12.01.2017

Die idiotische Wette des Matteo Renzi

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Die idiotische Wette des Matteo Renzi

Italien braucht Reformen und keine Machtspiele

von Raffaele Laudani

Kerry James Marshall, Voyager, 1992, Acryl, Collage, Glitzer auf Leinwand, 233,4 x 233 cm © Kerry James Marshall
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Matteo Renzi war einst angetreten, um als „rottamatore“, wie er sich selbst bezeichnete, den alten Politklüngel Italiens aufzumischen. Nun ist der „Verschrotter“ selbst auseinandergenommen worden. „Ich fahre zurück nach Pontassieve, wie jedes Wochenende. Ich öffne die Haustür, die anderen schlafen alle . . . wie immer. Aber dieses Mal ist es anders. Zusammen mit mir kommen Kartons an, voll mit Büchern, Kleidung, Notizen. Ich bin aus der Dienstwohnung im dritten Stock des Palazzo Chigi ausgezogen. Ich kehre wirklich nach Hause zurück.“ Das war Renzis Facebook-Eintrag nach dem Referendum, in dem die von ihm vorgeschlagene Verfassungsänderung mit einer Mehrheit von 60 Prozent abgelehnt wurde, und das bei einer Rekordwahlbeteiligung von über 65 Prozent.

Sein Absturz kam nicht überraschend. Der ehemalige Bürgermeister von Florenz wurde zum Opfer eben jener politischen Logik, die ihm im Februar 2014 zur Macht verholfen hatte: Ständig werden neue Politiker zum Messias erkoren und landen ebenso schnell auf dem Scheiterhaufen. Das bedient die in der Gesellschaft verbreitete Sehnsucht nach einem Neuanfang, ohne den Status quo tatsächlich infrage zu stellen.1 Bei Mario Monti (Ministerpräsident von 2011 bis 2013) und Enrico Letta (Ministerpräsident von 2013 bis 2014) spielten dabei technokratische Argumente eine wichtige Rolle, während der Aufstieg von Matteo Renzi stärker politisch begründet war; er verdankte ihn vor allem seiner Kritik am Establishment.

Von Anfang an war man bei Renzi an den italienischen Staatsphilosophen Nicolò Machiavelli erinnert. Um dem unvermeidlichen Verfall – Machiavelli hätte von „Korruption“2 gesprochen – seines innovativen Kapitals etwas entgegenzusetzen, hätte der neue italienische „Principe“ versuchen können, sich durch einen Bruch mit der neoliberalen Politik beliebt zu machen, die Ita­lien nun seit dreißig Jahren beherrscht. Doch derartige Neigungen liegen nicht in seinen politischen Genen, so wenig wie bei den sozialen Kräften, die ihm zum Erfolg verholfen hatten. Auch hätte er versuchen können, die christdemokratischen Tendenzen in seiner Demokratischen Partei (PD) zu stärken und eine große Partei der Mitte aufzubauen, in der alles irgendwie Platz hat – eine Art „Partei der Nation“, wobei er sich auf seine besondere Beziehung zur Forza Italia des Silvio Berlusconi hätte stützen können.

Die Bewegung der Fünf Sterne sagte Nein

Doch der Rottamatore hat gesündigt. Aus Hochmut. Überzeugt, die gemäßigte Wählerschaft auf seiner Seite zu haben, glaubte er, auf Berlusconi und die Unterstützung anderer Parteien verzichten zu können. Er entschied sich für den bonapartistischen Weg des plebiszitären Konsenses mit einer Abstimmung, die er ganz an seine Person knüpfte. Er hatte alle politischen Kräfte, die Gewerkschaften und sogar Teile seiner eigenen Partei gegen sich. Er ist aufs Ganze gegangen und hat verloren, weil vor allem die jungen Wähler mit „No“ votierten.3

Renzis Entscheidung, das italienische Volk über die Verfassungsreform abstimmen zu lassen, passt zwar zu seinem großspurigen Stil, beruht aber durchaus auch auf rationalen Erwägungen. Er wusste, dass er in der Öffentlichkeit nicht mehr gut dastand. Da bot sein Projekt einer Verfassungsreform, die über die faktische Entmachtung der zweiten Kammer des Parlaments die Blockade der italienischen Politik lösen sollte, die ideale Gelegenheit, sein Image als Reformer wiederaufzupolieren.

