11.12.2009

Fernseher aus Mexiko

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Fernseher aus Mexiko

Die Industrie der Armen im Grenzgebiet zu den USA von Anne Vigna

Krise? Welche Krise? Gibt es schon wieder eine? In Tijuana sind wir nie aus der Krise herausgekommen.“ Jaime Cotta lächelt. Er hat in seinem Büro schon viel Elend kommen und gehen sehen – und trotzdem versucht er seinen Sinn für Humor zu bewahren. Besser als Cotta kennt niemand in ganz Tijuana die Arbeitsbedingungen in den Maquiladoras – jenen Fertigungsbetrieben, die seit den 1960er-Jahren entlang der 3 000 Kilometer langen Grenze zu den USA entstanden sind.

Was die Unternehmen nach Mexiko zog? Billige Arbeitskräfte, fast keine Steuern und laxe Behörden – und das alles in unmittelbarer Nachbarschaft zur größten Volkswirtschaft der Welt.1 Dank der Maquiladoras haben wir hier Vollbeschäftigung, verkündeten die Gouverneure des Bundesstaats Baja California jahrelang.

Jaime Cotta war anfangs selbst Arbeiter, dann absolvierte er ein Studium. Heute ist er Anwalt. Sein „Informationszentrum für Arbeiterinnen und Arbeiter“ (Cittac)2 ist seit 20 Jahren die einzige Anlaufstelle für die, die von den Fabriken vor die Tür gesetzt werden: entlassene Arbeiter, Opfer von Arbeitsunfällen und Zeitarbeiter ohne Rechte oder Verträge. Cotta berät sie und empfiehlt ihnen manchmal, die ehemaligen Arbeitgeber zu verklagen. Sein Büro ist eine Art soziales Fieberthermometer der Grenzstadt mit ihren 1,4 Millionen Einwohnern.

Heute kommen drei Arbeiterinnen zur Beratung. Eine von ihnen wurde für zwei Tage suspendiert, weil ihr ein Werkstück misslungen war – eines von 700, die sie täglich in zehn Stunden fertigt. „Sie wollen mich rauswerfen und haben mich auf dem Kieker. Deswegen erfinden sie irgendwas“, sagt sie mit gesenktem Kopf. Sie hält Cotta einen Zettel hin; sie habe „das Unternehmen vorsätzlich geschädigt“, steht darauf. Die Frau erzählt von den „technischen Unterbrechungen“, zu denen es in der Firma mittlerweile jede Woche kommt. Bezahlt werden sie an solchen Tagen nicht, und dann schrumpft ihr ohnehin lächerlicher Wochenlohn von 755 Pesos (knapp 40 Euro) noch mehr.

„Technische Unterbrechungen“ sind die neuesten Tricks der Arbeitgeber. Mexikos Präsident Felipe Calderón preist sie als Maßnahme im Kampf gegen Massenentlassungen. Ein Drittel des Lohns zahlt dann die mexikanische Regierung, das zweite Drittel die Fabrik – und auf das letzte Drittel muss der Arbeiter verzichten. Im Gegenzug verpflichten sich die Unternehmen, nur so viele Angestellte zu entlassen, wie es dem Rückgang der Produktion entspricht.

Magnolia Pineda, die Vorsitzende des Verbands der Maquiladora-Industrie in Tijuana3 , relativiert: „Nur wenige Unternehmen haben sich auf das Programm eingelassen. Denn es ist für sie eine unzumutbare Einschränkung ihrer Freiheit, Arbeiter nicht einfach entlassen zu können.“ Sie machen zwar von „technischen Unterbrechungen“ Gebrauch – aber ohne Löhne zu zahlen, was vollkommen illegal ist. Im Übrigen, sagt die Verbandsvorsitzende, „haben die Arbeitskräfte die Lage erfasst: Es hat keinen einzigen Streik gegeben.“

Nach der bislang umfassendsten Untersuchung gibt es in 82 Prozent der Maquiladoras von Tijuana keinerlei Arbeitnehmervertretung.4 Die übrigen 18 Prozent haben Organisationen, die die Arbeiter als „Scheingewerkschaften“ verspotten. So deutlich würde Magnolia Pineda das nicht sagen; sie kann sich jedenfalls nicht erinnern, dass es in 50 Jahren Maquiladora je eine Auseinandersetzung gegeben hätte. Der soziale Friede, der in der Stadt an der Grenze stets herrschte, hat nichts mit der „Einsicht“ der Beschäftigten zu tun, sondern mit ihrer Angst vor Repressalien.

