11.12.2009

Aufruhr in Pikaljowo

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Aufruhr in Pikaljowo

Am 15. Mai 2009 wurde das Wärmekraftwerk von Pikaljowo, einer kleinen Stadt in der Region Sankt Petersburg, wegen Überschuldung abgeschaltet. Damit hatten die 21 000 Einwohner von Pikaljowo kein warmes Wasser mehr. Am Montag darauf rief eine der örtlichen Gewerkschaften dazu auf, die Bundesstraße Wologda–Sankt-Petersburg zu blockieren. Am Dienstag standen 300 Arbeiter des Bazel-Werks, das dem Aluminium-Oligarchen Oleg Deripaska gehört, auf der A 114 und sangen die Internationale. Bald kamen Frauen und Kinder der Arbeiter aus den drei Fabriken der Stadt hinzu: Die beiden Zementwerke und ein Chemiebetrieb waren Anfang des Jahres geschlossen worden, womit 4 000 Pikaljower ihren Job verloren.1

Nach ein paar Stunden herrschte das komplette Chaos – 438 Kilometer Stau. Der Gouverneur der Region versuchte die Demonstranten zum Einlenken zu bewegen, indem er versicherte, in anderen Städten der Region gebe es genug Arbeitsplätze. Doch die Leute wichen nicht, und die Miliz griff auch nicht ein. Einige meinten, der Kinder wegen, andere verwiesen darauf, dass der Besuch von Ministerpräsident Putin schon angekündigt war, weshalb man eine Konfrontation vermeiden wollte.

Die Krise in Pikaljowo ist typisch für die Situation in den Städten, die auf russisch „Mono-Industriestädte“ (Monogorod) heißen. Das sind zumeist kleine oder mittlere Städte mit 20 000 bis 50 000 Einwohnern, aber manchmal auch große Industriestädte, in denen etwa ein Stahlkonzern der wichtigste oder auch einzige Arbeitgeber ist.

Pikaljowo entstand rund um ein Zement-Chemiewerk mit eigenem Wärmekraftwerk, das im Zuge der Privatisierung in drei Unternehmen aufgeteilt worden war. Die Finanzkrise, die Verteuerung des Schienentransports, steigende Energiekosten und das Missmanagement der drei Geschäftsführer, die sich zudem nicht untereinander abstimmten, führten dazu, dass alle drei Fabriken fast gleichzeitig Konkurs anmelden mussten. Binnen weniger Wochen machten sie Anfang 2009 dicht und hinterließen einen Riesenberg von Schulden, inklusive der nicht ausgezahlten Löhne. Das heizte die sozialen Spannungen an, aber wie so oft in Russland löste erst die Unterbrechung der Grundversorgung – hier Warmwasser – die ersten sichtbaren Proteste aus. Unmittelbar nach der Pleite hatten sich die Leute zunächst durchgewurschtelt, mit gegenseitiger Hilfe und Gelegenheitsarbeiten. Zudem haben die Leute ihre bescheidenen Gärtchen, die in solchen Kleinstädten immer wichtig sind, weil damit für den Notfall alle ihr eigenes Gemüsebeet haben.

Am Mittwoch zapfte der Gouverneur einen Spezialfonds an, um einen Teil der Gehälter auszuzahlen und die Schulden des Kraftwerks zu begleichen. Am Donnerstag kam Putin, begleitet vom Staatsfernsehen, mehreren Ministern, dem Gouverneur, dem Direktor der Eisenbahn und allen drei Geschäftsführern der Holdings, denen die Fabriken gehören. Die lokale Krise mündete in eine sorgfältig inszenierte öffentliche Lektion. Ein großartiges Spektakel nach dem Ritual des „guten Zaren und der bösen Bojaren“.2 Der Ministerpräsident eilte im Sturmschritt durch das leere Zementwerk und erklärte an die Adresse des Gouverneurs: „Niemand kann mir einreden, dass die Regionalregierung alles getan hat, um den Menschen zu helfen.“

Bei einer Sitzung mit den Hauptverantwortlichen verkündete Putin eine Reihe von Beschlüssen: Neuverhandlung der Geschäftsbeziehungen zwischen den drei Werken, Freigabe von Krediten, Senkung der Transportkosten. Am Ende erklärte der Ministerpräsident: „Ihr habt tausende Menschen zu Geiseln eurer Ambitionen, eurer mangelnden Professionalität oder eurer Gier gemacht. Wo ist die soziale Verantwortung der Wirtschaft, von der ständig geredet wird? Die Anfänge dieser Krise liegen weit vor ihrem Ausbruch. Dieser Produktionsstandort wird wieder aufgebaut. Ich gebe euch drei Monate. Wenn ihr euch nicht einigt, passiert es ohne euch.“3 Mit dem letzten Satz spielte er auf das in der Duma diskutierte Nationalisierungsgesetz an.

