09.11.2012

Chinas Expansion ins Meer

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Chinas Expansion ins Meer

von Stephanie Kleine-Ahlbrandt

Chinas Expansion ins Meer
Seerecht

Seit Frühjahr 2012 drohen die Spannungen im Ost- und im Südchinesischen Meer zu eskalieren. Im April kam es in den umstrittenen Gewässern um das Scarborough-Riff 200 Kilometer westlich von Manila zu einem Scharmützel zwischen chinesischen Fischerbooten und der philippinischen Küstenwache. Der Zusammenstoß wuchs sich zu einer monatelangen Konfrontation aus. Als im Juni die Vietnamesen neue Schifffahrtsregeln für das Gebiet um die Spratly- und die Paracel-Inseln verkündeten, reagierte die Pekinger Führung mit der Erhebung der Siedlungen auf den Inseln in den Rang einer Stadt und der Stationierung einer Militärgarnison. Im September spitzte sich dann der Konflikt zwischen China und Japan zu, als die Regierung in Tokio den Kauf der Senkaku-Inseln (auf Chinesisch Diaoyu-Inseln) bekannt gab. Die Chinesen antworteten mit Wirtschaftssanktionen, umfänglichen Militärmanövern, antijapanischen Demonstrationen in mehreren Großstädten und verstärkten Patrouillen in den umstrittenen Gewässern.1

Chinas Umgang mit derartigen Zwischenfällen lässt sich als „reaktives Geltendmachen von Ansprüchen“ beschreiben: Die Regierung reagiert auf vermeintliche Provokationen mit massiven Gegenmaßnahmen, die den Status quo zu ihren Gunsten verändern sollen. Sie hat sich damit von Deng Xiaopings langjähriger Politik der Konfliktvermeidung und der freundschaftlichen Beziehungen mit dem Ausland verabschiedet.2

Das Südchinesische Meer ist eine der wichtigsten Schifffahrtsstraßen der Welt und verfügt über riesige unterseeische Ressourcen. Genau deshalb ist es ein potenzieller Konfliktherd zwischen China, den südostasiatischen Anrainerstaaten Vietnam, Philippinen, Malaysia und Brunei sowie den USA. Bei seinen asiatischen Nachbarn löste China 2009 große Besorgnis aus, als es bei den Vereinten Nationen eine Landkarte mit der sogenannten Neun-Striche-Linie einreichte. Diese neun Striche bilden eine u-förmige Linie, die den größten Teil des Südchinesischen Meeres umfasst, wobei das umrissene Gebiet mit dem vagen Begriff „relevante Gewässer“ bezeichnet wurde.

Neun Drachen machen Druck

Die Regierung begründet diese Linienziehung mit historischen Ansprüchen, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen. Dabei hatte das Land 1996 das UN-Seerechtsübereinkommen ratifiziert, das bestimmt, dass die Staaten ihre historischen Ansprüche zugunsten einheitlich festgelegter Meereszonen aufgeben müssen. Diese Zonen sind die unmittelbar an die Küste anschließenden Hoheitsgewässer von 12 Seemeilen und die anschließende 200 Meilen weit reichende ausschließliche Wirtschaftszone. Chinas Anspruch auf alle Gewässer innerhalb der „Neun-Striche-Linie“ ist daher nicht mit dem internationalen Seerecht vereinbar. Völkerrechtlich zulässig wäre nur der Anspruch auf die Gewässer vor geografischen Strukturen (Festlandküsten oder Inseln), die China als sein Territorium ansieht.