Um das zu begreifen, muss man sich nur frühmorgens in einem der Industriegebiete umsehen. Seit einigen Monaten stehen die Arbeitslosen dort Schlange nach einem Job als Tagelöhner. Manche übernachten gleich an Ort und Stelle. Um fünf Uhr früh ist noch kein potenzieller Arbeitgeber in Sicht, aber sie reagieren verschreckt: „Sprechen Sie mich nicht an! Bleiben Sie weg“, murmelt einer. „Ich kann Ihnen nichts sagen, ich darf nicht“, raunt ein anderer. „Sie haben hier nichts zu suchen, das ist verboten“, sagt ein Dritter. „Wir sind hier auf der Straße, ja, aber diese Straße hier, vor der Fabrik, die gehört ihnen auch.“

Zwei Stunden später wärmen sie sich an schlechtem Kaffee, 500 Meter von der Fabrik entfernt. Arbeit hat bis jetzt niemand, und die Angst ist geblieben: „Die haben Kameras, und Sie laufen hier mit einem Kugelschreiber herum. Das ist zu gefährlich.“ Eine einzige Frau erzählt schließlich, dass sie seit Monaten Arbeit sucht. „Aber es gibt keine.“ Wie sie heißt, wie alt sie ist, woher sie kommt, will sie nicht verraten.

Die Maquiladora-Unternehmen haben von Anfang an dafür gesorgt, dass so wenig Informationen wie möglich nach außen dringen. Die einzigen existierenden Bilder wurden von Arbeiterinnen heimlich in einer Werkhalle gedreht.5 „Ich versuche es seit Jahren und mit allen Mitteln“, erzählt ein Lokaljournalist, „aber sie haben mich noch nie reingelassen. Dafür laden sie uns zu Pressekonferenzen in Hotels ein.“

Schwarze Listen für Baja California

Einzig im Cittac erfährt man ein wenig mehr über diese so geheime Welt. Denn wer hier einmal etwas über seine Rechte gelernt hat, der hat keine Angst mehr zu reden. Was man erfährt, ist seit Jahren dasselbe: Die Arbeit in den Maquiladoras ist die Hölle.

Rogelio ist um die vierzig und arbeitet seit seinem 21. Lebensjahr in verschiedenen Betrieben. „Ich komme aus Michoacán. Kaum war ich hier, habe ich für die japanische Firma Takubi Lautsprecherboxen zusammengesetzt. Dann habe ich bei Tabushi – auch Japaner – Kabel für Canon gemacht. Und danach Elektrogeräte repariert, bei Sohnen, einer amerikanischen Firma, der schlimmsten von allen.“

Bei Sohnen machte Rogelio eine Fortbildung zum Elektrotechniker – jeden Abend zwei Stunden im Anschluss an einen zehnstündigen Arbeitstag. Er wurde befördert und erhielt ein fast schon anständiges Gehalt von 1 700 Pesos (90 Euro) in der Woche. Doch das Arbeitstempo laugte ihn völlig aus. „Wir hatten 20 Minuten, um ein Gerät zu reparieren. Wer das nicht schaffte, musste am Abend nacharbeiten – natürlich unbezahlt.“

Sein Vorarbeiter fand, Rogelio arbeite nicht schnell genug. Und Rogelio wollte mit ein paar Kollegen eine Gewerkschaft gründen. Sie hatten sich mehrmals getroffen und am Werkstor Flugblätter verteilt. Die Aufseher fragten herum, ob Rogelio der Anstifter sei, und dann wurde er eines Morgens entlassen. Den Scheck mit der lächerlichen Abfindung lehnte er ab und erstritt stattdessen mit Hilfe von Cittac eine angemessenere Entschädigung. Seitdem steht er auf der schwarzen Liste.6