Gleichzeitig drängte er damit die Leute von Beppe Grillos Fünf-Sterne-Bewegung (MoVimento 5 Stelle, M5S), seine schärfsten Konkurrenten beim Thema Veränderung, in die Rolle von Verteidigern der etablierten Ordnung. Und schließlich hätte ein gewonnenes Referendum auch einen Sieg über die linke Minderheit in seiner eigenen Partei bedeutet, sodass er die Verbindungen der PD mit den linken Parteien endgültig hätte kappen können.4

Renzis Fehler war, dass er das Ausmaß der Unzufriedenheit in der italienischen Gesellschaft unterschätzt hat. Er glaubte, die Wähler noch mit schönen Reden, falschen Versprechungen und aggressiver Medienpräsenz einwickeln zu können – wie es Berlusconi vor ihm gelungen war.

Der ehemalige Herausgeber und Chefredakteur des Corriere della Sera, Ferruccio de Bortoli, meinte dazu, Renzi sei nicht klar gewesen, dass er nach drei Jahren an der Macht in den Augen der Italiener nicht mehr der Outsider war, der für Veränderung steht, sondern „selbst die Macht war“. Er war derjenige, der die Möglichkeit besaß, Dinge zu verändern, aber untätig geblieben ist.5

Renzis Ankündigung, sich im Fall einer Niederlage aus dem politischen Leben zurückzuziehen, hat niemand wirklich geglaubt. Dafür ist sein Machthunger einfach zu groß. Vermutlich wird er in den nächsten Monaten damit beschäftigt sein, offene Rechnungen innerhalb der PD zu begleichen. Schließlich will er vermeiden, dass die Strömungen, die ihn bisher unterstützt haben – insbesondere der einflussreiche Kreis um Kulturminister Dario Franceschini –, sich auf die Seite seiner Konkurrenten Pier Luigi Bersani und Massimo D’Alema schlagen.

Außerdem plädiert Renzi für eine schnelle Auflösung des Parlaments und für vorgezogene Neuwahlen, auch im Namen der immerhin 12 Millionen Wählerinnen und Wähler, die mit „Si“ gestimmt haben. Mit Verweis auf dieses ohne Verbündete erzielte Ergebnis könnte er sich als Opfer eines konservativen Blocks darstellen, der ihn daran gehindert habe, das Land zu modernisieren. Einstweilen wird der Verschrotter mit der gebotenen Diskretion versuchen, die Hebel der Macht nicht aus den Händen zu geben.

Der am 12. Dezember 2016 zum neuen Regierungschef ernannte Paolo Gen­ti­loni ist der perfekte Strohmann. Der eher unauffällige Politiker hatte 2013 in Rom bei der Vorwahl des Mitte-links-Bündnisses für das Bürgermeisteramt gerade einmal 14 Prozent der Stimmen bekommen. Nun stützt sich der bisherige Außenminister auf dieselbe Parlamentsmehrheit wie Renzi und steht einem fast identischen Ministerrat vor. Die einzigen nennenswerten Änderungen: die Entlassung von Bildungsministerin Stefania Giannini, die eine äußerst umstrittene Schulreform auf den Weg gebracht hat – und sich damit als Sündenbock für die Niederlage der Regierung empfiehlt; und die Beförderung von Maria Elena ­Boschi. Die frühere Ministerin für die Verfassungsreform, die engste Vertraute Ren­zis, wurde zur Staatssekretärin im Ministerratspräsidium ernannt, eine Schlüsselposition, über die die wichtigsten Regierungsvorhaben laufen.

Während der Rottamatore nun also von außen versucht, das Handeln und auch die Amtszeit der Regierung Gentiloni zu kontrollieren und sich gleichzeitig für den bevorstehenden Wahlkampf freizuspielen, bringt er seine Partei in eine schwierige Position: Der PD wird während des Wahlkampfs wieder die Last der Regierungsmacht zu tragen haben und könnte, wie Massimo D’Alema laut La Repubblica vom 12. Dezember 2016 einräumte, bei den nächsten Wahlen „von einer Welle hinweggefegt“ werden, während Beppe Grillo der Wahlsieg auf dem Silbertablett präsentiert wird. Grillos Fünf-Sterne-Bewegung tritt übrigens wieder in ihren Lieblingsrollen auf, als Verteidiger der „Würde der Bürger“ gegen eine Regierung und eine Partei, die die „Souveränität des Volkes“ mit Füßen treten.

