10.03.2016

Die Hindumacher von Arunachal Pradesh

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Die Hindumacher von Arunachal Pradesh

Rechtsradikale bekehren den Nordosten Indiens

von Clea Chakraverty

Frühlingsritual mit getrockneten Kuhfladen JITENDRA PRAKASH/reuters
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Rata Yirang schnalzt mit der Zunge und stößt drei kurze Schreie aus, das heißt, die Jagd war erfolgreich. Mit prall gefülltem Bambussack gleitet er in Plastiksandalen, made in China, leichtfüßig über den schlammigen Untergrund zwischen den Pfahlbauten. Der junge Adivasi, wie sich die Indigenen in Indien1 nennen, lebt in Damro, einem 1000-Seelen-Dorf, das auf 800 Metern Höhe im Bundesstaat Arunachal Pradesh liegt. Die nordöstliche Grenzregion zwischen China (Tibet), Bhutan und Myanmar ist reich an Wäldern, Flüssen und nahezu unberührten Bergen.

Im Jeep braucht man etwa sechs Stunden von Damro nach Pasighat, Hauptstadt des Distrikts im Siang-Tal. Erst vor wenigen Jahren hat die Globalisierung das verwunschene Tal erreicht. Jetzt hängen auch in Pasighat jede Menge Werbeplakate; es gibt Privatbanken und chinesische sowie indische Billigprodukte auf dem Markt.

Selbst in Damro besitzt schon jeder Haushalt ein Handy. Der Strom fällt aber oft aus. Einige haben auch einen Fernseher, vor dem man sich gemeinsam über schrille, indische Sitcoms amüsiert. Ansonsten bestimmen jahreszeitliche Bräuche und die Subsistenzwirtschaft das Leben der Dorfbewohner von Damro. Ihr Glaube, der sich aus Mythen und schamanistischen Riten speist, hat sich lange jeder Form von Institutionalisierung widersetzt. Doch der Clanälteste Saram Yirang beginnt schon den alten Zeiten nachzutrauern: „Die Jungen interessieren sich mehr für Bollywood oder westliche Mode als für das Wohlergehen des Dorfs. Sie ziehen in die Stadt, das ist schlecht für die Solidarität innerhalb der Clans.“

Nach der letzten Volkszählung von 2001 ist der Anteil der Stadtbevölkerung in Arunachal Pradesh seit 1971 von 3,7 auf 21,34 Prozent gestiegen. Manche meinen, dass sich infolgedessen viele Indigene an die dominante, und das heißt hier vor allem christliche Religionskultur angepasst hätten, die seit Beginn der 1980er Jahre für merkliche Veränderungen gesorgt hat. „Das Christentum hat sich unter allen Stämmen stark ausgebreitet. Die Konvertiten halten sich nicht mehr an unsere Feste“, sagt Aini Taloh, Vorsitzende eines feministischen Adivasi-Kulturvereins in Pasighat. In dieser Stadt wurden innerhalb von weniger als zehn Jahren über ein Dutzend evangelikale Gemeinden gegründet.2

„Die Leute beten immer noch Naturgeister an, aber für uns ist das shaitan, Teufelswerk! Wir sind gegen Opfergaben und Alkohol“, erklärt ein junger Baptistenprediger. Die Evangelikalen haben einen einflussreichen, gut organisierten Verband im Rücken. Und sie wissen, wie man neue Anhänger gewinnt, indem sie in ihre Gottesdienste traditionelle Gesänge und Tänze einbauen. Außerdem bieten die Prediger regelmäßig Bet- und Heilcamps an. Diese sogenannten healing crusades („therapeutische Kreuzzüge“) erfreuen sich großer Beliebtheit – als alternative Anlaufstelle zu den kostspieligen Diensten von Heilern und den notorisch unzuverlässigen staatlichen Einrichtungen: Es kommt wohl öfter vor, dass das Personal nicht zur Arbeit erscheint.3

„Die Evangelikalen konnten die Menschen massenhaft zum Übertritt bewegen, weil sie etwas Attraktiveres und Moderneres anzubieten haben als unsere alten Riten“, meint Kaling Borang, ein Beamter aus Pasighat und seit den 1970er Jahren Indigenen-Aktivist. „Diese Konversionen bedrohten unsere Kultur. Deshalb haben wir unsere eigene religiöse Bewegung gegründet und den Glauben und die alten Praktiken reformiert.“

