11.12.2009

Es gibt sie noch, die Zapatisten

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Es gibt sie noch, die Zapatisten

Selbstverwaltung in der mexikanischen Provinz Chiapas von Bernard Duterme

Sie betreten die zapatistische Zone. Hier befiehlt das Volk und die Regierung gehorcht.“ Das große verrostete Blechschild am Rande des von den Rebellen kontrollierten Gebiets im mexikanischen Bundesstaat Chiapas ist sichtlich nicht mehr neu, aber immer noch gut lesbar. In Oventic dauert die „faktische Autonomie“ nun schon rund fünfzehn Jahre. Und die Zapatisten sind entschlossener denn je, sich auf lokaler Ebene gegen Regierung und Armee zu behaupten.

Im Jahr 2001, auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, hatten sie mit ihrem Marsch auf die Hauptstadt die im Abkommen von San Andrés 1996 zugesicherte Verfassungsreform eingefordert. Zur Abschlusskundgebung kamen mehr als eine Million Demonstranten. Doch die vorgesehene Verfassungsreform mit erweiterter Autonomie für die indigenen Völker und den entsprechenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen kam nicht zustande – unter anderem auch deshalb, weil sich die parlamentarische Linke von dem Vorhaben distanzierte. Die Befürchtung wuchs, dass damit alle Versuche einer Einigung auf verfassungsgemäßem Weg beendet wären und eine neuerliche Eskalation der Gewalt drohte.

Doch die Zapatisten wandten sich von der Bundespolitik weitgehend ab und konzentrierten sich fortan darauf, ihre „andere Welt“ in Chiapas zu schaffen, wo Diskriminierung und Elend tausende indigener Bauern im Januar 1994 in den bewaffneten Aufstand getrieben hatten. Heute lässt sich sagen, dass ihr Projekt in wichtigen Teilen verwirklicht wurde. Der Aufstand, der in keine der üblichen politischen Kategorien passte, hat politische Fakten geschaffen.

2003 wurden die rund vierzig zapatistischen Gemeinden im Bergland von Chiapas in fünf „caracoles“ (autonome Regionen) untergliedert: Oventic, Morelia, La Garrucha, Roberto Barrios und La Realidad. Jede bildete einen „Rat der guten Regierung“ (Junta de buen gobierno) als oberstes politisches Organ, dem die Delegierten im Rotationsprinzip jeweils ein bis zwei Wochen angehören. Dies und das Konsensprinzip sowie die horizontalen Strukturen seien, so Subcomandante Marcos, der immer noch Sprecher der Bewegung und militärischer Chef der Zapatistischen Befreiungsarmee EZLN ist, die besten Mittel gegen Korruption, die Entfremdung der Berufspolitiker vom Alltag und andere negative Begleiterscheinungen der repräsentativen Demokratie. Aber funktioniert das?

Paradiesische Zustände herrschen in den autonomen Gemeinden gewiss nicht. Aber immerhin gehen heute die Kinder regelmäßiger zur Schule, und die Ernährungslage hat sich gebessert. Auch die Kindersterblichkeitsrate – bis 1994 die höchste im Land – ist zurückgegangen. Durch die strenge Alkoholprohibition (ley seca), die die Frauen der Bewegung von 1993 an nachdrücklich gefordert hatten, gelang die Eindämmung des zuvor endemischen Alkoholmissbrauchs. Die Gewalt in den Familien hat seither deutlich abgenommen.

Weniger eindeutig ist die Situation auf dem Gebiet der Rechtsprechung. Denn der Rückgriff auf das einheimische – wenn auch vom traditionellen Kazikentum emanzipierte – Gewohnheitsrecht führt zu einem juristischen „Pluralismus“, der Verwirrung stiften kann. Gleichwohl bestätigt die Ethnologin Mariana Mora, dass etwa im Caracol Morelia nicht nur Zapatisten, sondern auch die anderen Mestizen und Indigenen sich gern an die „autonomen rechtlichen Instanzen“ an Stelle der staatlichen Gerichtsbarkeit wenden, wenn es zum Beispiel um Diebstähle, Landstreitigkeiten oder Scheidungen geht. Sie sind offenbar überzeugt, dass diese Rechtsprechung „gerechter und effizienter“ ist.

