08.09.2016

Außerparlamentarisch wider Willen

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Außerparlamentarisch wider Willen

Das liberale Lager ist hoffnungslos zerstritten und hat bei den Duma-Wahlen keine Chance

von Nina Baschkatow

Ákos Ezer, Pilzesammler, 2015, Öl auf Leinwand, 150 x 130 cm
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Die demokratische, liberale Opposition in Russland hat offenbar nichts aus der Vergangenheit gelernt. Im Vorfeld der Parlamentswahlen am 18. September hat sie es erneut nicht geschafft, eine Koalition zu bilden, um die Fünfprozenthürde zu nehmen und in die Duma zu kommen. Der gemeinsame Schwung, den sie in den Proteste nach den Wahlen 2011 entwickelt hatte,1 ist längst versiegt. Und die Konflikte innerhalb der Opposition haben sich in den letzten Monaten sogar noch verschärft. Die Parteien, die für Rechtsstaatlichkeit und unternehmerische Freiheit stehen, bewerben sich auf fünf verschiedenen Listen. Unter den neuen Zulassungsregeln stellen sich im September 23 Parteien zur Wahl – 2011 waren es nur sieben.

Beim liberalen Lager gibt es so wenig neue Gesichter wie bei den anderen Parteien. Beide im Parlament vertretenen Oppositionsparteien, die Kommunisten und die (nationalistischen) Liberaldemokraten, haben seit 1993 mit Gennadi Sjuganow und Wladimir Schirinowski dieselben Vorsitzenden.

Unter den liberalen Parteien ist die 1993 von Grigori Jawlinski gegründete Jabloko-Partei ein Muster an Zählebigkeit. Jawlinski war 1990 am Entwurf des Programms „500 Tage“ beteiligt, auf dessen Grundlage zwischen 1991 und 1994 – in der „Ära Gaidar“ – die „Schocktherapie“ durchgezogen wurde. Da Jabloko der wirtschaftliche und soziale Niedergang der 1990er Jahre angelastet wurde, verlor die Partei viele Anhänger. In der Krise von 1998 wurden die liberalsten Mitglieder der Jelzin-Regierungen aus ihren Schlüsselpositionen entfernt; das waren neben Gaidar der (2015 ermordete) stellvertretende Ministerpräsident Boris Nemzow, Exministerpräsident Sergei Kirijenko und Anatoli Tschubais, der Erfinder des Privatisierungsprogramms, der 1992 bis 1998 verschiedene Regierungsposten bekleidete. 1999 gründeten sie eine neue liberale Partei, die Union der rechten (rechtsstaatlichen) Kräfte (SPS), die sich 2008 wieder auflöste.

Zu dieser Opposition stießen später auch Leute, die in Putins erster Amtszeit Regierungsposten bekleidet hatten, etwa Exministerpräsident Michail Kasjanow und der frühere Vizeenergieminister Wladimir Milow. Damit wurde das liberale Lager endgültig zum chao­tischen Tummelplatz politischer Bewegungen, kurzlebiger Allianzen und maßloser Egos. Im Zuge der Proteste von 2011 wurde die alte Garde der Liberalen von neuen Gesichtern abgelöst.

Am bekanntesten wurden Ilja Jaschin und Alexej Nawalny, Gründer der Website Rospil, die vor allem Fälle staatlicher Korruption enthüllte. Nawalny war es auch, der Putins Partei „Einiges Russland“ als Partei „der Gauner und Diebe“ bezeichnete. Bei den Bürgermeisterwahlen in Moskau 2013 erhielt er 27 Prozent der Stimmen. Kurz danach wurde er in einem Strafverfahren zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, was eine weitere Kandidatur verhindert. Schon 2007 war er wegen nationalistischer und rassistischer Äußerungen über die Bewohner des Nordkaukasus aus Jabloko ausgeschlossen worden.

Nawalnys „Fortschrittspartei“ hatte die Bildung einer „Demokratischen Koalition“ angeregt, um die Dynamik der Demonstrationen von 2011 für die bevorstehenden Wahlen wiederzubeleben. Der Koalition unter Einschluss von Milows Partei „Demokratische Wahl“, Kasjanows „Parnas“ und anderen Gruppen sollte ein gemeinsames Programm vertreten, das eine „Entwicklung europäischen Typs“ in Russland anstrebt. Nawalny sprach von einer „breiten demokratischen Union, in der Sozialdemokraten, Liberale und Konservative europäischen Typs zusammenarbeiten können“.

