11.12.2009

Bleibende Schäden

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Bleibende Schäden

Die Überlebenden von Guantánamo von Jeremy Harding

Als Präsident Obama im Januar 2009 seinen Amtseid ablegte, hatte das Camp Delta in Guantánamo 245 Insassen; heute sind es noch rund 220. Wenn das Lager auf der US-Basis in Kuba geschlossen wird, wie es Obama vorschwebt, werden etwa 80 Gefangene entweder in ihr Heimatland zurückgeschickt oder Asyl in einem Drittland finden. 60 weitere will die US-Regierung vor Gericht stellen. Die Übrigen sollen auf unabsehbare Zeit hinter Gittern bleiben. Von ihnen können einige nicht angeklagt werden, weil die Beweise gegen sie nicht gerichtsverwertbar sind – häufig wegen zu brutaler Verhörmethoden –, die anderen gelten als zu gefährlich, um in die Freiheit entlassen zu werden.

Die meisten der noch einsitzenden Häftlinge stammen aus dem Jemen, wo al-Qaida seit einiger Zeit neue Kämpfer rekrutiert. Washington will sie daher, bis sie vor Gericht gestellt werden – oder auf unbegrenzte Zeit eingesperrt bleiben – in Hochsicherheitsgefängnisse in den USA verlegen. Doch dieser Plan, für den Haftanstalten in Michigan und Kansas und ein leer stehendes Gefängnis in Illinois im Gespräch sind, stößt auf Widerstände im Kongress. Guantánamo ist von Anfang an eine nationale Schande gewesen, jetzt wird es auch noch zum logistischen Problem.

Was also soll, wenn Obama seinen Plan durchzieht, aus den Figuren in den grell orangefarbenen Overalls werden, die bis heute in den Container-Zellen von Camp Delta leben? Eine Antwort versuchen Laurel Fletcher und Eric Stover in ihrem Buch über den „Guantánamo-Effekt“ zu geben.1 Beide Autoren sind Juristen, die an der Berkeley University lehren und speziell über Menschenrechte arbeiten. Zwischen Januar 2002 (als die ersten Gefangenen nach Guantánamo geflogen wurden) und Oktober 2008 (als Fletcher und Stover ihre Studie abschlossen) waren fast 800 Männer aus 46 Ländern in Guantánamo eingesperrt. Ihren Höchststand erreichte die Anzahl der Insassen im Sommer 2003 mit etwa 660, bis zum Sommer 2005 ging sie auf etwa 250 zurück. Die Autoren haben mit 62 der inzwischen entlassenen 550 Häftlinge ausführliche Interviews geführt. Auf der Basis dieses Materials zeichnen sie ein „umfassendes Bild vom Leben in Guantánamo und von den Auswirkungen der Haftbedingungen auf das Leben der Gefangenen und ihrer Familien.“

Darüber hinaus haben die Autoren Zeugenaussagen über die US-amerikanischen Militärbasen Bagram und Kandahar in Afghanistan zusammengetragen und mit wichtigen Informanten selbst gesprochen, also mit Verteidigern von Guantánamo-Häftlingen und Mitarbeitern von Menschenrechtsorganisationen, mit Regierungsvertretern in Washington, mit Wachpersonal in Camp Delta und einem US-Offizier in Afghanistan. Der Hauptteil ihres eindringlichen und verstörenden Buchs behandelt die Situation im Lager selbst; besonders eindrucksvoll ist aber auch das Kapitel, in dem sie das Bemühen der Häftlinge schildern, nach ihrer Guantánamo-Erfahrung wieder in eine Art Leben zurückzufinden.

Welchen Empfang können sie von den offiziellen Stellen in ihrem Heimatland erwarten? Es sind schließlich nicht ihre Freunde oder Verwandten, die sie bei ihrer Rückkehr am Flughafen in Empfang nehmen. Wie Fletcher und Stover berichten, wurden viele der 500 Männer, die nach ihrer Guantánamo-Haft zurückgeschickt wurden, sofort wieder festgenommen und verhört; etliche wurden sogar misshandelt. Einer der Befragten hat ausgesagt, dass er von Sicherheitsoffizieren gezwungen wurde, halluzinogene Drogen einzunehmen, worauf er „Schlangen unter dem Fußboden hervorkriechen“ sah. Doch das waren anscheinend die Ausnahmen; die meisten der befragten Rückkehrer waren spätestens nach drei Tagen wieder auf freiem Fuß.

