13.10.2016

Sicherheit als Risiko

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Sicherheit als Risiko

Warum Israel bei der Terrorbekämpfung kein Vorbild sein kann

von Gideon Levy

Südliches Westjordanland, Juli 2016: Der Mauerbau geht weiter AMIR COHEN/reuters
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Nicht zu Unrecht gilt der israelische Staat als einer der religiösesten der Welt. Es spielt nämlich überhaupt keine Rolle, ob sich dessen Bürger als Juden, Agnostiker oder Atheisten bezeichnen, die Religion lässt sie niemals los und begleitet sie von der Wiege bis zur Bahre. Als wäre das nicht schon genug, müssen sie sich auch noch einem zweiten Dogma beugen, das ihnen auf Schritt und Tritt seine unerbittlichen Regeln auferlegt.

Das Dogma der Sicherheit gründet auf dem Glauben, Israel sei permanent bedroht – eine Überzeugung, die sich aus einer bestimmten Wahrnehmung der Realität und sorgfältig gepflegten Mythen speist. So schüren unsere Regierenden vorsätzlich Ängste und überzeichnen vorhandene Gefahren. Sie erfinden immer neue Bedrohungen und nähren die Vorstellung, wir seien Opfer ständiger Verfolgungen.

Während des Palästinakriegs von 1948, kurz nach der Schoah, war das zweifellos berechtigt. Die Israelis fühlten sich wie David im Kampf gegen Goliath. Doch inzwischen hat sich unser Land zu einer stabilen Regionalmacht entwickelt. Unsere Armee gehört zu den stärksten der Welt und verfügt über eine hochmoderne technische Ausstattung. Und dennoch besteht der Glaube fort, Israel müsse um sein Überleben kämpfen – angesichts von Gegnern wie der Hamas, die quasi barfuß daherkommen; ungeachtet der Tatsache, dass Israel von keinem anderen mächtigen Staat außer dem Iran bedroht wird und dass es vielmehr unsere eigenen Truppen sind, die fremde Gebiete besetzen.

Das Kalkül ist weder neu noch auf unser Land beschränkt: Eine Bedrohung von außen, egal ob real oder fiktiv, fördert die „nationale Einheit“ und rechtfertigt innenpolitische Restriktionen. Der Militärfachzeitschrift Jane’s zufolge belegte Israel 2015 mit 15,6 Milliarden Dollar den 16. Platz auf der Liste der Staaten mit den nominal größten Verteidigungsbudgets.

Nimmt man den Anteil der Militärausgaben am Bruttoinlandsprodukt (6,2 Prozent), steht das Land sogar auf Platz 2, direkt hinter Saudi-Arabien. Der BIP-Anteil der Verteidigungsausgaben ist in Israel somit zwei- bis sechsmal höher als in anderen Industrienationen. Zwar geht ihr Anteil an den Staatsausgaben insgesamt zurück, doch in absoluten Zahlen steigt der Betrag unaufhörlich.

Israel hat nur gut acht Millionen Einwohner und belegt im weltweiten Bevölkerungsranking den 98. Platz. Doch im Global Firepower Index, der die konventionelle Schlagkraft nationaler Streitkräfte misst, steht es auf Platz 16.1 In Israel kommt ein Angriffspanzer auf 1930 Bürger und ein Jagdflugzeug auf 11 800 Bürger. Derart hohe Verteidigungsausgaben, die proportional gesehen höher ausfallen als in den USA oder Russland, gehen natürlich auf Kosten vieler anderer Bereiche, wie Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau und öffentlicher Nahverkehr. Trotzdem wurde das Militärbudget noch nie auf breiter Basis öffentlich diskutiert oder infrage gestellt. Nicht einmal im Sommer 2011, als während der größten Proteste in der Geschichte unseres Landes Tausende Bürger auf die Straße gingen, um gegen Wohnungsnot und hohe Mieten zu demonstrieren.2

Israel besitzt insgesamt 14 U-Boote. Würden nicht fünf genügen – oder sagen wir zehn, für die Ängstlicheren unter uns? Mit dem Geld, das vom Bau eines dieser Boote verschlungen wird – 1,4 Milliarden Euro –, könnte man komplette Stadtviertel sanieren. Die Israelis beschweren sich zwar über hohe Lebenshaltungskosten und die Verschlechterung der sozialen Dienstleistungen. Doch das Verteidigungsbudget und die Sicherheitsrhetorik der Machthaber akzeptieren sie, ohne mit der Wimper zu zucken.

