13.10.2016

Ein Felsen für Europa

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Ein Felsen für Europa

Warum Gibraltar gegen den Brexit gestimmt hat

von Lola Parra Craviotto

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Kurz vor Sonnenuntergang drängen sich Dutzende Autos und Motorräder am Grenzübergang. Es herrscht eine Mischung aus Anspannung und Langeweile. Bis zu zwei Stunden hängen die Pendler aus Gibraltar hier täglich fest. Auf der anderen Seite, keine hundert Meter entfernt, liegt die andalusische Stadt La Línea de la Concepción.

Die bewaffneten Kontrolleure von der spanischen Guardia Civil durchsuchen jedes Fahrzeug nach geschmuggelten Zigaretten. Am Vorabend unserer Durchreise hat die Polizei allein 70 000 Päckchen konfisziert – Einwohner aus der Region dürfen pro Grenzübertritt vier mitnehmen, Touristen zehn. Gibraltar ist britisches Überseegebiet und daher kein Mitglied des Schengenraums. Vor drei Jahren hat Spanien die Grenzkontrollen verschärft1 , nachdem in den Krisenjahren vor allem der Zigarettenschmuggel zwischen dem Freihafen Gibraltar und Andalusien sprunghaft angestiegen war – 2008 waren es insgesamt 147 000 Päckchen, 2013 bereits 1 Million.

Spanien, das seit 300 Jahren die Rückgabe von Gibraltar fordert, nutzt die Kontrollen auch als politisches Druckmittel. Nachdem sich die Wogen unter der sozialdemokratischen Zapatero-Regierung (2004–2011) kurzzeitig geglättet hatten, kochte der Streit unter dem konservativen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy von der Partido Populár (PP) wieder hoch.

Die britische Inbesitznahme des 400 Meter hohen Kalkfelsens zwischen Spanien und Marokko stammt aus einer Zeit, als Dynastien um die Vorherrschaft in Europa kämpften: Während des Spanischen Erbfolgekriegs (1701–1714) besetzte die mit den Habsburgern verbündete Seemacht Großbritannien 1704 die strategisch wichtige Landzunge, über die sie im Frieden von Utrecht (1713) die Oberhoheit erlangte. Seit 1830 ist Gibraltar eine Kronkolonie Großbritanniens.

„Spanien wollte den Felsen immer zurückerobern, zuletzt unter der Diktatur Francos, der 1968 sogar die Grenze schließen ließ“, erzählt Jesús Verdú, Professor für Internationales Recht an der Universität Cádiz. „Damals galt die Kolonie als Feind, bis heute rührt sie an die patriotischen Gefühle der Spanier. Das große Missverständnis dabei ist nur, dass Gibraltar die ganze Region wirtschaftlich am Laufen hält.“

Deshalb sind die 120 000 Einwohner des spanischen Landkreises Campo de Gibraltar mehrheitlich gegen die Rückgabe des Felsens. In dieser Region mit einer Arbeitslosenquote von 35 Prozent lag der dank der Kronkolonie erwirtschaftete Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2013 bei 25 Prozent, doppelt so viel wie noch vor sechs Jahren, stellte die Handelskammer 2015 fest.

„Bei uns gibt es praktisch keine Arbeitslosen“, erklärt der Leiter der Handelskammer Gibraltars, Edward Macquisten. Ein Drittel der 24 500 Beschäftigten seien Grenzgänger. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen ist die nur 6,8 Quadratkilometer große Halbinsel (30 000 Einwohner) in den vergangenen sechs Jahren zum fünftreichsten Land der Welt aufgestiegen.

Die OECD bezeichnet Gibraltar zwar offiziell nicht mehr als Steueroase2 , doch dank einer niedrigen Körperschaftsteuer von 10 Prozent lockt die Kronkolonie mehr Firmen an als Spanien, das einen Steuersatz von 25 Prozent verlangt. Etwa 20 Prozent aller britischen Fahrzeuge sind bei Gesellschaften versichert, die in Gibraltar ansässig sind. Auch ihre Online-Wetten schließen viele Briten über hiesige Wettbüros ab. Die 20 größten Internetkasinos haben ihren Sitz in Gibraltar, das ein Vorreiter bei der Legalisierung des Online-Glücksspiels war.

Unter der Mittelmeersonne lebt es sich angenehmer als im hektischen London. Die Kriminalitätsrate liegt fast bei null. Für Briten sind Strom, Telefon und Mieten günstig – doch für die Spanier aus dem Campo de Gibraltar, von denen jeder Zehnte auf dem Felsen arbeitet, sind die Mieten unerschwinglich. Die spanische Grenzregion leidet am meisten unter dem Territorialkonflikt: „Wenn die spanischen Behörden Druck auf den Zoll ausüben, um die Llanitos [Spitzname der Einwohner Gibraltars] zu schikanieren, dann bestrafen sie vor allem ihre eigenen Bürger“, meint der Wirt einer andalusischen Pension.