Internetbenutzer konnten später noch eine andere Szene besichtigen: Putin langt nach dem Text des vorgeschlagenen Abkommens und wendet sich an Deripaska, der noch die technischen Mängel in seinem Werk zu erklären versucht: „Oleg Wladimirowitsch, haben Sie das Abkommen unterschrieben? Ich sehe Ihre Unterschrift nicht, kommen Sie her und unterschreiben Sie.“ Und der Oligarch steht auf und unterschreibt unter dem zornigen Blick des Ministerpräsidenten.

Aus dieser Krise lassen sich verschiedene Lehren ziehen. Zunächst wollte die Regierung effizientes Handeln demonstrieren: „In wenigen Stunden hat Wladimir Putin das Schicksal von Pikaljowo gewendet“, titelte die Moskauer Tageszeitung Kommersant. Dann kommuniziert sie das Bild des Mannes, der die Oligarchen zur Ordnung ruft und an den Pranger stellt: weil sie ihren Reichtum zur Schau stellen wie auch wegen ihrer Rolle in der Finanzkrise – wobei die russischen Medien häufig hervorheben, dass die meisten von ihnen Juden sind. Auf den Kundgebungen sieht man Transparente mit eher harmlosen Losungen wie „Deripaska, verkauf deine Jacht“, aber auch Sprüche wie: „Für Deripaska der Fraß von Buchenwald“.4

In der regierungskritischen Nowaja Gaseta kann man noch eine andere Interpretation nachlesen: Die medienwirksame Maßregelung solle vertuschen, dass Milliarden Rubel aus dem Staatsbudget für in Not geratene Oligarchen bereitgestellt werden – ohne große Gegenleistung.

Die Episode belegt den nach wie vor beherrschenden Einfluss des Staates auf die Wirtschaft: Die Minister, und oft deren Vorgesetzter, kümmern sich um Details, in die sich bei uns der Staat niemals einmischen würde. Hier offenbart sich eine Mentalität der Macht, die immer noch an der Kontrolle der Gesamtgesellschaft festhält. Auch dies ist eine der Ursachen für die langsame Modernisierung, die Blockade kleiner und mittlerer Unternehmen und die allgemeine Korruption.

Aber diese Krise gibt auch den sozialen Bewegungen Auftrieb. Es stimmt zwar, dass der Kreml den Fall Pikaljowo instrumentalisiert hat. Die Botschaft ist jedoch vielschichtig. Neben der Kritik an den „schlechten“ Verantwortlichen in den Unternehmen und Regionen – im Gegensatz zur guten Zentralregierung, die ihre soziale Verantwortung ernst nimmt – war dies auch eine Warnung an die Politiker und an die Polizei. Putin wollte eindeutig klarstellen, wie künftig mit öffentlichem Unmut umzugehen sei: Auf gar keinen Fall dürfe man zulassen, dass solche Aktionen überhandnehmen.

In einigen Regionen haben die Behörden angesichts ähnlicher Drohungen rasch reagiert und mit einer Mischung aus Gewalt und Versprechungen versucht, größere Proteste zu vermeiden. Man hofft zwar, dass der kommende Wirtschaftsaufschwung neue Blockaden verhindern wird. Aber das Pikaljowo-Syndrom ist allen noch gegenwärtig. Und es kam auch schon zu etlichen kleineren Nachahmeraktionen.

Fußnoten: 1 Kommersant, Moskau, 3. Juni 2009. 2 Kommersant Vlast, Moskau, 8. Juni 2009. 3 Kommersant, Moskau, 5. Juni 2009. 4 Nowaja Gaseta, Moskau, 22. April 2009.

Le Monde diplomatique vom 11.12.2009