10.03.2016

Das katholische Gesetz

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Das katholische Gesetz

Schwangerschaftsabbruch gilt in Chile immer noch als Gewaltverbrechen

von Julia Pascual und Leila Miñano

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Die 24-jährige Camila aus Santiago de Chile sitzt bei einer Tasse Tee in ihrem Wohnzimmer. „Ich war damals vierzehn, es war so eine Sommerliebe. Ich hatte keine Ahnung, ich wusste gar nicht, dass ich schwanger werden konnte.“ Ihre Mutter ist dabei, die beiden wollen anonym bleiben. „Eines Morgens gab mir meine Mutter dann einen Schwangerschaftstest.“ Das Ergebnis war positiv.

„Meine Mutter hat gesagt, ich soll mit niemandem darüber sprechen und ganz normal in die Schule gehen. Am Abend fragte sie mich dann, was ich tun will.“ Camilas Mutter Cynthia fährt fort: „Ich habe ihr gesagt, es muss unter uns bleiben, ich könnte dafür ins Gefängnis kommen. Ich habe ja früher viel im Untergrund gearbeitet.“ Cynthia war während der Zeit der Militärdiktatur in der Patriotischen Front Manuel Rodríguez aktiv, dem bewaffneten Arm der Kommunistischen Partei.

„Irgendwann kam ein etwa vierzigjähriger Mann zu uns“, berichtet Camila. „Ich weiß nicht, ob er Arzt war. Er gab mir vier Pillen und wartete dann darauf, dass der Embryo abging. Ich war im Bad, hatte Krämpfe und blutete. Es ging sehr schnell, aber ich war wirklich traumatisiert. Ich hatte zwei Jahre lang Depressionen und furchtbare Schuldgefühle.“ Camila war vorher immer gegen Abtreibungen gewesen: „Ich fand das furchtbar. In der katholischen Schule, auf die ich ging, hatten sie uns Bilder von Ausschabungen und schreienden Babys gezeigt. Aber dann habe ich meine Meinung geändert.“ Camila betrachtet ihren anderthalbjährigen Sohn Ariel, der in einer Ecke spielt. „Jetzt, wo ich Mutter bin, weiß ich, dass es bei einer Schwangerschaft das Wichtigste ist, dass man das Kind haben will.“ Ihre Mutter hat sie stets unterstützt, sie war überzeugt, „man muss die Freiheit haben, selbst zu entscheiden. Aber in unserem Land redet ja kaum jemand von sexueller Aufklärung.“

Die Geschichte der dreizehnjährigen Belén, die im Alter von elf Jahren nach wiederholten Vergewaltigungen durch ihren Stiefvater schwanger wurde, ließ die Diskussion 2013 um das Recht auf Abtreibung erneut aufflammen. Im Jahr darauf musste eine Dreizehnjährige, die ebenfalls vergewaltigt worden war, das Kind austragen, obwohl es schwer krank war und nach der Geburt nur wenige Stunden lebte. Solche dramatischen Geschichten zeigen, wie rückständig die chilenischen Gesetze in dieser Hinsicht sind, die noch aus den letzten Monaten der Pinochet-Diktatur stammen.

Derart repressiv sind nur noch der Vatikan, Malta, El Salvador, Nicaragua, Honduras, Haiti und Surinam. In Chiles Nachbarländern Kuba, Puerto Rico, Uruguay (seit 2012) sowie im Gebiet von Mexiko-Stadt (seit 2007) ist Abtreibung in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen ohne Einschränkungen erlaubt. Andere südamerikanische Länder gestatten die medizinische Indikation, die mehr oder weniger breit ausgelegt wird.

Keine Gnade für vergewaltigte Mädchen

„In Chile war die Abtreibung aus medizinischen Gründen, also wenn die Schwangerschaft ein Gesundheitsrisiko für die Frau darstellt, fast fünfzig Jahre lang erlaubt“, erklärt die Ärztin und Feministin Maria Isabel Matamala Vivaldi. „Ich war damals Assistenzärztin und habe auch selbst Abtreibungen vorgenommen. Aber jetzt sind wir wieder hinter diesen Stand zurückgefallen.“

Nach der Rückkehr zur Demokratie blieb trotz etlicher parlamentarischer Initiativen das restriktive Gesetz in Kraft, dem zufolge Frauen, die abtreiben, mit drei Jahren Gefängnis bestraft werden können. Jedes Jahr gehen zwischen 70 000 und 120 000 Frauen dieses Risiko ein. Damit ist Chile, wie Matamala Vivaldi erklärt, das Land „mit der höchsten Abtreibungsrate in ganz Lateinamerika“, zusammen mit der Dominikanischen Republik. Da es keinerlei öffentliche Informationen zum Thema Verhütung gibt, ist die Zahl der ungewollten Schwangerschaften besonders hoch. Seit Dezember 2014 sind Abtreibungen bei Vergewaltigung, Inzest, Missbildungen des Fötus oder Lebensgefahr für die Frau auch in der Dominikanischen Republik straffrei – so dass Chile mit seiner Politik inzwischen ziemlich allein dasteht.