Erwartungsgemäß problematisch fällt die wirtschaftliche Bilanz aus. In den autonomen Gemeinden ist der Bezug von staatlichen Transferleistungen seit 2003 unterbunden. Doch die Kultur der Abhängigkeit setzt sich zum Teil in einem informellen Solidarsystem fort, lokal wie international. Zwar entspricht es mehr den Prioritäten und Absichten der Zapatisten, aber die grundsätzlichen Probleme bleiben bestehen: Hilfeleistungen erfolgen oft willkürlich und ziehen Verpflichtungen nach sich.

Davon abgesehen müssen die ländlichen Regionen in Chiapas nach wir vor den Preis für die Eingliederung in die nationale und globale Ökonomie bezahlen. Das beweist die in den aufständischen Gebieten sehr hohe Abwanderungsrate. In Chiapas weiß jeder Indio, Zapatist hin oder her, dass er in Cancún, in den Vereinigten Staaten oder anderswo auf dem Bau oder in einem anderen Wirtschaftszweig mehr verdienen kann als bei der Bearbeitung seines kargen Feldes. Denn sein Mais ist kaum noch etwas wert, seit das Freihandelsabkommen zwischen Mexiko und den USA der US-Agrarindustrie den Absatz ihrer – subventionierten – Überproduktion auf dem mexikanischen Markt ermöglicht.

Da der Staat Chiapas über viele natürliche Reichtümer verfügt, wird hier nach wie vor investiert, sei es in die Landwirtschaft, bei der Gewinnung von Öl und Gas, beim Bergbau oder in die Forstwirtschaft. Aber den Vorteil davon haben in allererster Linie die US-amerikanischen, kolumbianischen, spanischen oder sonstigen Kapitalgeber. Zu den empörendsten, weil am unmittelbarsten sichtbaren Formen von Plünderung gehört der Tourismus in der Region. Die „pittoresken Indio-Dörfer“, die „geheimnisvollen präkolumbianischen Ruinen“ und die „üppige, unberührte Natur“ haben diesen Teil Mexikos zu einem Traumziel für Reisende gemacht, die eine sanfte Begegnung mit fremden Kulturen vor exotischer Kulisse und „magische Bezüge zur Natur“ suchen. Nutznießer dieses Zustroms sind aber nur einige wenige internationale Reiseveranstalter, die ihre ökotouristischen Pauschalangebote anzupreisen wissen – und nicht die Maya, von denen insgesamt immer noch 70 Prozent an Mangelernährung leiden.

Vor diesem Hintergrund ist der – jenseits aller Legalität erhobene – Wegezoll, den zapatistische Aufständische den Besuchern abnehmen, die täglich auf der Straße zu den Wasserfällen von Agua Azul strömen, nicht der Anfang einer ohnehin unmöglichen Tendenzwende. Hierbei handelt es sich eher um das symbolische Unterfangen, sich einen kleinen Teil dessen zurückzuholen, was schon genommen wurde.

Die Anführer der Rebellen sehen indessen die größte Gefahr für die „gesundheitlichen und wirtschaftlich ermutigenden Erfolge“ ihrer indigenen Autonomie in der Aufstandsbekämpfung der mexikanischen Behörden. Deren Strategie besteht seit einigen Jahren aus einer Kombination einzelner Maßnahmen. Da die Regierung seit 1994 weder bereit ist, den politischen Preis für einen vernichtenden Militärschlag gegen die Zapatistische Befreiungsarmee zu zahlen, noch ernsthaft mit den Aufständischen verhandeln will, hofft sie auf das Erlahmen der Widerstandskraft in der Bevölkerung. Deshalb führt sie ihren zermürbenden physischen und psychologischen Kleinkrieg gegen die indigenen Gemeinschaften.

In den aufständischen Gebieten wurden insgesamt 118 Militärposten der Bundesarmee errichtet, darunter 57 auf indigenem Gemeinbesitz. Gemeinden werden bedroht; es gibt Zwangsumsiedlungen, paramilitärische Gruppen werden unterstützt, es kommt zu Unterbrechungen in der Stromversorgung und anderen Sabotageakten. Um Unfrieden unter den indigenen Organisationen zu stiften, werden Eigentumstitel für Land vergeben, das sich in den Händen der Zapatisten befindet. In der Summe entfalten all diese Maßnahmen eine sehr destruktive Wirkung. Keine Woche vergeht ohne eine mehr oder weniger gewaltsame Auseinandersetzung. Und jede dieser Eskalationen hinterlässt tiefe Risse im sozialen Gefüge.