Dieser Zusammenschluss endete in einer Schlammschlacht, wobei der Kreml eine in den 1990er Jahren erprobte Methode zur Diskreditierung des politischen Gegners einsetzte: Der Staatssender NTV zeigte ein Video, in dem Kasjanow und eine Parteifreundin im Bett liegen und über ihre Bündnispartner herziehen. Die empörten Mitstreiter forderten Kasjanow auf, seinen ersten Listenplatz aufzugeben. Am Ende verkündeten Nawalny und Milow, nach langen fruchtlosen Streitereien über die Aufteilung der Wahlkreise, die Auflösung der Koalition.

Dennoch dürften es einzelne liberal-demokratische Kandidaten wohl ins Parlament schaffen, denn die Hälfte der Sitze wird über Direktmandate vergeben. Die Liberalen haben jedoch kaum eine Chance, die Fünfprozenthürde zu überwinden, also Sitze zu erringen, die proportional verteilt werden. Deshalb werden sie wohl auch keine Fraktion bilden können.

Die internen Auseinandersetzungen erklären das Scheitern der Liberalen freilich nur zum Teil. Ihr schlechter Ruf rührt auch daher, dass sie nicht die schwerwiegenden Fehler zugeben wollen, die sie selbst in den 1990er Jahren gemacht haben. Damals hatten sie für die Spaltung der Gesellschaft gesorgt, zugunsten einer kleinen Gruppe von Gewinnern, zu der sie selbst gehörten, und auf Kosten der vielen Verlierer, die ihnen egal waren. Bestenfalls äußerten sie – wie Nemzow – ihr Bedauern über die Manipulationen bei der Wiederwahl Jelzins im Juli 1996.

Seit Jabloko 2007 seine letzten Abgeordneten in der Duma verloren hat, bilden die liberalen Parteien und Bewegungen eine außerparlamentarische Opposition. Sie selbst feiern diesen Status als Ausdruck von Freiheit und Unabhängigkeit. In Wirklichkeit besiegeln sie damit nur ihre Bedeutungslosigkeit, weil sie damit die Wähler abschrecken, die keine Frontalopposition zu den gegenwärtigen Machthabern wollen. Nach einer aktuellen Umfrage glauben nur 52 Prozent der Befragten an die Notwendigkeit einer Opposition; 13 Prozent halten die Opposition für nötig, um „einen Machtwechsel zu ermöglichen“; fast ein Drittel sehen sie als unnötig an, weil die Gesellschaft in so schwierigen Zeiten durch Diskussionen nur „geschwächt“ werde.2

Wer den Staat nicht schädigt, darf sich bereichern

Anders als die große Mehrheit der Bevölkerung sind die Repräsentanten der liberal-demokratischen Opposi­tion in der Krimfrage gegen die Annexion oder zumindest gegen das konkrete russische Vorgehen. Kasjanow ging so weit, sich auf einer Konferenz des Atlantic Council für die Sanktionen des Westens auszusprechen. Schon im April 2015 hatte man ihn in Russland als illoyal beschimpft, als er in Washington Sanktionen gegen acht Journalisten forderte, denen Hasspropaganda gegen Nemzow vorgeworfen wurde.

Vor Kurzem lancierten Wirtschaftskreise eine politische Plattform, die alte Vorstellungen der 1990er Jahre wieder aufbereitet, wonach die Liberalisierung der Wirtschaft automatisch zu mehr Demokratie führe. Seit 2008 gab es etliche Versuche, eine Partei zu gründen, die die Industrie und den Finanzsektor repräsentiert.3 Zum Beispiel hat der Multimilliardär Michail Prochorow 2011 die Partei „Rechte Sache“ gegründet, die keinen Sitz in der Duma erringen konnte. Doch als Prochorow bei der Präsidentschaftswahl 2012 antrat, bekam er immerhin fast 8 Prozent der Stimmen.

Mit dem Projekt „Rechte Sache“ wollte man städtischen, gebildeten Wählern das Gesicht eines verlässlichen Managers präsentieren, aber auch kleine und mittlere Unternehmer – vor allem in der Provinz – ansprechen, indem man beispielsweise die 60-Stunden-Woche propagierte. Allerdings wurde Prochorow immer wieder verdächtigt, ein Strohmann der Macht zu sein. So stellte ihm der bekannte Journalist Wladimir Posner die Frage, ob er von Putin oder von Medwedjew ausgewählt worden sei.