In jüngster Zeit haben diverse Demonstrationen des Durchsetzungswillens der Anrainerstaaten die Spannungen angeheizt. Denn China ist nicht der einzige Staat, der seine Ansprüche auf die Gewässer vehement verteidigt. Angesichts vermuteter Öl- und Gasvorkommen sowie knapper werdender Fischbestände sind auch Vietnam und die Philippinen auf Konfrontationskurs gegangen. Zugleich haben die Sorgen über Chinas immer selbstbewussteres Auftreten in der Region die Mitglieder des südostasiatischen Staatenbunds Asean und Japan veranlasst, militärisch aufzurüsten und eine engere Zusammenarbeit untereinander wie auch mit den USA anzustreben.3

Der außenpolitische Kurs der Volksrepublik hat sich auch deshalb verhärtet, weil verschiedene Akteure innerhalb des Landes die Spannungen im Südchinesischen Meer nutzen, um ihre eigenen politischen oder wirtschaftlichen Interessen voranzutreiben. Zu diesen Akteuren zählen Kommunal- und Provinzverwaltungen, die Kriegsmarine, das Umwelt- und das Außenministerium, Staatsunternehmen, Ordnungsbehörden und die Zollbehörde. In China spricht man von den „neun Drachen, die das Meer aufwühlen“.4

Zu ihnen gehören etwa die Hafenstädte in den Provinzen Hainan, Guangxi und Guangdong. Um die Güterproduktion zu steigern – ein wesentlicher Erfolgsmaßstab für chinesische Bürokratien –, bringen sie die Fischer dazu, immer weiter in die umstrittenen Gewässer vorzudringen. Zum Beispiel, indem die Behörden kleineren Booten die Zulassung entziehen und die Fischer so zwingen, auf größere Schiffe umzusteigen, die mit satellitengestützten Navigationssystemen ausgerüstet sind.5 Die Provinzregierung von Hainan hat darüber hinaus – allen Protesten Vietnams zum Trotz – mehrfach versucht, Tourismusprojekte auf den Paracel-Inseln zu entwickeln. Gegenüber Peking agieren die lokalen Behörden dabei nach dem Motto: „Erst handeln, dann fragen.“ Sie treiben also ihre ökonomische Agenda in den umstrittenen Gewässern auf eigene Faust voran und stecken nur zurück, wenn die Zentralregierung negativ reagiert.

Zu den verstärkten Aktivitäten in den umstrittenen Gewässern trägt auch der Wettbewerb zwischen den beiden größten maritimen Ordnungskräften des Landes bei. Sowohl die Seeüberwachungsbehörde als auch die Behörde für Fischereikontrolle haben im Zuge ihrer direkten Konkurrenz um Macht und Geld ihre jeweiligen Flotten erheblich ausgebaut. Indem sie ihren Einfluss ausweiten, können sie noch mehr öffentliche Mittel beanspruchen, denn die Verteidigung der angeblichen territorialen und maritimen Rechte Chinas wird von Peking ausdrücklich prämiert.

Für die Zentralregierung wiederum ist es von Vorteil, dass sie ihre Ansprüche mittels ziviler Behörden bekräftigen kann, ohne gleich eine militärische Konfrontation mit anderen Ländern zu riskieren. Die Schiffe der Ordnungsbehörden sind leichter bewaffnet als Kriegsschiffe und für den Gegner deshalb weniger bedrohlich, aber gerade das macht einen Zusammenstoß nur noch wahrscheinlicher.6 Selbst Fischerboote werden immer häufiger eingesetzt, um hoheitliche Ansprüche im Südchinesischen Meer geltend zu machen, was das Risiko von Konflikten zwischen chinesischen Schiffen und denen anderer Anrainerstaaten noch erhöht.

Dagegen spielt die chinesische Kriegsmarine eine eher zweitrangige Rolle, auch wenn sie ihre Präsenz im Südchinesischen Meer beständig ausweitet.7 Bei den jüngsten Zwischenfällen hielten sich ihre Schiffe stets im Hintergrund oder kreuzten erst später auf. Die Lösung des akuten Konflikts überließen sie stets zivilen Schiffen. Gleichwohl ist die Aufrüstung und Modernisierung der Kriegsflotte, im Verein mit der mangelnden Transparenz, dazu angetan, die Spannungen in der Region zu verschärfen. Dies allein schon deshalb, weil die anderen Staaten mit konkurrierenden seerechtlichen Ansprüchen ihrerseits auf den Ausbau ihrer Seestreitkräfte setzen.

