08.06.2017

Das andere Ende der Geschichte

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Das andere Ende der Geschichte

von Santiago Alba Rico

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Schwer zu sagen, ob der heilige Benedikt von Nursia, der 529 in Monte Cassino den nach ihm benannten Mönchsorden gründete, auf seiner Flucht durch die Ruinen des Römischen Reichs bewusst den „Zusammenbruch einer Zivilisation“ erlebte oder ob er – was wahrscheinlicher ist – das Chaos als eine Art Nachspielzeit betrachtete, das die endgültige Wiederkunft Christi ankündigte und zugleich hinauszögerte.

Gewiss ist, dass das Christentum die Zeit – anders als die von Zirkularität und ewiger Wiederkehr ausgehenden griechischen Denker oder die Gnostiker mit ihrer Vorstellung der Vertikalität – entwirrte und streckte, um sie in eine kontinuierliche Linie zu verwandeln.

Dieses Verständnis von einer Linie oder einem Zeitstrahl trug, nachdem es nicht mehr im Zusammenhang der religiösen Erlösung gesehen, sondern in die Gesellschaft hineingetragen worden war, auf unterschiedlichen Wegen zu den aufgeklärten und kapitalistischen Konzepten von Geschichte bei. Für die Christen stellte die Geschichte einen steten Rückschritt dar; für das Denken der Moderne nach der Französischen Revolution und der industriellen Revolution war sie von kontinuierlichem Fortschritt gekennzeichnet.

Für die einen wie die anderen lief sie auf jeden Fall unablässig – bergab oder bergauf – auf ihre Vollendung zu. Seit Hegel diese Idee 1807 in der „Phänomenologie des Geistes“ systematisierte, haben die Menschen im Westen jede Krise und jeden Krieg als einen notwendigen Schritt hin zu einer besseren Zukunft betrachtet.

Dass die Jahreszahlen ab dem Jahr null unserer Zeitrechnung immer größer werden, wird spontan als Zugewinn betrachtet, als unwiderrufliches Anwachsen unseres Bankguthabens. Wir können uns nicht vorstellen, dass 2017 weniger und nicht mehr als 2016 sein könnte. Seit zwei Millennien sparen wir Zeit an – während wir uns gleichzeitig verschulden, uns aufopfern und scheitern –, um sie am Ende gegen eine Tafel Schokolade oder ein Mobiltelefon einzutauschen.

Die von Marx und den Marxisten geteilte Vorstellung von der Geschichte als Fortschritt wurde nur von einigen Schwarzsehern infrage gestellt: unter anderen von Autoren wie Walter Benjamin1 und Louis Althusser. Ihre Beschäftigung mit Ruinen und Niederlagen, die durch keine Erlösung und keine Entschädigung ausgeglichen werden, schien dem Alltagsverstand zu widersprechen. Der sah die Beschleunigung des Konsums, die zweite industrielle Revolution nach 1945 sowie den Zusammenbruch der UdSSR 1989, der eine utopische Schwelle hin zu einer endgültigen Fusion von Frieden und Demokratie markieren sollte. So global und umfassend der Höhenflug dieser Illusion war, so brutal war ihr Absturz im letzten Jahrzehnt.

Die Krise von 2008, die Wende vom Technikoptimismus zur Hightech-Angst, die Abkehr vom Wohlfahrtsstaat sowie von sozialen und Bürgerrechten und die Rückkehr des Kriegs (einschließlich der damit verbundenen Massenvertreibungen und terroristischen Metastasen) haben auch die Wahrnehmung der Zeit verändert: Sie scheint nun stillzustehen in ihrem Flussbett, geronnen, in Einzelteile zerlegt. Die Vorstellung von einem um sich greifenden „Zusammenbruch der Zivilisation“ hat sich durchgesetzt. Die christlich-aufklärerische Linearität ist wieder von der griechischen Vorstellung eines ewigen Kreislaufs oder der Vertikalität der Gnostiker abgelöst worden.

Anders als in der Vorstellung eines mehr oder weniger stabil oder in Zickzackbahnen verlaufenden Fortschritts kehrt die Geschichte jetzt in die limes des Römischen Reichs oder in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts zurück: Sie gerät durcheinander, verläuft in Schleifen und stürzt – sich überschlagend – in die verhängnisvollste Vergangenheit zurück. Anders als im „Wandel“, der einen kumulativen Übergang von der Quantität zur Qualität darstellt (man denke an historische Revolutionen), treten die Transformationen jetzt plötzlich ein, fulminant, aus dem Nichts, ohne Vorbereitung und Vorläufer.

Der Kapitalismus, das gleichermaßen zerstörerischste und optimistischste aller Systeme, ist auf einmal grimmig und pessimistisch geworden. Entgegen den Prognosen von 1989 hat die Zeit der Dritten Welt – um es einmal so auszudrücken – nun auch die kapitalistischen Zentren erobert. Heute ist alles Peripherie. Und deshalb haben es alle so eilig, Grenzen zu ziehen und diese zu befestigen.

2017 ist wahrscheinlich eine niedrigere Zahl als 2016 oder sogar 2011. Und selbstverständlich auch niedriger als 1945. Das 20. Jahrhundert endete 2016 mit dem Tod Fidel Castros, eines politischen Führers, der das kleine Kuba in das unbequeme Zentrum des Kalten Kriegs verwandelte und dessen nicht zu leugnendes Geschick alle geopolitischen Laster und Tugenden der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in sich vereinte. Mit Castros Tod jedoch beginnt das blutigste Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit in gewisser Hinsicht von Neuem.