Nichtregierungsorganisationen, die den Rebellen nahestehen, bleiben dennoch optimistisch. Sie geben zwar zu, dass „die Zapatisten heute weniger sind als vor zehn Jahren“. Auch wenn „die EZLN selbst keine Angaben machen kann, wie hoch die Zahl ihrer Unterstützer genau ist, weil immer wieder Leute aussteigen und andere dazukommen“, ändert das nichts an der weit verbreiteten Überzeugung, dass man es bei den Zapatisten mit einer Bewegung zu tun hat, „die das System bekämpft“, die „nicht rückgängig zu machen“ und „entschlossener denn je“ ist und die „etwas Bleibendes erreicht“ hat. Die landwirtschaftlichen Kooperativen auf ökologischer Basis seien „die Lebensgrundlage der Autonomie, eng verbunden mit dem Bildungs- und dem Gesundheitssystem“.

Dennoch sind die Rebellen politisch inzwischen relativ isoliert vom Rest des Landes und dadurch verwundbarer geworden. Das bestätigt auch Subcomandante Marcos, wenn er sagt: „Der Zapatismus ist nicht mehr in Mode.“ Und in der mexikanischen Linken geben viele dem Subcomandante persönlich die Schuld daran. Abgesehen davon, dass jedes politische Medienphänomen sich irgendwann erschöpft und dass der Schwung eines gesellschaftlichen Aufbruchs irgendwann erlahmt, scheiden sich die Geister auch an den nationalen und internationalen Strategien des EZLN-Anführers – und besonders an dessen widersprüchlichen Verlautbarungen, die oft viel ätzender ausfallen, als es seine zur Schau getragene Bescheidenheit erwarten ließe.

Es gibt viele Gründe, warum sich allmählich immer mehr Intellektuelle, politische Organisationen und soziale Bewegungen vom Zapatismus losgesagt haben. Zum Bruch mit dem größten Teil des linken Spektrums kam es aber erst durch den „anderen Wahlkampf“, den Marcos 2006 am Rand des offiziellen Präsidentschaftswahlkampfs für eine linke Basis führte. Dass sich in der Erinnerung der meisten Mexikaner vor allem der Eindruck einer grundsätzlichen Politikfeindlichkeit festgesetzt hat, lag wohl an Marcos’ wiederholten Angriffen gegen den beliebten Kandidaten der Linken, Andrés Manuel López Obrador.

Aus Sicht des Zapatistenführers gab es dafür allerdings gute Gründe: López Obradors Partei der demokratischen Revolution (PRD) hatte sowohl im Bundesstaat Chiapas als auch im Kongress wiederholt die Sache der Zapatisten „verraten“. In Chiapas kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen indigenen Anhängern der PRD und zapatistischen Indigenen; 2001 stimmte die PRD im Kongress für das „Indigenengesetz“, was einer Ablehnung des Abkommens von San Andrés gleichkam; dazu kam der politische Opportunismus und die offenkundige Korruption in der Partei sowie das zwiespältige Wirtschaftsprogramm von López Obrador.

Zwangsläufig irritierten Marcos’ Ausfälle gegen ihren Präsidentschaftskandidaten eine mexikanische Linke, die sich im Wahlkampf über das nahezu gesamte Spektrum von der linken Mitte bis zum radikalen Rand entschlossen hinter den Kandidaten der PRD gestellt hatte. Die gegenseitige Abneigung wurde noch vertieft, als es darum ging, die Wahlfälschungen anzufechten, die López Obrador möglicherweise den Sieg gekostet und dem Land mit Felipe Calderón einen Präsidenten der neoliberalen Rechten beschert hatten.