Eigentlich wäre es die Aufgabe des Außenministeriums, die verschiedenen Instanzen und Akteure zu beraten und zu koordinieren. Allerdings mangelt es ihm offenbar an der notwendigen Autorität, während andere Akteure über ähnliche oder noch größere Macht und zugleich über ein hohes Maß an Autonomie verfügen.

Das Problem hat sich in den letzten Jahren noch zugespitzt, weil vormals rein innenpolitisch ausgerichtete Institutionen wie das Handels-, das Finanz- und das Staatssicherheitsministerium oder die Staatliche Kommission für Entwicklung und Reform sich zunehmend auch in die Außenpolitik einmischen. Überdies gerät das Außenministerium verstärkt unter den Druck der öffentlichen Meinung. Immer mehr Bürger fordern explizit, die chinesische Diplomatie müsse den gewachsenen wirtschaftlichen Einfluss der Regionalmacht widerspiegeln.

Die Regierung hat in der Vergangenheit immer wieder nationalistische Strömungen ausgenutzt und sogar noch verstärkt, wenn es ihren Interessen dienlich war. Das hat allerdings auch eine Kehrseite, denn dieser Nationalismus schränkt den Spielraum der Regierung bei den territorialen Disputen ein. Als das Außenministerium zum Beispiel Anfang des Jahres versuchte, die Spannungen in der Region durch die Erklärung zu mildern, dass man keineswegs das ganze Südchinesische Meer beanspruche, war die öffentliche Reaktion äußerst negativ.8 Schließlich war der Bevölkerung jahrzehntelang eingebläut worden, die Hoheitsansprüche Chinas als unveräußerliches Recht zu betrachten.

Gerade auch im Internet wird immer wieder angezweifelt, ob die Regierung wirklich entschlossen und fähig ist, die Hoheitsansprüche zu verteidigen. Das reicht bis zu der Beschuldigung, „Blut und Schweiß des chinesischen Volkes“ würden von kapitalistischen Verrätern ausgebeutet, die sich als kommunistische Parteiführer kostümiert hätten. Oder bis zur Forderung, das Land von korrupten Beamten zu säubern, die den „Ausverkauf der nationalen Interessen Chinas“ betrieben.9 Funktionäre des Regimes befürchten bereits, das Anwachsen dieser kritischen Stimmung könnte zu Massenunruhen führen und die politische Stabilität des Landes gefährden.

Die chinesische Regierung setzt daher nun verstärkt auf ihre Politik, die Ansprüche im Südchinesischen Meer „reaktiv geltend zu machen“. Jedes Mal, wenn ihre Hoheitsansprüche und ihre verstärkte Präsenz in den umstrittenen Gewässern zu Konflikten mit anderen Anrainerstaaten führen, fällt die Reaktion der Regierung in Peking unverhältnismäßig scharf aus – was sie dann als berechtigte Antwort auf eine Provokation durch fremde Mächte ausgibt. Bei dem Scharmützel zwischen Fischerbooten beim Scarborough-Riff im April etwa hatten die Philippinen ein Kriegsschiff in die Region entsandt.10 Dies war ein idealer Vorwand für die Führung in Peking, um ihre Ansprüche auf die umstrittenen Gebiete durch die Schaffung vollendeter Tatsachen zu unterstreichen: Sie entsandte ihrerseits Überwachungsschiffe der Marine, blockierte die Einfuhr tropischer Früchte aus den Philippinen, weitete das saisonale Fischereiverbot, das für chinesische Gewässer gilt, auf die Riffzone aus und blockierte die Einfahrt in die Lagune für andere Fischerboote. Indem sie ihre Schiffe in diesem Seegebiet patrouillieren lässt und philippinische Fischer von der Riffzone fernhält, ist es der chinesischen Führung gelungen, den Status quo zu ihren Gunsten zu verändern.