Einige von ihnen wurden den Guantánamo-Makel nicht wieder los: Sie wurden als Terroristen verdächtigt – beziehungsweise als Spitzel im Dienst der USA – oder sogar innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft bedroht. Andere hingegen wurden wie Helden empfangen und ausgiebig gefeiert, wobei allerdings klar war, dass die Party nicht lange dauern würde. Denn die Gefangenschaft hat das Vermögen der Betroffenen und ihrer Familien schrumpfen lassen, auch das geht aus den Interviews von Fletcher und Stover hervor.

In diesen Untersuchungen sieht der Antiterrorkrieg wie eine einzige Aneinanderreihung von Möglichkeiten für die skrupellose Aneignung fremden Reichtums aus. Das Absahnen und Plündern ging regelmäßig auf Kosten der ehemaligen Gefangenen. „Das Ergebnis meiner Zeit in Guantánamo ist, dass ich alles verloren habe“, erzählt ein afghanischer Rückkehrer. „Ich habe meinen Besitz und meinen Job verloren. Ich habe keinen Willen mehr. Hier in Afghanistan gibt es überhaupt keine Arbeit für mich.“

Jede Nacht in einer anderen Moschee

Einer der ehemaligen Gefangenen kann sich die Medikamente nicht leisten, auf die er, wie viele andere, zur Behandlung seiner psychischen oder physischen Krankheitssymptome angewiesen ist. Ein anderer Afghanistan-Rückkehrer, der finanziell am Ende und ohne Aussicht auf Arbeit ist und dessen Familie ihn nicht auffangen will oder kann, schildert seine Lage so: „Ich habe immer eine Plastiktüte dabei, da ist alles drin, was ich habe. Und jede Nacht schlafe ich in einer anderen Moschee.“

Nur 6 der 62 Befragten berichteten, dass sie eine Vollzeitarbeit haben, 34 waren ganz ohne Arbeit. Die Mehrzahl der Männer war der Meinung, die US-Regierung sollte ihnen für ihre „widerrechtliche Gefangennahme“ eine Entschädigung anbieten. „Wenn sie irgendeinen Beweis gegen mich haben“, meinte einer, „und selbst wenn sie mir jetzt noch eine Schuld nachweisen, bin ich bereit, mich bestrafen zu lassen – wenn nicht, sollten sie mich entschädigen.“ Zu dieser Ansicht neigen auch die Autoren. Sie fordern eine neutrale Kommission, die die Situation in Guantánamo untersuchen und sich auch mit den geheimen CIA-Gefängnissen (den berüchtigten „black sites“) befassen soll. Und in jedem Einzelfall, in dem Rechte eindeutig verletzt worden sind (was für die meisten der dargestellten Fälle zutrifft), halten Fletcher und Stover eine Entschädigung für angebracht.

Das ist schon deshalb plausibel, weil der Faktor Geld in der Geschichte der einzelnen Gefangenen eine große Rolle spielt. Und das nicht nur, weil die meisten von ihnen nach ihrer Entlassung keines haben. Geld ist bei unrechtmäßiger Inhaftierung von Anfang an mit im Spiel. Es liefert auch eine Erklärung, warum hunderte von Männern, die niemals hätten festgenommen werden dürfen, überhaupt in Guantánamo gelandet sind. Dass sich die USA, wie von Vizepräsident Dick Cheney wenige Tage nach dem 11. September 2007 angekündigt, auf jenes „dunkle Feld“ begeben haben, hat einer neuen Form krimineller Praktiken Tür und Tor geöffnet. Insbesondere in Afghanistan und Pakistan wurde es zu einem lohnenden Geschäft, Menschen gegen beträchtliche Kopfgelder bei den Amerikanern abzuliefern. Die Familien der Opfer wurden anschließend von Verbrechersyndikaten ausgenommen, die ihnen gegen Honorar anboten, dass sie die Verhafteten wieder freibekämen.