Rogelio arbeitete noch ein paar Wochen bei Sharp, bis man dort von der Sache Wind bekam und ihn sofort entließ. Der Elektroniksektor in ganz Baja California ist Rogelio seither verschlossen. 2007 musste er schließlich eine Arbeit bei Unisolar Ovonics annehmen, einer US-amerikanischen Maquiladora, die Sonnenkollektoren herstellt. „Das ist keine leichte Arbeit“, erzählt Rogelio. „In der Halle stehen 16 Schmelzöfen, und es gibt keine Lüftung. Die Hitze ist furchtbar. Am gefährlichsten ist es beim Zuschnitt. Dort atmet man den ganzen Tag den Glasfaserstaub ein. Am Ende klebt einem das Zeug am ganzen Körper.“ Die Klagen der Arbeiter haben daran nichts geändert. „Jedes Mal heißt es, wir hätten doch Glück, dass wir in diesen Krisenzeiten überhaupt noch Arbeit haben.“

Immer wieder ist von drohenden Entlassungen die Rede. Zusammen mit seinem Kollegen Manuel, einem Einwanderer aus Honduras, recherchierte Rogelio und erfuhr, dass es der Firma Unisolar Ovonics ausgezeichnet geht. Der neue Chef Mark Morelli verkündete stolze Gewinne für 2008 und spricht von den beste Aussichten für seine Sonnenkollektoren – das ökologische Bewusstsein habe sich gewandelt. „Die Gewinne sind um 16 Prozent gestiegen“, berichtet Manuel. „Die Auftragsbücher sind voll bis ins Jahr 2012, wenn man dem Chef glauben darf.“

Die Arbeitgeberverbände dagegen halten „in diesen schweren Zeiten“ Forderungen der Arbeitnehmer für „unangemessen“. Doch es geht um viel mehr: Zwar erwartet Claudio Arriola, der Vorsitzende der mexikanischen Kammer für die Elektronikindustrie (Canieti), ebenso wie Präsident Calderón in den kommenden Monaten einer „Konjunkturerholung“. Er sagt, man müsse „jetzt nach vorn schauen“, und er spricht von den „Trümpfen“, die der Region blieben, „vor allem die Nähe zu den Vereinigten Staaten“. Doch die Elektronikindustrie in ihrer bisherigen Form „hat hier wohl keine Zukunft mehr“. Verglichen mit dem Optimismus, den man hier sonst gegenüber der internationalen Presse zur Schau stellt, ist das ein bemerkenswertes Eingeständnis.

Die Zeit der Elektronikindustrie im Grenzgebiet ist wohl vorbei. Vor zehn Jahren schwärmten die Bosse hier noch vom „Süden des Silicon Valley“; Tijuana sollte „Welthauptstadt der Fernseher“ mit Vollbeschäftigung werden. Die Fürsprecher sangen das Hohelied des Maquiladora-Modells, das Millionen Dollar an Auslandsinvestitionen bringen sollte – damals stammten sieben von zehn Fernsehern, die in den USA verkauft wurden, aus Tijuana. Von 1994, als das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) unterzeichnet wurde, bis zum Jahr 2001 erlebte die Region ein Wirtschaftswunder.

Diesseits der Grenze Kaliforniens stellten die Maquiladoras Migranten ein, um den Bedarf an elektronischen Spielzeugen für den US-Markt zu decken, der unersättlich schien. „Bis 2000 hatten wir in Tijuana eine Arbeitslosenquote von unter einem Prozent“, berichtet der Wirtschaftsforscher Cuauhtémoc Calderón von der örtlichen Universität. „Entlang der Grenze war die Maquiladora der Kordon, der die Einwanderung in die USA bremste. Doch dieser Unternehmenstyp bleibt von der übrigen Wirtschaft völlig isoliert und übt keinerlei Sogkraft auf andere Sektoren aus – die Produkte werden nur importiert, zusammengebaut und wieder exportiert. Die Maquiladora kann die Zuwanderung nicht mehr auffangen – dafür ist sie inzwischen viel zu massiv: Die brutale Deregulierung der mexikanischen Wirtschaft hat dazu geführt, dass jedes Jahr 500 000 Menschen von zu Hause weggehen. So etwas passiert sonst nur in Kriegszeiten.“