Beunruhigt über die sogenannte Christianisierungswelle in vielen nordöstlichen Bundesstaaten4 , schlossen sich damals auch einige gebildete, englischsprachige Adivasi der Bewegung an, die sich in Anlehnung an die Kosmologie der alten Stammesreligion den Namen „Donyi Polo“ (Sonne-Mond) gab: „Für jedes offizielle Dokument mussten wir unsere Religionszugehörigkeit angeben. Aber wir hatten keine, jedenfalls keine, die allgemein bekannt war“, erzählt Borang von den Anfängen. 1986 berief die Bewegung ein offizielles Gremium ein, das einen Tempel (ganggin) inklusive Pantheon gründete. Der Anführer der neuen Sekte, Talom Rukbo, schlug damals vor, alle Gesänge und Gebete fortan schriftlich niederzulegen. Traditionell wurden die Stammesriten mündlich überliefert.

Feierliche Lieder für Mutter Indien

Donyi-Polo-Anhänger schmücken ihre Häuser mit einer Flagge (rote Sonne auf weißem Grund). Gottesdienst ist samstagmorgens. Die Figuren auf dem Altar sind hinduistischen Gottheiten nachempfunden. Ein psychedelischer Regenbogen symbolisiert den Namen der Sekte. Kerzen, Weihrauch und Bronzeglocken gehören ebenfalls zu der Zeremonie.

Und man ist offen für weitere Rituale. „Wir meditieren, machen Yoga und rezitieren das Adivasi-Wort Keyum, im Hinduismus heißt das Om5 “, erklärt Tajom Tasum, Geschäftsführer des Pasighater-Ganggin. Diese Art von Zeremonie ist allerdings nicht jedermanns Geschmack.

„Vor dreißig Jahren gab es das alles noch nicht. Die Reformbewegung war wichtig, um Konversionen zu verhindern; aber dann haben sich die Hindu-Organisationen immer mehr in unseren Glauben eingemischt“, erzählt Kalin Taloh, ein Unternehmer aus Pasighat, der ausgetreten ist. Die von ihm erwähnten Organisationen haben in der Tat die Indigenen-Bewegung stark unterstützt. Für Borang habe anfangs nur die logistische Hilfe im Vordergrund gestanden: „Wir wussten nicht, wie wir uns organisieren sollten. Sie haben uns konkrete Hilfestellung gegeben, Leute geschickt, Weiterbildungen organisiert und Ratschläge gegeben.“

Das klingt so harmlos. Tatsächlich kamen seine Helfer aus der rechtsradikalen Organisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (Nationale Freiwilligen-Vereinigung, RSS) oder standen dem RSS-Männerbund zumindest nahe.6 Die Ideologie des RSS (Hindutva) propagiert die politische und religiöse Überlegenheit des Hinduismus. Heute hängen in allen Donyi-Polo-Kultstätten Porträts von RSS-Führern. Und als Talom Rukbo, einer der Gründungsväter von Donyi Polo, 2002 starb, wurde auch er zur RSS-Ikone erklärt.

Seit dem chinesisch-indischen Grenzkrieg von 1962 sind hindunatio­nalistische Organisationen in Aruna­chal Pradesh stark vertreten. Sie verbreiten ihr Gedankengut über so­ziale Netzwerke, wie das riesige RSS-Bil­dungswerk Vidya Bharati (Wissen über Indien)7 , das allein in diesem Bundesstaat 14 private Grundschulen unterhält. Auch die kleine Donyi-Polo-Grundschule in Pasighat, Vidya Niketan (Haus des Wissens), bietet patriotische Liederstunden, Gottesdienste zu Ehren der Bharat Mata (Mutter Indien) und religiöse Gesänge auf Sanskrit an – Inhalte, die nicht im offiziellen Lehrplan stehen.

Dass die Donyi-Polo-Grundschüler in Pasighat aus indigenen Familien kommen und weder mit Sanskrit noch den hinduistischen Gottheiten vertraut sind, zählt nicht: „Für uns sind sie Hindus!“, erregt sich Ashokan K. V., der pädagogische Koordinator der Schule. „Die Donyi-Polo-Religion gehört zum hinduistischen Pluralismus. Auch wenn die Leute hier das Gegenteil behaupten. Dieser Glaube ist genauso indigen wie der Hinduismus; wir teilen dieselben Überzeugungen. Die Hindus haben Surya, die Sonne, unser Gott Ram war ein Abkömmling der Sonne; die Hindus verehren die Natur, wie im Donyi-Polo. Also, wo liegt der Unterschied?“ Die Kinder sollen „ihre Kultur“ aus der Sicht der Hindunationalisten kennenlernen, die vor allem Übertritte zum Christentum verhindern wollen. Die RSS-Ideologie Hindutva soll insbesondere im Geschichtsunterricht zum Tragen kommen.