Angeheizt wurde dieser lukrative Markt für verdächtige muslimische Männer durch die Kopfgeldzusagen, die im Oktober 2001 von US-Flugzeugen über Afghanistan und dem Nordwesten Pakistans abgeworfen wurden. Als Belohnung für Informationen über Taliban- oder Al-Qaida-Kämpfer versprachen diese Flugblätter „genug Geld, um deine Familie, dein Dorf und deinen Stamm für den Rest deines Lebens zu versorgen“. Mehr als ein Drittel der von Fletcher und Stover befragten Männer sagten, sie wüssten „mit Bestimmtheit, dass sie an die Vereinigten Staaten verkauft worden waren“. Zu dieser Überzeugung gelangten sie, weil sie das entweder selbst beobachtet oder von US-amerikanischen oder pakistanischen Beamten erzählt bekommen haben. Ein Mann, der in Pakistan festgenommen worden war, erzählte von den „amerikanischen Stimmen“, die an sein Ohr drangen, während er gefesselt und mit Kapuze über dem Kopf darauf wartete, in ein Flugzeug verfrachtet zu werden. Die Amerikaner hätten Geld abgezählt und zu den Pakistanern gesagt: „Ihr kriegt 5 000 Dollar für jeden, das heißt für fünf Leute 25 000 Dollar und für sieben 35 000 Dollar.“

Wer in einem afghanischen Dorf in eine lokale Fehde verwickelt war, lebte damals gefährlich. Einer der Exgefangenen meinte zum Beispiel, seine Festnahme sei „nur ein Geschäft“ gewesen: „Die Leute wurden an die US-Soldaten verkauft. Ich für meinen Teil hatte private Streitigkeiten mit Leuten in dem Ort, in dem ich damals lebte.“ Sobald ein „Verdächtiger“ bei den Kaufwilligen abgeliefert war, wurde sein Besitz geplündert oder konfisziert. Ein Afghane erzählte, er habe seine Apotheke mitsamt den Warenbeständen verloren, ein anderer behauptete, afghanische und US-Soldaten hätten 45 000 Dollar aus seinem Haus entwendet.

Wie geht es nach all den Jahren den Frauen und Kindern der damals verschleppten und verschwundenen Männer? Bei den Angehörigen der 221 afghanischen Guantánamo-Häftlinge zeigen sich allmählich Symptome seelischer und physischer Erkrankungen. Ökonomisch sind die Familien verarmt oder völlig verelendet. Ihre Kinder werden wegen der angeblichen Nähe zu „Terroristen“ – wahlweise auch zu „den Amerikanern“ – in der Schule diskriminiert, viele geben vorzeitig auf. Einigen Familien wurde ihr Land weggenommen. Um es zurückzubekommen, müssten sie die Regierungsleute bestechen, die beschlagnahmte Grundstücke zu ihren privaten Zwecken nutzen. Andere haben ihren Besitz verkauft, um den langen Kampf für die Freilassung eines in Guantánamo inhaftierten Verwandten zu finanzieren; wieder andere haben dafür ihren Job aufgegeben oder Kredite aufgenommen. Geld fließt auch an korrupte Beamte, die den Angehörigen vormachen, sie könnten etwas über den Verbleib von Gefangenen in Erfahrung bringen.

Was die Höhe der Summen angeht, die für vermeintliche Lösegelder, Beamtenbestechung oder vielversprechende Nachforschungen ausgegeben wurden, schwanken die Angaben. Einer der Interviewten, der die Ausgaben für seine eigenen Familie zusammengerechnet hat, kommt auf einen Betrag von 60 000 Dollar. Im Lauf der Zeit sind insgesamt 192 afghanische Staatsbürger aus Guantanámo in ihre Heimat zurückgekehrt. Kein Einziger von denen, die in der Studie befragt wurden, hat auch nur einen Cent von der US-Regierung bekommen und ebenso wenig von der eigenen Regierung. Einige erhielten bei ihrer Rückkehr vom Roten Kreuz ein paar Dollar Zuschuss zur Fahrt vom Flughafen nach Hause. Das waren zwischen 10 und 14 Dollar, andere bekamen nicht einmal das.

