13.10.2016

Teure Alternativen

zurück

Teure Alternativen

von Akram Belkaïd

Audio: Artikel vorlesen lassen

Faycal Attafir ist Immobilien­makler in Algier. Seit ein paar Jahren hat er es mit einer neuen Art von Kunden zu tun: „Geschäftsleute, die eine Villa oder ganze Mehrfamilienhäuser suchen, um sie in Privatschulen umzuwandeln. Da geht’s um viel Geld.“ Da jedoch Wohnraummangel herrscht, kann Attafir nicht alle Wünsche bedienen.

Vor etwa zehn Jahren hat sich Algeriens Bildungssystem, das bis dahin ausschließlich auf kostenlosen öffentlichen Schulen basierte, dem Markt geöffnet. Ungeachtet der rechtlichen Unsicherheit – laut Verfassung ist Bildung ausschließlich eine Aufgabe des Staats – werden immer mehr Privatschulen gegründet.

Nach Angaben des 2010 gegründeten Verbands anerkannter Privatschulen gibt es landesweit 320 solcher Einrichtungen (2008 waren es noch 119) mit insgesamt 150 000 Schülerinnen und Schülern und 40 000 Lehrkräften. Das ist zwar nur ein sehr geringer Teil der gesamten Schülerschaft im schulpflichtigen Alter. Doch in einem Land wie Algerien, in dem das Gleichheitsideal nach wie vor hochgehalten wird, ist der Zuwachs an Privatschulen ein Zeichen für den Riss, der durch die Gesellschaft geht, und für die Schwächen, die das staatliche Bildungssystem hat.

Eine durchschnittliche Privatschule kostet jeden Monat zwischen 12 000 und 16 000 algerische Dinar (99 bis 131 Euro1 ) – etwas weniger als das staatlich garantierte Mindesteinkommen von 18 000 Dinar. Das französische Gymnasium von Algier, wo vor allem die algerische Nomenklatura und reiche Geschäftsleute ihren Nachwuchs hinschicken, ist noch teurer: zwischen 50 000 und 60 000 Dinar im Monat.

Um in dieses prestigeträchtige Collège aufgenommen zu werden, muss man zudem eine Prüfung ablegen. Davon profitieren wiederum zahlreiche private Grundschulen, die ihre Schüler auf die Aufnahmetests vorbereiten. „Man braucht Geld, viel Geld“, erklärt Nafissa Daoudi, Englischlehrerin in Oran. „Aber glauben Sie nur nicht, dass das staatliche System umsonst wäre. Eltern, die es sich nicht leisten können, ihre Kinder auf eine Privatschule zu schicken, geben viel Geld für Nachhilfestunden aus, vor allem zur Vorbereitung auf das Abitur.“

Begehrtes französisches Abitur

Oft unterrichten Lehrer einzelne Schüler auch am Nachmittag bei sich zu Hause. Elternräte beklagen bereits Fälle von Bevorzugung. Und weil der zusätzliche Privatunterricht nach Schulschluss immer mehr zunimmt, will Bildungsministerin Benghabrit-Remaoun künftig Regeln dafür einführen.

Diese Idee kommt nicht überall gut an. „Frau Benghabrit-Remaoun spricht viel von pädagogischen Reformen, aber wir würden es gutheißen, wenn sie sich auch um eine bessere Bezahlung der Lehrer kümmerte. Dadurch würde auch die ausufernde Zahl der Privatstunden zurückgehen“, meint ein Gewerkschafter von der unabhängigen Lehrergewerkschaft Cnapeste. Die Gehälter sind zwar in den vergangenen zehn Jahren mehrmals und teilweise auch rückwirkend angehoben worden, vor allem während des Arabischen Frühlings 2011, als das algerische Regime jedwede Protestbewegung verhindern wollte. Doch nach wie vor haben viele Lehrerinnen und Lehrer das Gefühl, dass der Staat ihre Arbeit nicht angemessen honoriert.

Deshalb versuchen viele an eine Privatschule zu wechseln. Ein Lehrer, der ein halbes Berufsleben hinter sich hat, verdient an einer staatlichen Mittelschule zwischen 60 000 und 70 000 Dinar im Monat und an der Grundschule 35 000 bis 42 000 Dinar. „Davon kann man leben, aber wenn man etwas sparen oder in den Urlaub fahren will, ein Auto kaufen oder das Studium der Kinder finanzieren muss, braucht man zusätzliches Einkommen“, erzählt der Physiklehrer eines staatlichen ­Gymnasiums in Algier. An drei Abenden in der Woche unterrichtet er vier Schüler aus seiner Abschlussklasse bei sich zu Hause in der Küche. Damit verdient er 45 000 Dinar im Monat – ungefähr zwei Drittel seines normalen Gehalts –, und zwar schwarz „auf die Hand“.