Man will in der EU bleiben, aber nicht zu Spanien gehören

In La Línea de la Concepción sieht es dementsprechend trist aus. Etliche Geschäfte mussten schließen, andere machen nur noch halb so viel Umsatz, und selbst die Bars und Cafés leeren sich. „Touristisch ist hier nicht mehr viel los, und auch wir Gibraltarer fahren wegen der nervigen Kontrollen nicht mehr auf ein Glas Wein rüber, zumal man uns in den letzten Jahren in Spa­nien oft unsere Autos demoliert hat“, erzählt Gemma Vásquez, die Vorsitzende des Kleinunternehmerverbands.

Als Gibraltar im Sommer 2013 zur Abwehr von Schleppnetzen ein künstliches Riff aus 70 eisenbewehrten Betonklötzen errichtete, waren die Spanier, die Gibraltars maritime Hoheitsrechte nicht anerkennen, außer sich und ordneten im Gegenzug verschärfte Grenzkontrollen an. Für den Juristen Verdú verletzte diese Umweltschutz-Initiative nicht nur das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982, sondern war auch geschichtsvergessen, da sich Spanien und Großbritannien bereits im 19. Jahrhundert über die Seegrenzen geeinigt hätten.

Umstritten ist auch der Flughafen, den die britische Regierung während des Spanischen Bürgerkriegs 1938 jenseits der im Utrecht-Vertrag festgelegten Grenze auf dem Isthmus gebaut hat. Einen Teil dieser Landbrücke hatten die Gibraltarer bereits im 19. Jahrhundert eingenommen. Damals war der Felsen wiederholt von Typhus-Epidemien heimgesucht worden, weshalb die Spanier ihren Nachbarn erlaubt hatten, dort ein Quarantänelager zu errichten. Auf diesem Provisorium entstand dann später der Flughafen, von dem aus es aber bis 2006 keine direkten Flugverbindungen nach Spanien gab. Das hat Madrid erst unter der Regierung Zapatero erlaubt. Unter Rajoy wurde das Abkommen wieder zurückgenommen. Seitdem dürfen Flugzeuge, die vom Internationalen Flughafen Gibraltar (GIB) starten, spanischen Luftraum nicht überfliegen.

Gibraltar hat vor allem deshalb mit überwältigender Mehrheit (96 Prozent) für den Verbleib Großbritanniens in der EU gestimmt, weil es seinen Sonderstatus nicht verlieren will: Es muss keine Mehrwertsteuer erheben und ist auch nicht Teil der EU-Zollunion oder der Gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik.„Seit dem Brexit sind die Leute auf beiden Seiten der Grenze beunruhigt. Die Wirtschaft hier ist sehr dynamisch, vor allem wegen Gibraltars Sonderstatus innerhalb der EU“, erklärt Jesús Verdú. „Die Unternehmen, die ihren Sitz hierher ausgelagert haben, könnten sich jetzt anderswo in Europa ansiedeln. Zudem würde Brüssel in der nächsten Krise zwischen Gibraltar und Spanien nicht mehr als Vermittler auftreten.“ In Gibraltar gibt man sich indes zuversichtlich: „Im Lauf der Jahrhunderte sind die Llanitos mit vielen Problemen klargekommen und haben sich stets angepasst“, meint Macquisten.

Spanien sieht im Brexit vor allem eine Chance. So hat Außenminister José Manuel García-Margallo sogleich eine Kosouveränität auf Zeit vorgeschlagen, nach deren Ablauf das Territorium an Spanien fallen würde. Obgleich ihnen ein solches Vorgehen ermöglichen würde, in der EU zu bleiben, sind die Gibraltarer strikt dagegen – zumal die noch amtierende PP-Regierung sich weigert, mit den Vertretern einer Kolonie zu verhandeln.

Seit den 1960er Jahren beruft sich Spanien auf das Prinzip der territo­ria­len Integrität und argumentiert, die britische Oberhoheit über Gibraltar zerstöre Spaniens nationale Einheit. Dennoch beschränkte sich die UN-Vollversammlung bislang darauf, die Regierungen beider Länder zu Verhandlungen über Gibraltar einzuladen, um dessen kolonialen Status zu beenden – was allerdings den Interessen der Llanitos zuwiderlaufen würde, die 1967 zu 99,6 Prozent dafür stimmten, britisches Überseegebiet zu bleiben.