Nach allem, was dieses Buch über die Gepflogenheiten in Guantánamo, aber auch in Bagram und Kandahar zutage fördert – einschließlich Misshandlungen und sexuellen Missbrauchs –, lässt sich die Forderung nach einer Untersuchungskommission nur schwer zurückweisen. Die ersten beiden Toten gab es bereits im Dezember 2002 im Lager Bagram. Ein Interviewpartner verweist sogar auf einen möglichen dritten Fall. Für Guantánamo haben die Autoren zahlreiche Aussagen über die Isolationshaft zusammengetragen. Hier wurden die Gefangenen über längere Zeit mittels strammer Fesseln zum Liegen in schmerzhafter Körperhaltung gezwungen, und das bei sehr niedrigen Temperaturen und häufig auch noch lauter Musik und zuckenden Lichtblitzen. Andere wurden mit Ketten an der Decke aufgehängt. Wieder andere berichten, wie sie bei gefesselten Händen gegen eine Wand geschleudert oder mit Kapuze über dem Kopf eine Treppe hinuntergestoßen wurden. Hinzu kam die psychische Gewalt, die in Form von Schlafentzug (registriert auf Tabellen, die vor jedem Besuch einer Delegation des Roten Kreuzes von den Wänden entfernt wurden), systematischer Isolation sowie sexueller und religiöser Demütigungen ausgeübt wurde.

Der immer wieder vorgebrachten Schutzbehauptung, dass jede dieser physischen oder psychologischen Methoden, die den Widerstand der Gefangenen schwächen sollten, lediglich als „verschärfte“ Verhörmethoden zu betrachten seien, setzen Fletcher und Stover das entscheidende Argument entgegen: Wenn solche Techniken kombiniert und gleichzeitig oder auch nacheinander über Wochen und Monate zum Einsatz kommen, dann handelt es sich eindeutig um Folter. Sechs ihrer Interviewpartner sagten aus, sie hätten in Guantánamo einen Selbstmordversuch unternommen. Für das Jahr 2007 sind drei Selbstmorde offiziell bestätigt, bei zwei weiteren Todesfällen könnte es sich um Suizid gehandelt haben. Die Autoren gehen allein für das Jahr 2003 von 120 versuchten Selbstmorden durch Erhängen aus. Die offiziellen US-Statistiken ordnen diese Fälle unter der Rubrik „manipulative Selbstverletzung“ (manipulative self-injurious behavior) ein.

Mit großer Besorgnis registrieren Fletcher und Stover die rasante Aushöhlung der „Grundregel“, die das „Army Field Manual“ (FM) formuliert.2 Demnach sollen Angehörige der US-Army niemals irgendwelche Verhörmethoden anwenden, denen sie oder er auch US-Soldaten nicht ausgesetzt sehen will. Allerdings verweisen die Autoren darauf, dass viele der „verschärften“ Techniken, die bei den Guantánamo-Gefangenen zum Einsatz kamen, aus einem Ausbildungsprogramm namens Sere stammen (Survival, Evasion, Resistance and Escape, also: Überleben, Ausflüchte erfinden, Widerstand und Flucht). Nach diesem Programm werden US-Soldaten auf den Fall vorbereitet, dass sie gegnerischen Geheimdiensten in die Hände fallen. Im Zuge des Antiterrorkriegs wurde die Intention dieses Programm einfach umgedreht: Statt zu lernen, wie man bestimmte Verhörtechniken durchsteht, hat man diese Techniken jetzt aktiv eingeübt. Im September 2002 wurde erstmals eine Gruppe von Verhörspezialisten aus Guantánamo zu einer Konferenz über das Sere-Programm nach Fort Bragg3 geschickt; zwei Monate später flog ein Team von Sere-Ausbildern nach Guantanamo Bay, um eine Schulung für das Personal von Camp Delta durchzuführen.

Verstörend ist auch, was das Buch über das Verhalten von Ärzten berichtet. 2006 wurden auf der Jahrestagung der American Medical Association sowie der American Psychiatric Association (also der Berufsverbände der Ärzte und der Psychiater) strengere ethische Richtlinien für Mitglieder beschlossen, die für das US-Militär tätig sind. Zuvor war bekannt geworden, dass bei den umstrittenen Verhören auch Ärzte und Psychologen beteiligt waren. So hatten verhaltenswissenschaftlich ausgebildete Psychologen als Mitglieder des „Behavioral Science and Consultation Team“ die Verhörspezialisten und Wachmannschaften von Camp Delta methodisch und fachlich beraten. Und das Verhörpersonal hatte bei der Suche nach den „Schwachpunkten“ der verhörten Gefangenen auch Zugriff auf deren Gesundheitsdaten, wogegen einige Mediziner durchaus protestiert hatten. Außerdem kam es vor, dass Gefangenen Medikamente und ärztliche Behandlung vorenthalten wurden, bis sie bereit waren, mit ihren Verhörern zu „kooperieren“.