Ein Vorwand, um neue Fakten zu schaffen

Ähnlich drastische Maßnahmen ergriff China, nachdem Vietnam im Juni ein neues Schifffahrtsgesetz verabschiedet hatte, dessen Geltungsanspruch sich auch auf das umstrittene Gebiet um die Spratly- und Paracel-Inseln erstreckt. Daraufhin entschied die Regierung in Peking, den Status der Gemeinde Sansha, die sich über mehrere der umstrittenen Inseln im Südchinesischen Meer erstreckt, zu einer Stadt aufzuwerten und eine ständige Garnison dort einzurichten.

Zudem offerierte die mehrheitlich in Staatsbesitz befindliche China National Offshore Oil Corporation (CNOOC) Lizenzen für die Erdölsuche in neun Blocks, die zu einem Fördergebiet innerhalb der vietnamesischen 200-Meilen-Zone gehören. Für einige dieser Blocks hat das Unternehmen PetroVietnam ebenfalls schon Lizenzen ausgeschrieben. Auch in diesem Fall nutzte China das vietnamesische Gesetz als Vorwand, um neue Fakten zu schaffen.

Als Vietnam und die Philippinen im Juli 2012 versuchten, einen Hinweis auf das Scarborough-Riff in die Abschlusserklärung des 45. Ministertreffens der Asean-Staaten einzubauen, wurde die Veröffentlichung des Kommuniqués vom Gastgeberland Kambodscha unterbunden. So etwas hatte es in der 45-jährigen Geschichte des südostasiatischen Staatenbundes noch nicht gegeben. Der chinesische Außenminister Yang Jiechi übermittelte daraufhin dem kambodschanischen Regierungschef seinen Dank für die Unterstützung „zentraler Interessen“ seines Landes.11 Es war ein weiterer Erfolg der chinesischen Strategie, die da lautet: „Jeden Fall für sich behandeln und jeden Gegner einzeln besiegen.“12

Den Spannungen im Südchinesischen Meer folgte im September eine Krise im Ostchinesischen Meer. Ausgelöst wurde sie durch die Erklärung der japanischen Regierung, der Kauf der Senkaku-/Diaoyu-Inseln stehe unmittelbar vor dem Abschluss. Dadurch sollte verhindert werden, dass die Inseln in die Hände des Gouverneurs von Tokio fallen, der als nationalistischer Hardliner bekannt ist. Die japanische Regierung wollte das Problem außerdem vor dem für November anstehenden Machtwechsel in Peking aus dem Weg haben, um dem neuen Regierungschef nicht gleich nach Amtsantritt „einen Schlag ins Gesicht zu versetzen“.

In Peking wurde die Kaufankündigung jedoch nur als Bekräftigung der japanischen Hoheitsansprüche interpretiert – und der Zeitpunkt als bewusster Versuch, den Machtwechsel in China zu stören und das Land so zu destabilisieren. Die Regierung in Peking steht derzeit stark unter Druck angesichts zunehmender Proteste gegen die Korruption, der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich und der drohenden Inflation, zu denen noch Gerüchte über Zwistigkeiten in der Parteiführung kamen. Sie sah sich daher zu einer entschiedenen Antwort genötigt, um so die Botschaft auszusenden, dass die Führung keineswegs geschwächt ist. Das bedeutet freilich auch, dass sich Peking endgültig von der Konfliktvermeidungsstrategie gegenüber Tokio verabschiedet, die beide Länder jahrzehntelang im Ostchinesischen Meer verfolgt hatten.