Neben Arroganz und einem „politischen Zickzackkurs“ wird Marcos vorgeworfen, dass er den Zapatismus mutwillig von der mexikanischen und internationalen Politik isoliert habe und sich gegenüber anderen revolutionären Bewegungen in Lateinamerika snobistisch verhalte. Aus Eitelkeit, so heißt es, gebe er intern die politische Linie vor, behaupte aber dabei, nicht in demokratische Prozesse eingreifen zu wollen.

Marcos war klug genug, einige Fehler einzugestehen, darunter vor allem die Konzentration auf seine Person im Moment des größten Medieninteresses. Er kann sich wundern, wie sehr er in der Gunst gerade derjenigen gefallen ist, die ihn damals zum genialen Sprecher einer Rebellion indigener Bauern verklärten, die ohne ihn die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit vermutlich kaum länger als ein, zwei Tage hätte fesseln können.

So muss man auch die heutige, durchaus reale Isolation der Zapatisten im Verhältnis zu ihrer einst erstaunlichen Popularität betrachten. Offiziell glauben sie nach Marcos’ Wahlkampf von 2006, bei dem er sich an soziale, ethnische, sexuelle oder andere Randgruppen im ganzen Land wandte, immer noch an „die Möglichkeit einer landesweiten antikapitalistischen linken Bewegung“ mit basisdemokratischen Strukturen jenseits aller politischen Repräsentation, Medienaufmerksamkeit und Institutionen. Aus Anlass des 15. Jahrestags des Aufstands in Chiapas fand Anfang dieses Jahres das „Festival des gerechten Zorns“ statt. Es war zwar weniger gut besucht als die früheren „intergalaktischen Treffen“ seit 1996. Aber zum „Happening“ erschien immerhin ein illustrer Kreis lateinamerikanischer Intellektueller und Politiker, darunter auch mexikanische und internationale Vertreter von Klein- und Subsistenzbauernverbänden wie Via Campesina1 , in denen die Zapatisten natürliche Verbündete sehen.

Welche Zukunft diese Rebellion am Rande Mexikos auch immer haben wird: Sie hat den bleibenden Verdienst, dass sie gerade durch ihre starke Verwurzelung im Lokalen universellen ethischen und politischen Idealen Leben einhauchen konnte. Sie hat das politische Programm der Umverteilung mit dem der sozialen Anerkennung verknüpft. Entsprechend den wechselnden Umständen und Kräfteverhältnissen folgte auf den bewaffneten Aufstand eine friedliche Politik. „Gleich, weil anders – das wollen wir sein“, sagen die Anführer immer wieder hinter der Unkenntlichkeit ihrer Gesichtsmasken, die ihnen paradoxerweise zum Symbol ihrer Identitätsbehauptung geworden sind.

Seit 1994 kämpfen die Zapatisten „für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit“. Es wird ihnen mit Sicherheit nicht gelingen, die Verfassung und die Institutionen Mexikos zu ändern oder das Land insgesamt zu demokratisieren. Aber sie werden schon durch ihre bloße Unnachgiebigkeit die Richtung beeinflussen, die Mexikos Gesellschaft und Politik künftig nehmen werden. Das ist umso wichtiger in einem Land, das politisch blockiert und den Unbilden der globalisierten Wirtschaft schutzlos ausgeliefert ist.

Insofern ist der Zapatismus integraler Bestandteil der Indigenen-Bewegung, die in Mexiko, Bolivien und anderswo, von der Basis bis zu den Gipfeln der Macht, einen Hoffnungsschimmer bedeutet: dass der Kampf für die Anerkennung kultureller Vielfalt nicht zwingend zu identitärer Exklusivität oder einem „Kampf der Kulturen“ führen muss, sondern durchaus mit dem Eintreten für soziale Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit einhergehen kann.

Fußnote: 1 Gegründet 1993 als Verband von Bauernorganisationen in Amerika, Afrika, Asien und Europa, die sich für nachhaltige und kleinteilige Landwirtschaft einsetzen; ihm gehören unter anderem die Bewegung der Landlosen in Brasilien und die deutsche Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft an. www.viacampesina.org.

Aus dem Französischen von Herwig Engelmann

Bernard Duterme leitet das Centre tricontinental (www.cetri.be) in Louvain-la-Neuve, Belgien.

Le Monde diplomatique vom 11.12.2009, von Bernard Duterme