Am Schluss werfen die Autoren die Frage auf, was das Unternehmen Guantánamo den USA gebracht hat. In moralischer, sicherheitspolitischer und juristischer Hinsicht verzeichnen sie eine ernüchternde Bilanz. Denn ein Land, das mindestens drei seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen gebrochen hat (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Dritte Genfer Konvention und Antifolterkonvention der UN), kann vielleicht noch mit Gehorsam rechnen, aber Bewunderung wird es nirgends ernten.

Mehrheitlich keine Verbindung zum Terrorismus

Auch was den Kampf gegen den Terrorismus anbelangt, hat die Gefangennahme und Misshandlung mutmaßlicher Terroristen eher dürftige Resultate erbracht: Bislang wurden nur 23 „unlawful combatants“ identifiziert und angeklagt, auf 30 Gefangene kommt also nur eine Anklage. 2003 musste die CIA in einem Top-Secret-Bericht zugeben, dass ein Drittel der 600 Guantánamo-Insassen keinerlei Verbindung zum Terrorismus hatten. Womöglich war es, wie der erste Lagerkommandant, Generalmajor Michal Dunlavey, später erklärte, auch die Hälfte.4 Das FBI hält inzwischen selbst das noch für verfehlt: Einer seiner Experten erklärte gegenüber dem Nationalen Sicherheitsrat der US-Regierung, dass es sich bei „allenfalls fünfzig“ der Gefangenen lohne, sie in Haft zu behalten.

Und wie steht es um die Informationen, die man in Guantánamo und anderen „black sites“ gewonnen hat? Hier haben wir allen Grund, skeptisch zu sein. Nicht nur weil die meisten Gefangenen nichts mit al-Qaida oder deren Anhängern zu tun hatten. Es stellt sich ja auch die Frage, was ihre Aussagen wert waren. Die Verhörtechniken des Sere-Programms, denen die Guantánamo-Insassen ausgesetzt waren, stammten aus dem Koreakrieg. Mit deren Hilfe mögen die Kommunisten ihre US-Gefangenen zwar zum Sprechen gebracht haben, aber die gewonnenen Informationen waren schon damals oft unzuverlässig.

Allerdings ist fraglich, ob der Drang nach Informationen und die Verfolgung von Straftätern überhaupt das treibende Motiv war, das einen rechtsfreien Raum für angebliche oder mutmaßliche Terroristen entstehen ließ. Der Guantánamo-Effekt lässt sich plausibel vielleicht nur erklären, wenn wir ihn als eine Art Terror sehen, der al-Qaida gegenüber Gleiches mit Gleichem vergelten will.

So gesehen erscheint die Behandlung von Verdächtigen, die man willkürlich schnappt und einsperrt und misshandelt, als eine bewusste und demonstrative Strategie im Sinne der gezielten Drohung, dass es auch Unschuldige erwischen kann. Und zugleich als ein Schlag gegen die symbolische Infrastruktur des Feindes: Kleine Gemeinheiten wie die „kulturelle“ Demütigung der Gefangenen und die Entweihung des Koran sind bizarre Elemente einer Botschaft, die von den Feinden als eine lautstarke Artikulation der amerikanischen Wut gehört werden soll.

Nur 18 Monate nach dem Beginn des Feldzugs mit dem Namen „Operation Enduring Freedom“ trat mit den Bildern von Abu Ghraib das ganze Ausmaß dieses reziproken Terrors zutage. Die Öffentlichkeit reagierte schockiert, war aber auch wie gelähmt. Um Angst und Schrecken zu verbreiten, arbeiteten beide Seiten mit einer vergiftenden Symbolik. Und sie nahmen dabei Personen ins Visier, die nur entfernt mit dem Feind assoziiert waren: etwa weil sie in Gebäuden auf feindlichem Gelände arbeiteten oder dieselbe Nationalität hatten oder denselben Gott verehrten. Vielleicht hoffte die Bush-Regierung, mit dieser Strategie ließe sich ein asymmetrischer Konflikt doch ein Stück weit symmetrischer machen und damit das Gleichgewicht des Schreckens verändern, das sich am 11. September 2001 so dramatisch zuungunsten der USA verschoben hatte.