Angriffe auf Bürgerrechte und Meinungsfreiheit

Einige europäische Länder, darunter Frankreich, haben nun denselben Weg eingeschlagen. Das ist beunruhigend, denn dieser Weg gleicht einem rutschigen Abhang, der schnell zur Einschränkung demokratischer Prinzipien führen kann. Die Israelis haben das schon erlebt: Im Namen der Sicherheit vergisst man die Gerechtigkeit. Sie lässt Verbrechen als unvermeidbar erscheinen und überzieht auch noch so diskriminierende Praktiken mit dem Anschein der Rechtmäßigkeit. Politiker, Generäle, Richter, Intellektuelle, Journalisten: Sie alle wissen es, doch jeder schließt sich dem Schweigen der Mehrheit an.

Wer mit dem Auto zum Flughafen Ben Gurion fährt, muss am Eingang das Fenster herunterlassen, um ein paar Worte mit dem bewaffneten Sicherheitsbeamten zu wechseln. Alles hängt davon ab, wie man Hebräisch spricht: Glaubt der Sicherheitsbeamte einen arabischen Akzent zu erkennen, wird er das Auto anhalten. Auf diese Weise wird den jüdischen Israelis ein Gefühl von Überlegenheit vermittelt; den Palästinensern jedoch das Gefühl ihrer Unterlegenheit oder potenziellen Gefährlichkeit. Denn es ist ja allgemein bekannt: Jeder arabische Bürger Israels ist verdächtig, also quasi eine tickende Zeitbombe.

Niemand wird leugnen, dass der Terrorismus existiert. Doch man spricht zu selten über die desaströsen Auswirkungen der Maßnahmen, mit denen darauf geantwortet wird. Die Angst vor einem Attentat hat die Bürger Israels gefügig gemacht, Tag für Tag lassen sie endlose Kontrollen über sich ergehen. Schleichend entstehen Stereotype, verstärken sich zunehmend rassistisch geprägte Vorurteile. So wird unser Land von innen zerstört. Wird es jetzt den Vereinigten Staaten und Europa genauso ergehen? Ist das wirklich notwendig? Kann man der Terrorgefahr nicht anders, gerechter und verhältnismäßiger begegnen?

Im Namen der Sicherheit besetzt Israel seit 50 Jahren die palästinensischen Gebiete und verstößt gegen internationales Recht. So sind wir zu einer der letzten Kolonialmächte des 21. Jahrhunderts geworden. Als der spätere Friedensnobelpreisträger Schimon Peres (1923–2016) vor 41 Jahren die Gründung von Ofra im Westjordanland genehmigte, rechtfertigte er die Entscheidung mit dem Schutz einer nahe gelegenen militärischen Sendeantenne.

Doch Ofra ist auf Privatgrund erbaut, der den Palästinensern mit staatlicher Billigung geraubt worden war. Die vorübergehenden Wächter wurden schnell zu Siedlern; ihr Camp zu einem Vorort in den besetzen Gebieten. Alles Weitere ist Geschichte, eine Geschichte, die von blutigen Verbrechen geprägt ist; nicht zuletzt im Gazastreifen, der mit seinen zwei Millionen Einwohnern heute das größte Gefängnis der Welt ist.

Das Rechtssystem, wie überhaupt alle Institutionen, geht vor diesem modernen Moloch in die Knie, zu dem das Primat der Sicherheit geworden ist. Israels oberstes Gericht, das normalerweise durchaus in der Lage ist, Ungerechtigkeiten zu verurteilen, segnet das Unannehmbare ab, wenn es unter dem Deckmantel der Sicherheit daherkommt. In der langen Geschichte der Besatzung wurde es zu selten als Korrektiv tätig. Es hat viele Jahre gedauert, bis die Richter den Mut fanden, gezielte Tötungen und Folter zu kritisieren.

