waren, ein Attentat auf Präsident Nasser geplant zu haben – damals war der Schützling des „Rais“ einer der drei Richter des „Revolutionstribunals“, das die Muslimbruderschaft abstrafen und ausschalten sollte.

Trotz solcher Vorbehalte zeigten sich die islamistischen Führer bereit, den Handel mit Sadat einzugehen. Sie sahen nur Vorteile: Sadat brauchte sie, um die alten Nasseristen und Kommunisten auszuschalten, die vor allem in der Arbeiterschaft und bei den Studenten immer noch viele Anhänger hatten – es ging also gegen einen gemeinsamen Feind. Und sie hofften auf einen Handlungsspielraum, der anderen politischen Gruppierungen nicht gewährt wurde, um ihren Einfluss auszuweiten. Als Sadat einige Jahre später auf Versöhnungskurs mit Israel ging, endete die taktische Allianz mit den Muslimbrüdern. Eric Rouleau

Fußnoten: 1 Gamal Abdel Nasser und die „Freien Offiziere“ übernahmen am 23. Juli 1952 die Macht in Ägypten. Der ägyptische „Rais“, der bald zum populärsten politischen Führer in der Nahostregion wurde, verband eine nationalistische, panarabische Ideologie mit Entwicklungspolitik im eigenen Land, vor allem durch Industrialisierung. Nasser ging auch eine dauerhafte Allianz mit der Sowjetunion ein. 2 Anwar al-Sadat gehörte ebenfalls zum „Bund der Freien Offiziere“. Seine Politik war gekennzeichnet durch die Annäherung an die USA und die wirtschaftliche Liberalisierung (infitah). 1977 markierte sein Besuch in Israel den Beginn der Verhandlungen, die zu einem Friedensvertrag mit Israel führten. Vier Jahre später fiel er einem tödlichen Attentat zum Opfer. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt Eric Rouleau ist Journalist bei der Tageszeitung Le Monde. In seinem in Kürze erscheinenden Buch „Dans les coulisses du Proche-Orient“ (Fayard) schildert er den Aufstieg des politischen Islam nach der Niederlage der arabischen Staaten 1967.

Le Monde diplomatique vom 09.11.2012, von Eric Rouleau