Mit der Jahrtausendwende wurden die Schwächen des Maquiladora-Modells offenkundig. Die Rezession, die die USA 2001 heimsuchte, vernichtete in den grenznahen Betrieben 200 000 Arbeitsplätze. Ein Jahr später baute die Branche 31 Prozent aller Stellen ab, davon 27 Prozent allein in Tijuana. „Wir sind hier völlig abhängig von den Vereinigten Staaten,“ sagt Leticia Hernandez, zuständig für Auslandsinvestitionen im Wirtschaftsreferat von Baja California. „Im Jahr 2008 kamen noch 78 Prozent der Direktinvestitionen für die Grenzregion aus den USA. Die Krise dort treibt jetzt bei uns die Arbeitslosenzahlen in die Höhe.“ Im Herbst 2009 lag die offizielle Arbeitslosenquote in Tijuana bei 7 Prozent – und damit über dem Landesdurchschnitt von 5 Prozent. Zugleich beschäftigt die Schattenwirtschaft hier wie überall in Mexiko immer noch rund die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung.

„Ein Technologietransfer hat nicht stattgefunden, und in vier Jahrzehnten sind enttäuschend wenige Arbeitsplätze für Ingenieure und Techniker entstanden“, das ist die bittere Erkenntnis der Soziologin Cirilia Quintero. Sie forscht an der Universität in Matamoros über die Maquiladoras. Von denen beschäftigen 13 Prozent in Tijuana keinen einzigen Ingenieur, weitere 65 Prozent weniger als zehn. 73 Prozent der elektroverarbeitenden Maquiladoras haben keine Abteilung für Forschung und Entwicklung. Dazu muss man wissen, dass die Hälfte aller Betriebe immer nur ein einziges Produkt zusammenbaut. Nur 13 Prozent stellen immerhin drei verschiedene Geräte her. „Die bloße Maquiladora bringt uns keine Entwicklung, sondern nur ein instabiles Wachstum. In der Hauptsache entstehen unsichere und schlecht bezahlte Arbeitsplätze“, lautet deshalb Quinteros Schlussfolgerung.

Als reine Exportwirtschaft mit völliger Abhängigkeit vom großen Nachbarn im Norden lahmte die Maquiladora schon vor der jetzigen Krise. Spätestens mit dem Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) haben sich die Spielregeln geändert. „Seit gut zehn Jahren beobachten wir, dass die Missbräuche am Arbeitsplatz immer dreister werden und die Entlassungen ohne Abfindung zunehmen“, sagt Jaime Cotta. „Die Firmen stellen sich quer, wann immer sie etwas bezahlen sollen – sogar beim Umgang mit gefährlichen Substanzen. Aber da es kaum noch Arbeit gibt, halten die Leute den Mund.“

Bei der Firma Power Sonic werden Batterien für Elektrogeräte hergestellt. „Früher wollte dort niemand arbeiten, weil man den ganzen Tag mit Blei arbeiten muss“, erzählt Rogelio. „Heute stehen die Leute Tag Schlange vor der Fabrik.“ Der 36-jährige Nezahualcóyotl hat zwei Kinder, eine laufende Hypothek auf sein Haus – und seit seiner Entlassung bei Sohnen „keine Wahl“, wie er sagt. Er möchte gern glauben, dass die Schutzausrüstung gut genug ist: „Die Chefs sagen, man wird nur krank, wenn man sie nicht ordentlich überzieht.“ Er selbst ist noch nicht von einer Bleiververgiftung betroffen – jedenfalls wenn man die Maßstäbe der Firma anlegt, die jeden Monat Blutuntersuchungen durchführt. „Sie sagen uns die Testergebnisse nicht, aber wenn zu viel Blei im Blut ist, wird man auf einen anderen Posten versetzt. So weiß man dann, dass man krank ist.“