Der chinesische Nationalismus macht den Konflikt in den Gewässern zwischen China und Japan zu einem noch explosiveren Thema als die Streitigkeiten im Südchinesischen Meer. Das hat viel mit den Gräueltaten zu tun, die von der japanischen Armee auf chinesischem Boden vor und während des Zweiten Weltkriegs begangen wurden. Die Erinnerung an diese Kriegsverbrechen erklärt die tief sitzenden Ressentiments vieler Chinesen, die den Status der Diaoyu-Inseln zu einem wichtigeren Thema machen als alle anderen territorialen Konflikte in der jüngeren chinesischen Geschichte. Umgekehrt empfinden viele Japaner den Aufstieg Chinas als eine Bedrohung der japanischen Hoheitsansprüche in der Region. Auch hier reißen die Ereignisse um die umstrittene Inselgruppe alte historische Wunden auf. Wo aber der Nationalstolz angeheizt wird, verengt sich der Spielraum für diplomatisches Vorgehen.

Die chinesische Regierung ist kaum noch in der Lage, den Nationalismus für die Durchsetzung ihrer Interessen zu instrumentalisieren. Die öffentliche Meinung lässt sich vor allem durch das Aufkommen der neuen Medien nicht mehr ohne weiteres kontrollieren. Dies hat zur Folge, dass die antijapanische Stimmung viel leichter zu einem Faktor werden kann, der die Legitimität der Regierung infrage stellt. Denn die Enttäuschung des Nationalstolzes, verursacht durch die vermeintliche Nachgiebigkeit Pekings gegenüber Japan, ist nur ein Grund für die Unzufriedenheit mit der Regierung. Hinzu kommt der Vorwurf vieler Chinesen, dass diese nichts gegen die grassierende Korruption, den Abbau sozialer Leistungen, die vielen Lebensmittelskandale und die rapide steigenden Lebenshaltungskosten unternehme.13

Verschiedene Fraktionen innerhalb der chinesischen Führungselite versuchen überdies, die antijapanische Stimmung auszunutzen, um sich im Zuge des alle zehn Jahre stattfindenden Regierungswechsels mehr Einfluss zu sichern. Diese Taktik praktiziert vor allem die Neue Linke, ein lockerer Zusammenschluss von Regierungsbeamten, Politaktivisten und Intellektuellen, die für eine Rückkehr zum Maoismus und eine stärkere Rolle des Staates in der Wirtschaft eintreten.14 Diese Linken üben scharfe Kritik an reformorientierten Politikern wie Ministerpräsident Wen Jiabao, denen sie zu große Nachgiebigkeit und den Ausverkauf chinesischer Interessen an ausländische Mächte vorwerfen.15

Die Position Pekings gegenüber Tokio verhärtet sich auch deshalb, weil die japanfreundlichen Politiker in China immer rarer werden. Die ältere Generation der chinesischen Führung, einschließlich des diplomatischen Dienstes, hatte noch im Zweiten Weltkrieg gegen Japan gekämpft. Danach hatten sie sich stets um gute bilaterale Beziehungen bemüht, um einen neuen Krieg zwischen beiden Ländern zu verhindern. Vor allem die beiden dominierenden Persönlichkeiten, Tschu En-lai (Ministerpräsident von 1949 bis 1976) und Deng Xiaoping (der starke Mann innerhalb der KP von 1978 bis 1992), konnten sich für freundschaftliche Beziehungen mit Japan einsetzen, ohne Angriffe wegen eines Ausverkaufs nationaler Interessen fürchten zu müssen.16

Seit dieser Zeit ist die Bedeutung Japans für die chinesische Außenpolitik jedoch deutlich geschwunden. In Peking ist seitdem die Anzahl und der Einfluss der „Japan-Helfer“ stetig zurückgegangen. Und diese gehen zudem aus Angst, als Verräter zu gelten, kaum noch Risiken ein. Hinzu kommt der Generationswechsel im Auswärtigen Dienst: Die aktuell für die chinesische Japanpolitik verantwortlichen Diplomaten haben zum einen weniger direkte Erfahrungen mit Japan, zum anderen mangelt es ihnen an historischer Perspektive. Viele dieser Diplomaten sind überzeugt, dass China seine nationalen und territorialen Interessen nachdrücklicher verfolgen sollte, seit es Japan als Wirtschaftsmacht überholt hat und langsam zu den USA aufrückt.