Im Präsidentschaftswahlkampf 2013 hatte Michelle Bachelet, Kandidatin der Mitte-links-Koalition und ausgebildete Kinderärztin, Straffreiheit in drei Fällen versprochen: bei Vergewaltigung, bei einem nicht lebensfähigen Fötus oder bei Lebensgefahr für die Frau. Aber es brauchte noch weitere dramatische Meldungen und Demonstrationen, bis die Regierung Anfang 2015 endlich ein Gesetzesvorhaben in den Kongress einbrachte. Anfang August wurde das Gesetz im zuständigen Ausschuss verabschiedet und nahm damit die allererste Hürde. Die Debatte begann jedoch unter ungünstigen Vorzeichen. „Wir sind für das Leben, und unsere Krankenhäuser sind Orte, an denen das Leben geschützt wird – wir werden dort keine Abtreibungen vornehmen“, erklärte der Rektor der Katholischen Universität (UC), Ignacio Sánchez, gegenüber den Abgeordneten. Die UC betreibt das größte private Gesundheitsnetz Chiles, UC-Christus. Selbst wenn das Gesetz verabschiedet wird, werden es die über 1200 Ärztinnen und Ärzte in deren Kliniken nicht umsetzen.

In einem Land, in dem die Ehescheidung erst seit 2004 erlaubt ist und 57 Prozent der Bevölkerung katholisch sind, hat eine solche Erklärung Gewicht. „Die Kirche setzt die Regierung unter Druck, wie immer“, schimpft Matamala Vivaldi. „Und wenn die Regierung bei ihrem Vorhaben bleibt, droht die Kirche mit massenhaften Protesten, wie die Evangelikalen in Brasilien.“

Die Offensive der Katholiken zeigt Wirkung, auch weil sie gute Verbindungen zu den konservativen Parteien und den mit in der Regierungskoalition sitzenden Christdemokraten (DC) haben. Ende Juli ließ die DC verlauten, dass weniger als ein Drittel ihrer Abgeordneten für das Gesetz stimmen werde, obwohl sie vor zwei Jahren das Programm von Michelle Bachelet offiziell mitgetragen hatten. Der christdemokratische Vizepräsident Matías Walker erklärte, dass die Parteimitglieder mehrheitlich auch die straffreie Abtreibung nach einer Vergewaltigung ablehnten.

Präsidentin Bachelet muss ihre Koalitionspartner bei der Stange halten, wenn sie ihre Mehrheit im Kongress nicht verlieren will – auch wenn ihr Image wegen einer Affäre um Immobilienspekulationen, in die ihr Sohn und ihre Schwiegertochter verwickelt sind, angekratzt ist. Und sie muss die Empfehlungen der internationalen Organisationen zumindest ein Stück weit umsetzen. Immerhin war Bachelet von 2010 bis 2013 die erste geschäftsführende Direktorin von UN Women, und Ende 2014 drängte eine Expertengruppe der UNO Chile, „die Fesseln einer konservativen patriarchalen Gesellschaft“ endlich abzuschütteln.

Neuerdings haben auch feministische Organisationen ihre Kampagnen auf die aktuelle Debatte eingestellt: Miles, ein 2010 gegründeter Verein zur Verteidigung des Rechts auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung, konzentriert sich jetzt nur noch darauf, Straffreiheit für eine medizinisch gebotene Abtreibung zu fordern – denn nach neuesten Umfragen sind 60 bis 70 Prozent der Chilenen dafür.1

Andere Organisationen gehen weiter. Der 2014 gegründete Verband feministischer Gruppen (Coordinadora Feministas en Lucha) organisiert Demonstrationen für die generelle Legalisierung der Abtreibung. „Der Gesetzesvorschlag von Bachelet berücksichtigt die Klassenfrage nicht“, erläutert Hillary Hiner, Geschichtsprofessorin an der Universität Diego Portales in der Hauptstadt. „Die Reichen konnten es sich schon immer leisten, für einen Schwangerschaftsabbruch in eine Privatklinik oder ins Ausland zu gehen.“ Die große Ungerechtigkeit liegt darin, dass nicht jede Frau Zugang zu einer gefahrlosen Abtreibung hat.