Der Brexit könnte auch die vor drei Jahren begonnene Mediation beflügeln. Damals hatte die Europäische Kommission empfohlen, den Grenzverkehr flüssiger zu organisieren, weil die Wartezeiten von bis zu neun Stunden unzumutbar geworden waren.

Die spanischen Behörden verwiesen indes auf den Erfolg im Kampf gegen den Straßenschmuggel und entschieden sich für eine Modernisierung der Grenzkontrollen: Die Zahl der Übergänge wurde von zwei auf vier erhöht, mit einem Posten nur für die spanischen Pendler. Außerdem wurden Body- und Fingerabdruckscanner sowie automatische Gesichtserkennung eingeführt und ein Raum zur Durchsuchung verdächtiger Fahrzeuge eingerichtet.

Wenige Monate vor der Fertigstellung des Umbaus im Sommer 2015 weigerte sich García-Margallo immer noch, die Kontrollen zu lockern – mit der Begründung, dass der nach wie vor florierende Schmuggel die EU zwischen 2010 und 2013 rund 700 Millionen Euro gekostet hat.3 Das Misstrauen ist gerechtfertigt, wie eine Untersuchung des Europäischen Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) zeigt. Die Ermittler deckten Indizien für illegalen Warenverkehr rund um die Kronkolonie und die Ansiedlung entsprechender Schmugglerringe auf. Für das Jahr 2015 sah sich Gibraltar gezwungen, den Zigarettenimport von 110 auf 90 Millionen Päckchen zu senken.

Trotz der wirtschaftlichen Bedeutung der Kolonie fällt es der spanischen Regierung immer noch schwer, die Meinung der Gibraltarer anzuerkennen. „Unsere Souveränität steht nicht zur Debatte. Wir sind Briten, und man muss die Existenz einer seit drei Jahrhunderten ansässigen Bevölkerung respektieren“, sagt Fabian Picardo, der Chief Minister von Gibraltar.

Laut UN-Recht soll Gibraltar über seine Zukunft selbst entscheiden, wie zuletzt 2002, als 98,9 Prozent der Bevölkerung per Referendum eine britisch-spanische Kosouveränität über Gi­bral­tar ablehnten. „Das ist doch nicht verwunderlich, dass sie britisch bleiben wollen!“, meint Francisco Linares aus San Roque, einer kleinen Stadt unweit des Felsens, die einst von gibraltarischen Exilanten gegründet wurde, nachdem die Briten sie von der Landzunge vertrieben hatten.

Wie Linares träumen in San Roque viele von dem Tag, an dem die spanische Flagge wieder über Gibraltar weht. „Wenn ein Llanito einen Fuß über die Grenze setzt, merkt er schnell, wie der Lebensstandard hier ist, und er fragt sich, was Spanien ihm überhaupt bieten kann. Unsere Regierung muss aufhören, den Felsen als Feind zu betrachten, sie sollte lieber dafür sorgen, die Lage in der Region zu verbessern, damit sie in den Augen der Gibraltarer an Attraktivität gewinnt.“

Es dürfte jedoch nicht einfach werden, die wohlhabenden Gibraltarer davon zu überzeugen, ausgerechnet mit denjenigen eine gemeinsame Zukunft zu planen, die sie seit Jahrhunderten attackieren. Zumal immer weniger junge Gibraltarer Spanisch sprechen. „Das merke ich bei meinen eigenen Kindern“, erzählt der Anwalt Peter Montegriffo. „Das liegt sicher daran, dass der Unterricht auf Englisch stattfindet, aber sie verbinden mit dem Spanischen auch ein feindlich gesonnenes Land und lehnen deshalb die Sprache ab.“

Anstatt sich darum zu kümmern, das spanische Image zu verbessern, hat Madrid 2015 sogar das Instituto Cervantes in Gibraltar geschlossen. Damit haben sich die Spanier wieder einmal der Möglichkeit beraubt, ihren Einfluss in Gibraltar geltend zu machen, das sich bislang immer zu seiner spanisch-britischen Mischung bekannt hat.

1 Siehe Memo 13/810 der Europäischen Kommission: „Gibraltar: Europäische Kommission entsendet Sondermission“, Brüssel, 24. September 2013.

2 Siehe „List of Uncooperative tax havens“, OECD.

3 Siehe El País, 13. August 2014.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Lola Parra Craviotto ist Journalistin und schreibt unter anderem für den Courrier International in Paris.

Le Monde diplomatique vom 13.10.2016, von Lola Parra Craviotto