Blei in den Gedanken, Blei in den Flüssen

Blei ist ein unverzichtbarer Bestandteil aller elektronischen Geräte. Es ist auch sonst allgegenwärtig – in den Gedanken, den Gesprächen und den Flüssen. Seit zehn Jahren kämpft das Viertel Chilpancingo, das sich unterhalb der Industrieparks befindet, gegen die Verklappung von Bleiabfällen in der Natur. Mit Hilfe der US-Umweltorganisation Environmental Health Coalition hat man im Jahr 2008 etwa 3 000 Tonnen Erde zur Dekontamination in die Vereinigten Staaten geschickt und weitere 8 000 Tonnen mit einer Betondecke versiegelt. Bezahlt haben das die Regierungen beider Länder, nicht etwa die Unternehmen. „Damit haben die auch noch vor der Presse angegeben“, sagt Yesina Palomares, Sprecherin einer Bürgerinitiative in Chilpancingo. „Jahrelang hat keiner auf uns gehört. Hier sind Kinder ohne Gehirn zur Welt gekommen und gleich gestorben. Und es hat sich nichts geändert. Niemand kontrolliert wirklich, womit die Unternehmen die Umwelt versauen und was die Arbeiter krank macht.“

Carmen hat bei Panasonic gearbeitet. „Ich musste Blei auf Leiterplatten löten und habe gleich gemerkt, dass ich immer den Rauch einatme“, erzählt sie. Nach sechs Monaten bekam sie Flecken im Gesicht und Nierenschmerzen und fühlte sich ständig müde. „Der Arzt von Panasonic hat behauptet, dass alles in Ordnung ist. Dann bin ich zu einem Allgemeinarzt in der Stadt gegangen, und der hat mir nach einem Bluttest gesagt: ‚Entweder du hörst auf oder du hast bald Leukämie.‘ “ Carmen folgte seinem Rat – damals kam man noch leicht in anderen Betrieben unter. Heute sei das anders, sagt sie. „Wir sind weniger wählerisch.“

In Carmens Viertel gibt es immer mehr Arbeitslose, seit Sony zugemacht hat. Einige Migranten sind in ihre Heimat zurückgekehrt. „Ich bin als 13-Jähriger aus Chiapas hierher gekommen. In 30 Jahren habe ich nicht erlebt, dass jemand zurück in den Süden gegangen ist.“ Früher arbeiteten die Migranten ein paar Jahre in der Maquiladora, um das Geld für die Schlepper zu verdienen, und versuchten dann jenseits der Grenze ihr Glück. Das ist heute zu gefährlich, zumal die Lage dort sehr unsicher ist. „In Amerika arbeiten Mexikaner meistens auf dem Bau. Aber dafür ist jetzt kein guter Zeitpunkt“, heißt es in einer katholisch geführten Unterkunft für Wanderarbeiter, die zum ersten Mal seit Jahren schlecht besucht ist.

Wenige Meter von der amerikanischen Grenze entfernt warten verhinderte Auswanderer auf bessere Zeiten oder gehen mit ein paar Werkzeugen von Tür zu Tür, um ihre Dienste als Klempner, Gärtner oder Elektriker anzubieten. „Die Maquiladoras stellen niemanden ein. Zu Hause hat man uns das Gegenteil erzählt“, sagt einer von ihnen. Einige geben auf, andere bleiben hartnäckig. Aber alle spüren die Krise, lange bevor sie den Boden der USA betreten haben. Und sie schnallen den Gürtel noch enger, um ja nichts von dem Geld auszugeben, das sie für den Schlepper brauchen.

Am stärksten von der Krise betroffen sind in Tijuana die über 50-Jährigen. Die Maquiladoras nehmen nur junge Arbeitskräfte. „Unter 35“, steht in den meisten Stellenangeboten. Wer erst einmal das Schicksalsalter von 50 erreicht hat, kämpft jeden Tag um seinen Arbeitsplatz. „Leute in diesem Alter geben oft wirklich ihr Letztes“, sagt Nezahualcóyotl. „Sie ackern wie verrückt, nur damit keiner sagt, sie können nicht mehr mithalten. Sie sind die produktivsten Arbeiter in einer Firma, aber sie sind zu teuer. Sie können schuften, so viel sie wollen – irgendwann setzt man sie vor die Tür.“