Dem M5S ist es gelungen, sich als die wahren Gegner der Verfassungsreform zu präsentieren. Monatelang hat die Bewegung die politische und mediale Bühne beherrscht. Zu verdanken hat sie das insbesondere ihrem neuen Star Alessandro di Battista. Der junge Abgeordnete hat mit einer Kampagne im Sommer große Aufmerksamkeit erregt: Auf einem Motorroller mit der Aufschrift „#iodicono“ (Ich sage nein) fuhr er Italien und seine Strände ab, während andere Politiker ihren Urlaub genossen. Als sich die anderen Parteien nach und nach gegen die Reform aussprachen, wurden sie zu unfreiwilligen Unterstützern der Fünf-Sterne-Bewegung, die nun das Ergebnis des Referendums nutzen möchte, um Neuwahlen herbeizuführen.

Als das italienische Parlament im Mai 2015 ein neues Wahlgesetz beschloss, das der Partei mit den meisten Stimmen eine Mehrheit von fast 55 Prozent der Sitze in der Abgeordnetenkammer zusichert, hat Beppe Grillo das als „Betrug“ bezeichnet – und nun hat der M5S ausgerechnet dank dieses neuen Gesetzes gute Chancen, durch die nächsten Wahlen an die Macht zu gelangen. Zugute kommt ihm auch, dass die Angst vor „antipolitischen“ Bewegungen offenbar schwindet: Nach dem Sieg des „Nein“ kam es auf den Finanz- und Kapitalmärkten nicht zu dem angekündigten Erdbeben. Womöglich grassiert diese Angst ja in Wirklichkeit nur unter Politikern.

Nur der M5S konnte seine Wähler auf eine gemeinsame Linie einschwören: 95 Prozent seiner Sympathisanten sollen beim Referendum vom 4. Dezember mit „Nein“ gestimmt haben.6 Die Grillo-Partei hat es gelernt, Politik zu betreiben. Mit erstaunlicher Wandlungsfähigkeit schafft sie es, sich der Öffentlichkeit in den verschiedensten Rollen zu präsentieren: als Garant von Recht und Ordnung, als Verteidiger von Verfassungswerten, als Reformer, als Umweltschützer, als Beschützer der Schwachen, als migrationsfeindlich und europakritisch. Mal gibt sie sich rebellisch, mal eta­bliert, ohne in den Augen der Italiener, insbesondere der jüngeren, an Attraktivität zu verlieren.

Den Linken fehlt es an politischer Fantasie

Sind sie erst einmal im Amt, können sich auch die Politiker des M5S als weniger strahlend erweisen. Dies zeigt der Fall der neuen Bürgermeisterin von Rom, Virginia Raggi, die im Juni 2016 gewählt wurde. Seither lähmt eine Serie von Rücktritten und internen Schlammschlachten die Stadtverwaltung.7 Am 15. Dezember kam es nach Korruptionsvorwürfen sogar zu einer gerichtlich angeordneten Durchsuchung im Kapitol.

Ein weiterer großer Gewinner des Referendums ist der wieder einmal auferstandene Silvio Berlusconi. Nachdem er sich eine Zeit lang bedeckt gehalten hatte, nahm er, seinem politischen Instinkt folgend, die Witterung des Wählerwillens auf und positionierte seine Partei Forza Italia in letzter Minute beim „Nein“-Lager. Obwohl viele seiner Anhänger dann doch für die Reform gestimmt haben (laut Schätzungen des Istituto Cattaneo je nach Region zwischen 20 und 40 Prozent), stand Berlusconi nach der Abstimmung als Sieger da. Zwar hat er keine Ambitionen mehr, noch einmal Regierungschef zu werden, aber er hat in eine politische Rolle zurückgefunden, die zum Tragen kommen wird, falls es in Italien nach der Wahl zu einer großen Koalition kommen sollte.