Bis heute weicht das Gericht nicht davon ab, Inhaftierungen ohne Anklage, die „Verwaltungshaft“, zu legitimieren. Seit Jahren wandern Tausende Menschen ohne richterliches Urteil hinter Schloss und Riegel. Da sie, ebenso wie ihre Anwälte, die Anklagepunkte, die man ihnen vorwirft, nicht kennen, haben sie keinerlei Chancen, sich zu verteidigen. Ermöglicht werden solch skandalöse Maßnahmen durch den Ausnahmezustand, der seit der Zeit des britischen Mandats (1920) in Kraft ist. Zwar entbehrt die Aufrechterhaltung des Ausnahmezustands heute jeder Grundlage, doch er wird weiterhin regelmäßig verlängert.

Ebenso werden Palästinenser weiterhin in politischen Schauprozessen vor Militärtribunalen abgeurteilt. Im Namen der Sicherheit zerstört man die Häuser von „Terroristen“3 und verhängt Kollektivstrafen, die gegen internationales Recht verstoßen. Tagtäglich sind Tausende Menschen willkürlichen Kontrollen, Verhaftungen und nächtlichen Militäreinsätzen ausgesetzt. Manche hindert man daran, zu arbeiten oder sich frei zu bewegen; andere können schon zu Tode kommen, wenn ein Rekrut sich nur bedroht fühlt – wie etwa von einem 10-jährigen Kind, das eine Schere in der Hand hatte. Es wurde niedergeschossen, um Soldaten zu „schützen“.

Vergessen wir nicht, dass die arabischen Bürger der „einzigen Demokratie des Nahen Ostens“ von der Gründung Israels bis in die Mitte der 1960er Jahre unter einer Militärverwaltung lebten. Dann folgten fünfzig Jahre Besatzung, fünfzig Jahre zahlloser Verhaftungen im Namen der „Sicherheit“ – jenes Schlüsselwort, das den Staat davor bewahrt, als undemokratisch bezeichnet zu werden.

Bisher leiden vor allem die Araber unter dieser Situation. Nach Jahren des Antiterrorkampfs ist die Zahl palästinensischer Todesopfer um ein Hundertfaches höher als die der israelischen. Doch parallel zur Schwächung der Demokratie weiten sich die Angriffe auf die Meinungsfreiheit und Bürgerrechte4 für alle aus. Die Religion der Sicherheit erweitert ihren Machtbereich: Heute herrscht sie in den besetzten Gebieten, morgen vielleicht schon in Tel Aviv; heute sind vor allem Araber die Leidtragenden, morgen vielleicht auch die jüdischen Israelis.

Die Welt betrachtet Israel als Speerspitze im Kampf gegen den Terrorismus. Unsere Unternehmen beraten Regierungen und exportieren so nicht nur Waffen, sondern auch Know-how. Doch wenn andere Staaten von Israel lernen möchten, müssen sie auch lernen, was man nicht tun sollte. Insbesondere, dass man sich im Namen der Sicherheit nicht alles erlauben kann. Das Risiko, die Demokratie zu zerstören, stellt möglicherweise eine wesentlich größere Bedrohung dar als der Terrorismus.

1 Siehe Global Firepower, „Countries ranked by military strength 2016“, www.globalfirepower.com.

2 Siehe Yaël Lerer, „Tel Aviv, Rothschild-Boulevard“, Le Monde diplomatique, September 2011.

3 Siehe Alain Gresh, „Terroristen oder Freiheitskämpfer“, Le Monde diplomatique, April 2016.

4 Siehe Charles Enderlin, „Kampf der Kulturen in Israel“, Le Monde diplomatique, März 2016.

Aus dem Französischen von Cordula Didion

Gideon Levy ist Schriftsteller und Journalist bei der Tageszeitung Ha’aretz (Tel Aviv).

Le Monde diplomatique vom 13.10.2016, von Gideon Levy