Die ersten Privatschulen waren anfangs vor allem deshalb attraktiv, weil der Unterricht auf Französisch stattfand und an den jeweils aktuellen französischen Lehrplänen ausgerichtet war. Und ebendeshalb wurden einige dieser Institutionen 2007 geschlossen – weil sie nicht, wie gesetzlich vorgeschrieben, algerische Lehrpläne und das Hoch­arabische als Unterrichtssprache verwendeten.

Offiziell müssen die anerkannten Privatschulen diese Vorschriften einhalten. Doch die Realität sieht anders aus. Viele dieser Schulen würden zweigleisig fahren, erzählt Sofia Karm, ­Lehrerin an einer privaten Mittelschule in einem besseren Viertel auf den Hügeln über Algier. „Wir unterrichten hier auf Französisch, achten aber auch darauf, das Arabische nicht zu vernachlässigen.“

Die Behörden wissen Bescheid, greifen aber selten ein. Nach den Schließungen von 2007 haben sich die Direktoren der betroffenen Institutionen um die notwendige politische Unterstützung gekümmert. Im Übrigen schicken selbst die Aufsichtsbeamten, die für die Durchsetzung des geltenden Rechts an den Schulen zuständig sind, ihre Kinder auf Privatschulen.

Wer auf eine Privatschule geht, muss auf jeden Fall mehr arbeiten als an einer staatlichen Einrichtung. „Vor diesen jungen Leuten ziehe ich wirklich den Hut“, sagt Ahmed Lanouari, ein Philosophielehrer, der seine Schüler sowohl auf das algerische als auch das französische Abitur vorbereitet. „Hier entsteht eine kleine, perfekt zweisprachige Elite, die zum Teil schon in der Grundschule die Grundlagen einer dritten Sprache beherrscht.“ Für den Fall einer Kontrolle führt Lanouari zwei Klassenbücher: Eines für die Behörden und eines für den Eigengebrauch, in dem er die Fortschritte der Schüler im Französischen festhält.

Die Anhänger der Privatschulen betonen gern, dass dort die Inkohärenz und Bigotterie des staatlichen Schulsystems ausgeglichen werden könne. Sie verweisen zum Beispiel darauf, dass der Religionsunterricht zwar auch an Privatschulen zum Lehrplan gehöre, ­jedoch nicht so penetrant und über­griffig sei wie an den staatlichen Schulen.

Eltern erzählen, dass körperliche Züchtigung, obwohl sie verboten ist, an vielen staatlichen Schulen immer noch gang und gäbe sei. „Jeden Tag bekommen wir etwa zehn Hinweise auf derartige Strafen. Dabei ist die Rechtslage eindeutig: Die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt ist verboten“, erzählt Khaled Ahmed, Vorsitzender des nationalen Elternbeirats.

„Unsere Eltern haben die Lehrer früher noch dazu angehalten, uns zu bestrafen, wenn wir schlecht mitgearbeitet haben“, erzählt Lanouari. „Heute hat sich die Einstellung geändert, und die Privatschulen werben damit, dass ihr Personal besser ausgebildet ist und sensibel und respektvoll mit den Schülern umgeht. Aber Gewalt gibt es überall, auch an den Privatschulen.“ Das sei ein gesamtgesellschaftliches Problem, sagt der Philosophielehrer.

Auch wenn der Unterricht an den Privatschulen gut ist, heißt das noch lange nicht, dass davon auch Algerien als Land profitiert. Die meisten Eltern wollen ihren Sprösslingen vor allem ein Studium im Ausland ermöglichen. „Die Privatschulen verstehen sich als Teil eines globalisierten Systems, ihr Ver­kaufs­argument ist, dass sie den Schülern das intellektuelle Rüstzeug verschaffen für die Aufnahmeprüfungen an den französischen grandes écoles oder für ein Studium an einer Uni in den USA“, sagt Karm.

In den 1970er Jahren begann Algerien viele Stipendiaten zum Studieren ins Ausland zu schicken. Laut einer Statistik des algerischen Hochschulministeriums kommt nur einer von vier Studenten zurück. Das in Algier ansässige Forschungszentrum für Angewandte Ökonomie und Entwicklung gibt an, dass sich 23 Prozent der algerischen Studierenden zur Zeit im Ausland aufhalten, vor allem in Frankreich, aber auch in den USA und Kanada. Während das Land vor enormen Herausforderungen steht, befindet sich ein großer Teil der algerischen Elite im Ausland – und der Nachwuchs hat vor allem einen Wunsch: ihr zu folgen.

⇥Akram Belkaïd

1 Der offizielle Wechselkurs liegt bei rund 123 Dinar für einen Euro.

Aus dem Französischen von Jakob Farah

Le Monde diplomatique vom 13.10.2016, von Akram Belkaïd