Auch die linke Minderheit innerhalb der PD hat lange, fast zu lange gezögert, bevor sie sich für das „Nein“ aussprach. 30 Prozent der PD-Anhänger haben gegen Renzi gestimmt – ein Verlust, den er nur teilweise mit Stimmen aus dem Mitte-rechts-Lager kompensieren konnte. Ein weiterer Effekt ist, dass die Parteilinken Bersani und D’Alema nun erst recht – und mehr als Renzi oder Berlusconi – wie Opportunisten dastehen, denen es in erster Linie um ihr eigenes Überleben geht.

Diese Situation hätte eine Chance für die Parteien links der PD sein können. Die Linke Ökologie Freiheit (Sinistra Ecologia Libertà, SEL) hatte sich gegen die Verfassungsreform starkgemacht und gehört insofern eigentlich zu den Gewinnern des Referendums. Ihr politischer Einfluss hat sich jedoch verringert, da ihre Kampagne neben der des M5S unterging.

Die SEL, die in Umfragen auf magere 4 Prozent kommt und sich dabei noch in diverse Strömungen und Untergruppen unterteilt, ringt um eine klare politische Rolle: Da der M5S die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen für sich vereinnahmt hat, ist eine Neuausrichtung über den Protest gegen neoliberale Konzepte schwierig. Andererseits gelingt es dem M5S wenigstens, einige Wähler von der rechtspopulistischen und fremdenfeindlichen Lega Nord abzuziehen.

Den linken Parteien Italiens fehlt es vor allem an politischer Fantasie. Seit den 1980er Jahren kommen sie mit immer denselben Slogans. Am Morgen des Referendums erklärte Giuliano Pisapia, Exbürgermeister von Mailand und Zugpferd der SEL, er sei aufgeschlossen gegenüber einer Verbindung mit der PD. Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass sie mit den Kräften der politischen Mitte breche, die ihr in den letzten Jahren zur Mehrheit im Parlament verholfen haben. Er bot an, selbst die entscheidende Rolle zu übernehmen, sobald er einmal „die linken Parteien jenseits der PD“ in einem „neuen, progressiven Zusammenschluss“ vereint habe.8

Der landesweite Koordinator der SEL Nicola Fratoianni hielt in der Huffington Post dagegen und bezeichnete diesen Plan als „Demokratie ohne das Volk“, so käme keine adäquate „Einschätzung über die politische Realität des Landes“ zustande. Er ruft stattdessen zu einem Zusammenschluss der Linken auf, die gegen den Neoliberalismus (und damit gegen den PD) kämpfen, „wie das alle Linken der Welt tun, von Sanders über Corbyn bis hin zu Iglesias und Tsipras“.9 Dabei vergisst Fratoianni offenbar, dass diese Strömungen in den USA, in Großbritannien, Spa­nien oder Griechenland mit einer starken gesellschaftlichen Mobilisierung gewachsen sind.

Um eine Bewegung ins Leben zu rufen, braucht es mehr als nur den politischen Rahmen. Die Menschen, die unter der Wirtschaftskrise leiden, sehen im M5S und – in geringerem Ausmaß – auch in der Lega Nord die bessere Lösung. Wenn es nicht gelingt, mit ihnen (nach Gramsci) eine neue „emotionale Verbindung“ aufzubauen, wird dem linksalternativen Projekt am Ende womöglich das Volk fehlen.

1 Siehe „Der Verschrotter“, Le Monde diplomatique, Juli 2014.

2 Niccolò Machiavelli, „Der Fürst“, 1532.

3 Ilvo Diamanti, „La solitudine dei giovani elettori: ecco perché hanno votato No al referendum costituzionale“, La Repubblica, Rom, 12. Dezember 2016.

4 Siehe Francesca Lancini, „Kommunisten in Berlusconien“, Le Monde diplomatique, November 2011.

5 Interview in Il Fatto Quotidiano, 12. Dezember 2016.

6 Zahlen des Istituto Cattaneo, Bologna, 5. Dezember 2016.

7 Siehe Stefano Liberti, „Brief aus Rom“, Le Monde diplomatique, Juli 2016.

8 Zitiert nach La Repubblica, 7. Dezember 2016.

9 In Il Manifesto, 3. Dezember 2016.

Aus dem Französischen von Cordula Didion

Raffaele Laudani ist Professor für Ideengeschichte an der Universität Bologna.

Le Monde diplomatique vom 12.01.2017, von Raffaele Laudani