Die chinesisch-japanischen Beziehungen haben für die staatliche Bürokratie insgesamt an Bedeutung eingebüßt, während die Beziehungen zu den USA als weit bedeutsamer eingestuft werden. Viele Chinesen nehmen Japan heute nur noch als eine Art Stellvertreter der USA in Ostasien wahr. In ihren Augen ist die japanische Außenpolitik der US-amerikanischen Asien-Pazifik-Strategie untergeordnet. Und die sei nur darauf ausgerichtet, den Aufstieg Chinas zu behindern.

Ein weiterer Faktor ist die Abkehr von der Führung durch einen starken Mann und die Entwicklung zu einem Modell kollektiver Führung. Das hat zur Folge, dass einzelne Politiker weniger Spielraum für einen moderaten Umgang mit Japan haben. Selbst Präsident Hu Jintao, der als eines der japanfreundlichsten Mitglieder des Politbüros gilt, kann sich hier nur sehr vorsichtig bewegen.

Aber auch in Japan haben sich die Positionen gegenüber China verhärtet. In den letzten Jahren wurden die Diplomaten der sogenannten chinesischen Schule – die Chinesisch sprechen und über Netzwerke in China verfügen – aus den führenden Positionen verdrängt, nachdem sie wegen ihrer versöhnlichen Politik unter Beschuss geraten waren. Seit der Entmachtung der China-Kenner wird die Politik von Leuten gemacht, die kaum noch über Wissen, Kontakte oder Erfahrungen in Bezug auf China verfügen. Dadurch sind auch die informellen Kanäle ausgetrocknet, über die früher hinter den Kulissen und unabhängig von der öffentlichen Meinung Kompromisse angebahnt und abgeschlossen wurden.

Alte Wunden werden aufgerissen

Und es sieht ganz so aus, als würden auch künftige japanische Regierungen eine unnachgiebige Haltung gegenüber China einnehmen. Mit Shinzo Abe ist gerade ein bekennender Nationalist an die Spitze der oppositionellen LDP gerückt. Und in der Presse wie in der öffentlichen Meinung wächst die antichinesische Stimmung. Nach einer Umfrage, die schon vor dem Zwischenfall um Senkaku stattgefunden hat, haben 84,3 Prozent der Japaner eine negative Meinung über China.17

Die prompte Reaktion der Volksrepublik auf den Kauf der umstrittenen Inseln durch Japan wurde in den staatlichen chinesischen Medien als „Schlagkombination“18 gefeiert: Den ersten Schlag führte Ministerpräsident Wen Jiabao mit seinem Schwur, „keinen Zentimeter zu weichen“, gefolgt von der Bemerkung des designierten Staatschefs Xi Jinping, der den Kauf eine „Farce“ nannte. Das war der Auftakt für Wirtschaftssanktionen, die Ankündigung gemeinsamer Manöver der Marine, der Luftwaffe und einer Einheit von Langstreckenraketen sowie Landungsübungen auf Inseln im Gelben Meer und in der Wüste Gobi.

Die weitreichendste Maßnahme der Pekinger Regierung war jedoch zweifellos die Festlegung von Basislinien zur Demarkierung der chinesischen Hoheitsgewässer rund um die Inseln – und zwar noch am selben Tag, an dem in Tokio der Inselkauf bekanntgegeben wurde. Damit gelangte die umstrittene Inselgruppe nach Auffassung Pekings unter chinesische Verwaltung, was einer direkten Kampfansage an Japan gleichkommt. Damit hat sich China, ohne eine formelle Annexion zu vollziehen, die Möglichkeit verschafft, seine Patrouillen in Gewässern zu verstärken, die zuvor von der japanischen Küstenwache beherrscht worden waren. Mit der Demarkierung lässt sich auch die vermehrte Fangtätigkeit chinesischer Fischerboote in dieser Zone begründen, was das Risiko künftiger Zwischenfälle weiter erhöht.