So war es auch bei der 54-jährigen Delfina. „Am Schluss habe ich für drei gearbeitet. Ich hatte Kopfschmerzen und blutete aus der Nase, und ständig war der Vorarbeiter hinter mir her und trieb mich an. Wir mussten im Stehen arbeiten, weil wir so angeblich effizienter waren als im Sitzen. Wir durften uns nicht unterhalten, nicht auf die Toilette gehen, nicht mal Kaugummi kauen.“

Im November 2008 wurde Delfina ohne Begründung entlassen. Ihren letzten Wochenlohn bekam sie nicht, eine Abfindung auch nicht. Delfina klagte und wartet seither auf das Urteil des Arbeitsgerichts. Zurzeit lebt sie von 200 Pesos (gut 10 Euro) in der Woche, die für drei Menschen ausreichen müssen. Das Geld schickt ihr eine Tochter, die einen Gemischtwarenladen betreibt. „Wir essen nur zweimal am Tag“, sagt Delfina voller Scham, wenn man sie fragt, wie man von so wenig leben kann. Nach 25 Jahren Arbeit in der Maquiladora hat sie weder eine Altersrente noch Ersparnisse. Sie hat allein sieben Kinder großgezogen und wie viele alleinerziehende Mütter jahrelang nachts gearbeitet.

Früher musste sie schon einmal um ihre Rechte kämpfen – in der Spielzeugfabrik Mattel. „Die Leute von Mattel haben die Fabrik gekauft und wollten mich ohne Entschädigung vor die Tür setzen. Ich habe mich gewehrt. Daraufhin haben sie mich eingesperrt.“ Eine ganze Nacht verbrachte Delfina mit einem Wächter in einem Büro. Im Morgengrauen musste sie einen Scheck über 2 000 Pesos (106 Euro) akzeptieren, damit man sie gehen ließ. „Daheim warteten doch die Kinder auf mich.“ Mit Unterstützung von Cittac berichtete sie im Fernsehen und Radio von dem Vorfall. Mattel stritt alles ab. Ein Gericht kam zum Ergebnis, dass es sich nicht um eine Geiselnahme gehandelt habe – weil kein Lösegeld verlangt wurde.

Delfina weiß, dass sie nie wieder Arbeit in einer Maquiladora finden wird. „Sie nehmen ja nicht einmal mehr die Jungen“, sagt sie und deutet auf ihren arbeitslosen 20-jährigen Schwiegersohn. „Manche versuchen, irgendwelchen Kram zu verkaufen. Aber wir sind hier alle arm und können uns kaum etwas leisten.“

Ihr Viertel sieht aus wie viele andere in Tijuana: Die anfangs illegale Siedlung wurde nachträglich genehmigt. Doch die Behörden bauten keine Straßen, und um Strom und Wasser mussten sich die Bewohner selbst kümmern. Als das Haus von Delfinas Sohn brannte, kam keine Feuerwehr. „So was ist doch nicht normal“, schimpft sie, „aber bei wem sollen wir uns beschweren?“ Die Familie ihres Sohns hat alles verloren. „Seine Firma hat ihm nichts gegeben. Nur die Arbeitskollegen haben zusammengelegt. Die Solidarität ist das Einzige, was hier noch funktioniert.“

Fußnoten: 1 Siehe Anne Vigna, „Böses Erwachen in Mexiko“, Le Monde diplomatique, März 2008. 2 www.cittac.org. 3 www.aim.org.mx. 4 Jorge Carrillo und Redi Gomis, „La Maquiladora en datos, resultados de una encuesta“, Tijuana (El colegio de la frontera norte) 2004. 5 „Maquilapolis“ von Vicky Funari und Sergio de la Torre, 2006, 68 Minuten, ist bestellbar über www.newsreel.org. 6 Befragte Arbeiter und Cittac sind überzeugt, dass diese schwarzen Listen nach wie vor existieren (die Arbeitgebervertretungen leugnen dies). Sie vermuten, dass die staatliche Sozialversicherung Daten prozessierender Arbeiter an Firmen weitergibt.

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann

Anne Vigna ist Journalistin.

Le Monde diplomatique vom 11.12.2009, von Anne Vigna