Eines ist jedenfalls klar: Bush, Cheney und Rumsfeld verfolgten mit der Genehmigung von „verschärften“ Verhörtechniken die Absicht, die Logik des „shock and awe“, die sie den US-Luftangriffen verordnet hatten, auf die Guantánamo-Zellen zu übertragen. Die Botschaft hat Alan M. Dershowitz populistisch auf den Punkt gebracht. Der prominente Anwalt und Harvard-Professor war der erste Jurist, der im Januar 2002 öffentlich die Legalisierung von Folter gegen Terroristen befürwortete, und zwar unter Verweis auf „die große Mehrheit der Amerikaner“, die von den Verhörexperten erwarte, dass sie auf „die bewährten Techniken zum Lösen der Zunge“ zurückgreifen.5 In der Bush-Regierung gab es zwischen politischen Machern, Juristen und intellektuellen Köpfen in dieser Sache keinerlei Differenzen. Auch die CIA zog mit. Offenen Widerspruch gegen die Misshandlung muslimischer Gefangener äußerten dagegen von Anfang an viele Militärs. Und einflussreiche Rechtsberater sowohl bei der US-Navy als auch im Verteidigungsministeriums leiteten die Beschwerden weiter, die sie von Mitgliedern der Streitkräfte aus Guantánamo bekommen hatten.

Auch das FBI war nicht glücklich. Wie aus einem 2008 veröffentlichen Report des Justizministeriums hervorgeht, hatte das FBI bereits 2002 seinen Mitarbeitern die Beteiligung an gemeinsamen Verhören mit „anderen Agenturen“, die mit unerlaubten Methoden arbeiten, explizit untersagt. Der Ausdruck „andere Agenturen“ meinte die CIA und eigens angeheuerte Verhörspezialisten, die das Pentagon auf Befehl von Verteidigungsminister Rumsfeld nach Guantánamo entsandt hatte. Doch all diese Einwände wurden abgeschmettert. Die Folterstrategen behielten die Oberhand.

Fletcher und Stover haben den ehemaligen Guantánamo-Insassen auch die Frage gestellt, ob sich ihre Einstellung zu den USA nach ihrer Zeit in dem Offshore-Gefängnis verändert habe. Nicht alle Gesprächspartner waren zu einer Antwort bereit, aber einige meinten, ihre Meinung sei „insgesamt gleichgeblieben“. Vielleicht sprechen so die Glücklichen, denen die schlimmsten Seiten der „black-site“-Behandlung erspart geblieben ist. Oder vorbildliche Muslime oder auch Leute, die schlicht zu verängstigt sind, um zu sagen, was sie wirklich denken. Aber vielleicht denken sie bei ihrer Antwort auch an die vielen US-Bürgerinnen und Bürger, die über das, was geschehen ist, ehrlich entsetzt sind – einschließlich der Militärs, die den Guantánamo-Effekt für einen gefährlichen und feigen Fehler halten.

Fußnoten: 1 „The Guantánamo Effect: Exposing the Consequences of US Detention and Interrogation Practices“, Berkeley/Los Angeles/London (University of California Press) 2009. 2 Die Field Manuals (FM) oder Feldhandbücher enthalten verbindliche Vorschriften unter anderem zu Organisation, Struktur und Taktik im Gefecht sowie zu Waffenkunde und -handhabung, aber auch zur Behandlung gefangener Gegner. 3 Fort Bragg in North Carolina ist der größte Militärkomplex in den USA und insbesondere Ausbildungszentrum für die US-Luftlandetruppen. 4 Dunlavey hatte sich bereits im Herbst 2002 bei den US-Stellen in Afghanistan beschwert, dass man ihm zu viele „Mickey Mouse“-Terroristen schicke; siehe Los Angeles Times, 22. Dezember 2002. 5 Seine Argumentation, die er zunächst in einem Fernsehinterview vorgetragen hatte, erschien am 22. Januar 2002 im San Francisco Chronicle unter dem Titel: „Want to torture? Get a warrant“.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Jeremy Harding ist Journalist.

© London Review of Books, für die deutsche Übersetzung Le Monde diplomatique, Berlin.

Le Monde diplomatique vom 11.12.2009, von Jeremy Harding