Der Machtzuwachs Chinas und seine Politik in den umstrittenen Gewässern stellen eine Gefahr für das Gleichgewicht in der Region dar. Die jüngsten Aktionen der Pekinger Regierung bedeuten eine Abkehr von der Politik Deng Xiaopings, territoriale Streitigkeiten ruhen zu lassen und umstrittene Gebiete stattdessen gemeinsam zu entwickeln. Auf diese neue Politik reagieren wiederum die anderen Anrainerstaaten mit militärischer Aufrüstung und einer engeren Zusammenarbeit untereinander und mit den USA.

Wachsender Nationalismus und Aufrüstung ebenso wie das Fehlen starker politischer Führer und die Instabilität, die der Machtwechsel in China mit sich bringt, erhöhen die Gefahr, dass die Spannungen in der Region eskalieren. Die Lage ist umso brisanter, als angesichts zunehmender Konfliktpotenziale auf den Meeren die Mechanismen und Organisationen zur Entschärfung solcher Konflikte geschwächt sind. Das südostasiatische Staatenbündnis Asean ist gespalten, die Diplomatie ist in einer Sackgasse, gemeinsame Entwicklungsprojekte sind gescheitert. Angesichts dessen muss unbedingt alles verhindert werden, was die Region weiter destabilisiert. Nur so lässt sich verhindern, dass die Spannungen zu einem offenen Konflikt eskalieren.

Fußnoten: 1 Siehe Stephanie Kleine-Ahlbrandt, „Dangerous Waters“, in: Foreign Policy, 17. September 2012. 2 Deng Xiaopings Devise lautete: „Die Souveränität sichern, Streitigkeiten beilegen, eine gemeinsame Entwicklung anstreben.“ In der Fassung des Außenministeriums: „Wenn die Bedingungen für eine nachhaltige Lösung eines territorialen Konflikts nicht reif sind, dann muss jede Diskussion über Fragen der Souveränität vertagt werden, um den Konflikt ruhen zu lassen.“ Siehe: „Set aside dispute and pursue joint development“, Ministry of Foreign Affairs of the People’s Republic of China, 17. November 2000. 3 „Stirring up the South China Sea (II): Regional Responses“, International Crisis Group Asia Report, Nr. 229, 24. Juli 2012. 4 Die vollständige Liste in: „Stirring up the South China Sea (I)“, Appendix C, International Crisis Group Asia Report, Nr. 223, 23. April 2012. 5  Siehe Stephanie Kleine-Ahlbrandt, „Fish Story“, in: Foreign Policy, 25. Juni 2012. 6 Kriegsschiffe operieren oft zurückhaltender als die Schiffe ziviler Behörden. Letztere neigen wie Fischerboote eher dazu, sich gegen zivile wie gegen Kriegsschiffe zur Wehr zu setzen. 7 Obwohl Kriegsschiffe in den umstrittenen Gewässern patrouillieren, waren sie seit 2005 in keinen Zwischenfall mit anderen Staaten verwickelt. 8 Die Erklärung erfolgte auf einer Pressekonferenz von Außenamtssprecher Hong Lei am 29. Februar 2012. Zahlreiche nationalistisch orientierte Wissenschaftler und Internetnutzer unterstützen vehement die mit der „Neun-Striche-Linie“ dokumentierten maximalistischen Forderungen. 9 „Zweihundert westliche Konzerne rauben die Öl- und Gasvorkommen im Südchinesischen Meer aus. Wie lange wird die chinesische Regierung ihre sinnlose Politik noch fortsetzen?“ hieß es etwa auf www.cnewn.com. „Verräter des Südchinesischen Meers, Volksfeinde, ewige Schande“ lautete der Titel eines Eintrags im Nansha Islands Forum vom 15. Mai 2012: www.nansha.org.cn. 10 Die Regierung in Manila erklärt die Entsendung ihres größten Kriegsschiffs nachträglich damit, dass es ohnehin in der Nähe gewesen sei. Das klingt wie ein Eingeständnis, dass die Entsendung eines Kriegsschiffs gegen chinesische Fischerboote einen Konflikt eskalieren ließ, für den eigentlich andere Behörden zuständig sein sollten. 11 „Cambodia PM meets Chinese FM on bilateral ties“, Xinhua News, 10. Juli 2012. 12 Dieses Motto findet sich in zahlreichen chinesischen Artikeln. Siehe etwa: „Yu Zhirong: Gründet die Stadt Sansha, um Vietnam eine Lektion zu erteilen“, Global Times, 25. Juni 2012. 13 Zur Zeit der antijapanischen Demonstrationen im September reicherten viele Teilnehmer in Internetforen ihre antijapanischen Bemerkungen mit Kritik an der chinesische Regierung an. Ein Beispiel: „Wir genießen weder Menschenrechte noch Eigentumsrechte, aber wir kämpfen für unsere Hoheitsrechte über die Diaoyu-Inseln.“ 14 Am 18. September demonstrierten in Peking hunderte Bauern an der Seite des selbsterklärten „revolutionären linken“ Intellektuellen Han Deqiang mit Mao-Porträts und antijapanischen Parolen. Siehe: South China Morning Post, 21. September 2012. 15 Im Juli kursierte ein offener Brief von Linken, die den Rücktritt von Wen Jiabao forderten, der „in den Diensten bourgeoiser Bürokraten und der US-Regierungsclique“ stehe. Siehe John Chan, „Open letter demands Chinese premier’s removal“, World Socialist Web Site, 8. September 2012. 16 Dennoch wurde diese Kritik auch an Deng Xiaoping geäußert. Im Fall des früheren KP-Generalsekretärs Hu Yaobang (1980 bis 1987) wurde dessen „verbrecherische“ japanfreundliche Politik als eine der Gründe für seinen Sturz genannt. 17 Siehe „Nationalism in Japan: Beware the Populists“, The Economist, 6. Oktober 2012. 18 Ein Begriff aus der Boxersprache, siehe Xinhua News, 12. September 2012. Aus dem Englischen von Nicola Liebert Stephanie Kleine-Ahlbrandt ist Projektleiterin der International Crisis Group (ICG) für China und Nordostasien. Sie lebt und arbeitet in Peking.