„Die Situationen, für die nach dem neuen Gesetz Straffreiheit gilt, betreffen nur 2 Prozent der Abtreibungen“, unterstreicht Carolina, die anonym bleiben möchte. Sie macht mit bei Abtreibungshotline Chile (Linea Aborto Chile), deren Aktivistinnen von der niederländischen Organisation Women on Waves2 ausgebildet wurden. Unter der Woche ist die Hotline, über die die betroffenen Frauen alle notwendigen Informationen für eine sichere Abtreibung erhalten, immer abends zwischen 20 und 23 Uhr erreichbar.

Schwarzmarkt für die Abtreibungspille

Tausende Frauen sind jedoch nach wie vor auf den Schwarzmarkt angewiesen. Die Abtreibungspille Misoprostol wird aus den Nachbarländern eingeschmuggelt und teuer weiterverkauft (für 40 000 bis 120 000 Pesos, das entspricht 55 bis 164 Euro). Nicht selten wird das Medikament, das nur bis zur 12. Schwangerschaftswoche wirkt, falsch angewendet, weshalb die Frauen nach einer solchen Abtreibung gefährliche Blutungen und Infektionen erleiden. Wenn sie damit dann ins Krankenhaus gehen, müssen sie befürchten, angezeigt zu werden und Verhöre und schlechte Behandlung über sich ergehen lassen.3 „Bei uns kommen völlig verängstigte Frauen ohne Geld an“, berichtet auch die Vorsitzende der landesweiten Hebammengewerkschaft Anita Román, die im Krankenhaus Luis Tisné Brousse in Santiago arbeitet. „Sie gehen erst ins Krankenhaus, wenn ihr Zustand wirklich ernst ist. Aber wir zeigen sie nicht an.“ An diesen Grundsatz hält sich auch Mauricio Besio von der Katholischen Universität Chile.

2013 wurde trotzdem gegen 166 Frauen Anzeige erstattet. „22 von ihnen sind verurteilt worden“, sagt Staatsanwalt Félix Inostroza, Leiter der Abteilung für Gewaltverbrechen, zu denen in Chile auch der Schwangerschaftsabbruch gehört. „Die meisten Frauen kommen nicht ins Gefängnis, sondern erhalten andere Strafen“, erläutert die Anwältin Ana Piquer, Generalsekretärin von Amnesty International Chile. Heute sitzen noch sechs Männer im Gefängnis. Zuletzt wurde 2013 ein 76-jähriger Krankenpfleger zur 818 Tagen Haft verurteilt, weil er mehrfach Abtreibungen vorgenommen hatte.

Die Kriminalisierung ist also auf dem Rückzug. „In El Salvador ist es viel schlimmer“, sagt Ana Piquer, „dort müssen die Frauen wirklich ins Gefängnis.“ Amnesty International startete im April 2015 eine Kampagne („Mein Körper – Meine Rechte!“) für 17 Frauen, die dort zwischen 1999 und 2011 zu Haftstrafen bis zu vierzig Jahren verurteilt worden waren, die meisten wegen Totschlags in besonders schwerem Fall. Im April 2014 reichten ihre Anwälte ein Gnadengesuch ein, und im Januar kam eine der Frauen, Guadalupe Vásquez, nach fast zehn Jahren hinter Gittern endlich frei. Manche sahen das als ein Zeichen, dass El Salvador der nächste Staat sein könnte, der sein Abtreibungsrecht ändert.

Seit einigen Jahren arbeiten Ak­tions­gruppen in ganz Lateinamerika an einer Vernetzung. Linea Aborto Chile hat ein Handbuch zur medikamentösen Abtreibung veröffentlicht, das bereits tausendfach verteilt und aus dem Netz heruntergeladen wurde. „Wir haben uns am ersten lateinamerikanischen Handbuch orientiert. Es ist in Argentinien erschienen“, erklärt Carolina. Auch die Bolivianerinnen haben das Handbuch übernommen. Und vielleicht wird dieses Netzwerk von Frauen für Frauen einmal ganz Amerika umspannen.

1 „Encuesta nacional del instituto de investigación en ciencias sociales“, Universität Diego Portales, Santiago de Chile 2014.

2 Diese 1999 gegründete Organisation nimmt Abtreibungen auf einem Klinikschiff vor, das in internationalen Gewässern vor Ländern kreuzt, in denen Schwangerschaftsabbruch verboten ist (und versendet auch Abtreibungsmedikamente per Post oder zuletzt per Drohne nach Polen).

3 Lidia Casas und Lieta Vivaldi, „La penalización del aborto como una violación des los derechos humanos de las mujeres“, Bericht zur Lage der Menschenrechte, Universität Diego Portales, Santiago de Chile 2013.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Julia Pascual und Leila Miñano sind Journalistinnen.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2016, von Julia Pascual und Leila Miñano