„Man muss sich der Loyalität der Bevölkerung versichern. Muslime oder Christen können nicht loyal sein“, erklärt Ashokan. „Wie soll das möglich sein, wo sie doch dem Papst in Rom oder Mekka folgen? Wenn die Leute sich nicht als Hindus fühlen, dann sind sie Ausländer. Sie stellen eine Bedrohung für unsere nationale Identität und Einheit dar.“ An der kleinen Schule sprechen die Lehrer auch im Alltag nur Hindi. „Nach 1962 gab die Regierung den hinduistischen Missionarschulen freie Hand, um im gesamten Bundesstaat Hindi zu verbreiten“, erklärt der Soziologe Mirza Zulfiqar Raman aus dem benachbarten Bundesstaat Assam. Auf diese Weise versuchte die Zentralmacht, in der Gegend Fuß zu fassen.

Angesichts „der Bedrohung durch äußere Kräfte“ müsse vor allem in den „Jugendferienlagern zur Orientierung und Persönlichkeitsentwicklung“ der Patriotismus gestärkt werden, schreibt die RSS-Organisation Arun Jyoti (in der Hindumythologie der Wagenlenker der Sonne/Morgenröte) in ihrer englischsprachigen Broschüre.

Vor allem in einem Punkt seien sich die hindunationalistischen und die staatlichen Bildungseinrichtungen einig: dass für die sozialen und ökonomischen Probleme des Bundesstaats die „rückständige“ Stammeskultur verantwortlich ist, schreibt der Ethnologe Nandini Sundar.8

„Der Staat hat aber nichts für uns getan“, behauptet Omer Tatin, heute stellvertretender Sekretär des RSS-Vereins Vikas Parishad (Entwicklungsrat) von Arunachal Pradesh. „Als wir unsere Religion institutionalisieren wollten, hat uns nur der RSS unterstützt.“ Er ist wie andere Adivasi der Ansicht, die Indigenen bräuchten „Entwicklung“. Das Gleiche lehrte in den 1940er Jahren übrigens schon der einflussreiche Soziologe Govind Sadashiv Ghurye (1893–1983). Er erklärte die Indigenen zu „rückständigen Hindus“, die man durch kulturelle, sprich hinduistische, und wirtschaftliche Entwicklung assimilieren müsse.

Die Regierung machte sich das paternalistische Konzept zu eigen, mit dem sie bis heute auch ihre Industrialisierungspolitik rechtfertigt: Ohne die Betroffenen vor Ort aufzuklären, geschweige denn einzubeziehen, wurden zwischen 2005 und 2014 am Brahmaputra 162 Staudammprojekte in die Wege geleitet.

1 Scheduled Tribes (ST) („gelistete Stämme“) lautet die amtliche Bezeichnung für Adivasi („erste Siedler“); 2015 wurden in Indien 411 Scheduled Tribes gezählt.

2 In Arunachal Pradesh stellen Christen 30 Prozent der Bevölkerung, in ganz Indien sind es 2,3 Prozent.

3 Vgl. Vibha Joshi, „A Matter of Belief: Christian Conversion and Healing in East-India“, Neu-Delhi (Berghahn Books) 2012.

4 Nagaland, Meghalaya und Manipur sind zu 70 Prozent christlich, Mizoram zu 99 Prozent.

5 Om oder Aum ist im Hinduismus wie im Buddhismus eine heilige Silbe, die in einem Atemzug rezitiert oder gesungen wird.

6 Das Bildungswerk Vidya Bharati wurde 1952 von einem der RSS-Ideologen, Madhav Sadashiv Golwalkar, begründet, der sich unter anderem auf Adolf Hitler als Inspirationsquelle berief.

7 Siehe Praful Bidwai, „Indien und die Liebe zur Demokratie“, Le Monde diplomatique, März 2010.

8 Nandini Sundar, „Educating for inequality: the experiences of India’s ‚indigenous‘ citizens“, in: Asian Anthropology, Bd. 9, Hongkong, September 2010.

Aus dem Französischen von Sabine Jainski

Clea Chakraverty ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 10.03.2016, von Clea Chakraverty