Seerecht

Die Ansprüche Chinas auf eine umfassende „ausschließliche Wirtschaftszone“ (AWZ) in den Meereszonen vor seiner Küste sind durch das geltende Völkerrecht nicht gedeckt. Das Internationale Seerechtsübereinkommen (SRÜ) von 1982, von China 1996 unterzeichnet, verleiht in Artikel 121 nur bewohnten und „bewohnbaren“ Inseln eigene Hoheitsgewässer und eine eigene AWZ, mit exklusivem Recht auf Fischfang und Ausbeutung des Meeresbodens. Die von China beanspruchten „Inseln“ sind häufig nur unbewohnbare Felsklippen. Diese begründen keineswegs einen Anspruch auf AWZs mit einem 200-Seemeilen-Radius, ungeachtet der „historischen“ Ansprüche Chinas auf alle Inseln und Felsen im Südchinesischen Meer. Denn diese Ansprüche konkurrieren mit denen anderer Anrainerstaaten wie Vietnam oder Philippinen, die eine viel längere Küstenlinie besitzen als die winzigen Inseln. Die Küstenlänge aber ist der Maßstab für die „faire“ Aufteilung von konkurrierenden AWZs, wie sie der Internationale Gerichtshof (IGH) in mehreren Schiedssprüchen (etwa im Fall Italien vs. Tunesien) entwickelt hat. Verbindlich zu klären wäre die Abgrenzung der Ansprüche in diesen Meeren also nur durch ein Schiedsverfahren des IGH, das von China aber abgelehnt wird.

Niels Kadritzke

Le Monde diplomatique vom 09.11.2012, von Stephanie Kleine-Ahlbrandt