Als Prochorow binnen weniger Monate die Kontrolle über die „Rechte Sache“ verlor, gründete er 2012 die „Bürgerplattform“, deren Führung er auch rasch einbüßte. Beide Parteien präsentieren im September ihre eigenen Kandidaten. Im April 2016 wurden die Büros von Prochorows Holdinggesellschaft Onexim durchsucht, nachdem seine Zeitung RBC Kommentare zu den „Panama Papers“ veröffentlicht hatte, die Namen aus der Umgebung des Präsidenten benannten. Prochorow soll ihm im Juli alle seine russischen Beteiligungen verkauft haben.4

Allein schon die Entstehung von unternehmerfreundlichen Parteien bedeutet eine Abweichung von den Spielregeln, die Putin nach seinem Machtantritt diktiert und 2003 mit der Verhaftung des Oligarchen Michail Chodorkowski (der 2013 freigelassen wurde) bekräftigt hatte: Die Eigentümer der oft auf unlautere Weise erworbenen russischen Vermögen sollten sich nicht in die Politik einmischen und als Gegenleistung für die Nachsicht der Macht zur „Modernisierung“ der Ökonomie beitragen.5 Im Klartext: Wenn sie die nationalen Interessen nicht beeinträchtigen, sondern fördern, dürfen sie sich bereichern.

Der Aufstieg einer neuen Unternehmergeneration und die Krise von 2008 zwangen Putin, diesen Vertrag neu zu fassen. Im Dezember 2014 beschwor er „eine Beziehung zwischen Unternehmern und Staat, die auf der gemeinsamen Sache, einer Partnerschaft und einem Dialog auf Augenhöhe basiert“. Um die Wirtschaftselite für einen ökonomischen Aufschwung zu mobilisieren, bot er als Gegenleistung den Verzicht auf „übermäßige Überwachung“ durch staatliche Kontrollorgane und eine vollständige Straffreiheit im Falle von Rücktransfers von Fluchtkapital. Dieses insgesamt sehr liberale Programm hat Putin seitdem durch die Ankündigung weiterer Privatisierungen im Erdöl- und Luftfahrtsektor sowie in der Diamantenindustrie ergänzt.

Die politische Strömung, die strikte Unternehmerinteressen artikuliert, teilt im Grunde die Positionen des liberalen Regierungsflügels, den der Präsident neuerlich gestärkt hat, um sein Wirtschaftsprogramm für ausländische Investoren glaubwürdig zu machen. Der Direktor der Sberbank, German Gref, und vor allem der frühere Finanzminister Alexei Kudrin – der 2011 die Opposition unterstützt hatte, ohne den persönlichen Kontakt zu Putin zu verlieren – sind auf die politische Bühne zurückgekehrt. Kudrin wurde zum Vizechef des Wirtschaftsrats beim Präsidenten ernannt, nimmt sich gegenüber Putin aber auch außenpolitische Ratschläge heraus. Ende Mai forderte er die Reduzierung des geopolitischen Spannungen „zum Wohle der russischen Wirtschaft“ mit der Begründung, Russland müsse sich in die Weltmarktstrukturen integrieren, um seinen technologischen Rückstand aufzuholen.6

Putin versteht sich als Schiedsrichter zwischen den klassisch liberalen, oft prowestlichen Kräften und einer etatistischen Strömung, der es vor allem um die Größe Russlands geht. Dabei ist er bemüht, die lebensnotwendigen Sektoren, vor allem die Energie, wieder in die Hand des Staats zu bekommen, während er in anderen Bereichen den Marktkräften großen Spielraum lässt. Mithin macht der Staat, wie die Unternehmerparteien, der liberal-demokratischen Opposition das politische Monopol auf den Wirtschaftsliberalismus streitig.

Putin überlässt der Opposition also lediglich das Feld der Kritik an Autoritarismus und Bürokratie, was deren Perspektiven stark begrenzt. Die Proteste von 2011 haben zwar gezeigt, dass ein Teil der Bevölkerung für mehr politische Öffnung ist. Doch die jüngsten Zugeständnisse der Staatsmacht (Rückkehr zur Direktwahl der Gouverneure, vereinfachte Parteigründung, Öffnung der Vorwahlen der Regierungspartei für alle Bürger) sind ein vergiftetes Geschenk. Zumal für eine Opposition, die ausgerechnet jetzt, wo sie ihre Proteste von der Straße an die Wahlurnen verlagert, gespaltener ist als je zuvor.

1 2003 erhielt die Partei 3,4 Prozent der Stimmen und 4 von 450 Abgeordnetensitze, 1993 waren es 7,8 Prozent und 27 Sitze.

2 Umfrage des Lewada-Zentrums, zitiert von Interfax, 13. März 2016.

3 Kommersant Vlast, Moskau, 22. Februar 2016.

4 Handelsblatt, 4. Juli 2016

5 Vgl. Wladislaw Inosemzew, „Putins Freiheit. Mund halten und Kohle machen“, Le Monde diplomatique, Oktober 2010.

6 The Moscow Times, 30. Mai 2016.

Aus dem Französischen von Claudia Steinitz

Nina Baschkatow ist Politologin und betreut die Website Inside Russia & Eurasia.

Le Monde diplomatique vom 08.09.2016, von Nina Baschkatow