Die Auslöschung der historischen Erinnerung

Wir beginnen das 20. Jahrhundert neu, weil in den beiden letzten Jahrzehnten die politischen, rechtlichen und moralischen Grundlagen zerstört wurden, auf denen die – ihrerseits nicht sonderlich gerechte – Nachkriegsordnung nach 1945 beruhte: Erst verflüchtigte sich das Gleichgewicht zwischen den Lagern des Kalten Kriegs, dann die US-Hegemonie als vermeintliche Garantin einer triumphal verkündeten und niemals Wirklichkeit gewordenen Stabilität.

Die Abwesenheit der UdSSR ermöglichte ab 1994 auch eine Entwicklung, die als „fortschrittlicher Zyklus“ in Lateinamerika beschrieben worden ist und die sowohl einen Bruch mit dem Erbe des Sozialismus des 20. Jahrhunderts als auch mit dem neokolonialen Einfluss Washingtons auf dem Kontinent darstellte.

Dieses mit einem demokratischen Impuls einhergehende „Abschmelzen des Kalten Kriegs“ entfaltete 2011 ein letztes Mal seine Wirkung, als sich die Völker der „arabischen Welt“ gegen die Diktaturen in Nordafrika und im Nahen Osten, die letzten Überlebenden der alten bipolaren Ordnung, erhoben. Der sogenannte Arabische Frühling – in Wirklichkeit war er nicht nur arabisch, und er dauerte mehrere Jahreszeiten an – setzte eine globale demokratische Revolution in Gang, die mit der 15-M-Bewegung eines ihrer Zentren in Spanien hatte, aber auch andere südeuropäische Länder sowie die Türkei und die USA erfasste.

Beim extrem schnellen und im freudianischen Sinne „unheimlichen“ Umschlagen der 2011 geweckten Hoffnungen gibt es eine fragile und bemerkenswerte Ausnahme im Süden Europas: Ich meine die drei Länder Griechenland, Portugal und Spanien, die bis in die 1970er Jahre von Diktaturen beherrscht wurden, sich als Letzte und mit der größten Begeisterung der EU anschlossen und sich sowohl in Konsumismus stürzten als auch die Sparpolitik (die im Widerspruch zum Konsum stand oder diesen zumindest erodieren ließ) äußerst konsequent umsetzten.

Der Fall Spanien ist besonders spannend. Warum ist das noch 1975 katholischste Land der Welt heute das am wenigsten homophobe? Warum ist ausgerechnet das Land, das sein gescheitertes „Nationalprojekt“ auf der Exklusion des Anderen begründete, heute das am wenigsten rassistische und islamophobe? Wieso ist ein vor achtzig Jahren brutal durch einen Bürgerkrieg polarisiertes Land heute das toleranteste und am wenigsten gewalttätige? Und warum ist Spanien in gewisser Hinsicht das einzige Land, in dem weder der soziale Rechtspopulismus noch der kulturelle Faschismus auf dem Vormarsch sind – oder zumindest viel langsamer als anderswo?

Ich würde behaupten, dass dies, ähnlich wie in Griechenland und Portugal, mit einem Mangel oder Fehler zu tun hat: mit der völligen Auslöschung der historischen Erinnerung. Bei dem Versuch, die kulturellen Folgen des Franquismus zu erklären, sei auf den berühmten Historiker Ibn Chaldūn (1332-1406) verwiesen, der in seinem Buch „Die Muqaddima“ fragt, warum „Gott die Hebräer vierzig Jahre lang durch die Wüste irren ließ“. Vier Jahrzehnte, die Lebensdauer einer ganzen Generation, so lautet seine Antwort, waren notwendig, um die „Erinnerung an die Sklaverei“ auszulöschen.

Im Fall Francos waren vierzig Jahre notwendig, um umgekehrt die Erinnerung an die Freiheit auszuradieren. Spanien trat in die EU ein und stürzte sich fast ohne jede Erinnerung in den Konsumrausch. Heute, vier Jahrzehnte nach dem Tod des Diktators, ist das Land weder positiv noch negativ in der Vergangenheit verwurzelt, was sich in der Tatsache manifestiert, dass selbst die patriotische spanische Rechte, als unmittelbare Erbin Francos, das Wort „Vaterland“ als identitären Katalysator preisgegeben hat und stattdessen den marktliberalen Begriff „Marke Spanien“ verwendet. Hier zeigt sich die Logik der Krämer, die das Wort „Patriotismus“ der Linken zur Aneignung überlassen hat.

Die Wahrheit ist, dass Spanien, während die Krise das Land wie eine Naturgewalt erschütterte und das in der „demokratischen Transition“ entstandene Zweiparteiensystem rasant an Zustimmung verlor, bereits ein Land ohne Erinnerung, Traditionen und Fahne war. Man könnte davon sprechen, dass es von repressivem Konsens und „Massenhedonismus“ (um einen Begriff von Pier Paolo Pasolini zu verwenden) neu formatiert worden war. Ein Land ohne Geschichte ist dem Schicksal überlassen, launisch und postfaktisch. In ihm kann alles geschehen.

1 In „Zentralpark“, einer in der Zeit von 1938 bis 1939 entstandenen Fragmentsammlung, notierte Benjamin: „Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Daß es ‚so weiter’ geht, ist die Katastrophe“, Gesammelte Schriften, Bd. I.2, S. 683.

Aus dem Spanischen von Raul Zelik

Santiago Alba Rico ist spanischer Philosoph und Publizist. Zuletzt erschienen: „Ser o no ser (un cuerpo)“, Barcelona (Seix Barral), 2017. Dieser Text ist entnommen aus: „El gran retroceso“, Barcelona (Seix Barral) 2017. In der deutschen Ausgabe „Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit“, Berlin (edition suhrkamp), 2017, ist dieser Essay nicht enthalten. Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung. © Santiago Alba Rico

Le Monde diplomatique vom 08.06.2017, von Santiago Alba Rico