11.12.2009

Dann werden wir alle unsterblich

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Dann werden wir alle unsterblich

von Philippe Rivière

Ich will nicht dank meiner Filme unsterblich werden. Ich will unsterblich werden, indem ich nicht sterbe“, hat Woody Allen einmal gesagt. Die uralte Sehnsucht nach dem ewigen Leben hat seit dem vergangenen Sommer einen neuen akademischen Ort: die Singularity University (SU) im kalifornischen Silicon Valley.1 Der Name verdankt sich der Bedeutung, die „Singularität“ für die Zukunftsforscher hat. Denn das Wort bezeichnet für sie den Zeitpunkt, an dem die technische Entwicklung so schnell gehen wird, dass ein durchschnittlich intelligenter Mensch nicht mehr mitkommt.

Unter 1 200 Bewerbern waren vierzig Studierende ausgewählt worden. Sie durften an der ersten Summerschool dieser neuen Privatuni teilnehmen, deren Ziel es ist, die technischen Möglichkeiten zu nutzen, um globale Probleme zu lösen. Neun Wochen lang hörten sie Vorträge und besuchten die Workshops von Koryphäen wie Vinton Cerf (dem „Vater des Internets“), Robert Metcalfe (Erfinder des Netzwerkprotokolls Ethernet), George Smoot (Träger des Physiknobelpreises 2006), dem Astronauten Dan Barry und anderen Stars der Mathematik, Medizin und Weltraumforschung.

Basis ihrer Herangehensweise ist das sogenannte Moore’sche Gesetz. Auf George Moore, den Mitbegründer des Mikroprozessorherstellers Intel, geht die These zurück, dass sich die Anzahl der Transistoren, die auf einem Computerchip Platz haben, bei gleichbleibenden Kosten alle zwei Jahre verdoppelt. Dieses Phänomen gelte, wie die Veranstalter der SU betonen, allerdings nicht nur für die Elektronik, sondern für sämtliche Gebiete der Wissenschaft. Sie alle unterlägen derselben, parallel stattfindenden Beschleunigung, und jeder einzelne Bereich beflügle wiederum alle anderen.2 Der technische Fortschritt verlaufe exponentiell: Um das festzustellen, brauche man nur die Geschichte der Sprache oder der Mechanik grafisch darzustellen oder die großen Phasen der biologischen Evolution nachzuzeichnen.

An der Spitze dieser Denkrichtung steht der Futurologe, Erfinder und SU-Mitgründer Ray Kurzweil. In seinen Augen versteht sich von selbst, welche Schlussfolgerung aus der beschleunigten Beschleunigung zu ziehen ist: Im Lauf der nächsten hundert Jahre wird es nicht um eine „allmähliche technische Weiterentwicklung“ gehen, sondern um Veränderungen, die, „nach dem gegenwärtigen Entwicklungstempo kalkuliert, zwanzigtausend Jahren Fortschritt“ entsprechen. Aus dieser anhaltenden Beschleunigung werden Computer hervorgehen, „die bis zum Ende der 2020er-Jahre in der Lage sind, den Turing-Test zu bestehen, und damit eine von der menschlichen nicht unterscheidbare Intelligenz aufweisen.3 Von da an werden also „wir Menschen noch sehr viel intelligenter sein können, wenn wir mit der von uns geschaffenen Technologie fusionieren“.

Aus dieser transhumanistischen Perspektive verheißt uns die Zukunft ein Füllhorn ungeahnter Fähigkeiten, die ihrerseits wiederum eine technologische Beschleunigung nach sich ziehen, bis eben der besagte Punkt der Singularität erreicht ist. Mit ihr werde die Welt in eine von ihren biologischen Ursprüngen und dem menschlichen Gehirn „losgelöste Intelligenz eintauchen, und darüber hinaus werden dann auch Materie und Energie von einem Intelligenznebel durchdrungen sein“.

Danach wird nichts mehr so sein, wie es war. Einer der Päpste der Singularität, der Mathematiker und Science-Fiction-Autor Vernor Vinge, formulierte es so: „Wir werden in eine Welt eintreten, die von unserer menschlichen Vergangenheit so verschieden ist wie wir Menschen von den Tieren.“4

„Wahnsinn? Vielleicht“, bemerkt Jean-Louis de Montesquiou dazu im Blog des französischen Büchermagazins Books. Aber viele, die dem weisen Computerpionier einmal begegnet sind, hätten sich dann doch schnell überzeugen lassen. „Vor allem diejenigen, die ihn wie ich virtuell erlebt haben: Denn Ray Kurzweil liebt es, mittels ‚Teleportation‘ an Konferenzen teilzunehmen, wo man dann sein täuschend echt aussehendes Hologramm durch einen Saal in Singapur spazieren und gestikulierend Fragen beantworten sieht, während sein Körper sich nach wie vor in Kalifornien aufhält. Eine Zukunftsvision, die noch dazu so positiv ist und auf so beeindruckende Weise vorgetragen wird, bekommt so eine große Glaubwürdigkeit.“5

Der Transhumanismus, um den unterschiedliche, mehr oder weniger abstruse Internetseiten herumschwirren, schafft es seit zwanzig Jahren, seine extremsten Strömungen miteinander in Einklang zu bringen. Die Extropianer beispielsweise verfolgen das Ziel, durch ständige Informationsmehrung die Entropie (die unvermeidliche Neigung aller organisierten Materie zu größerer Unordnung) zu bekämpfen und auf diese Weise den Menschen zu verbessern, während die „normalen“ Geeks ihre Begeisterung für technische Geräte und tollkühne wissenschaftliche Theorien ausleben. „Die transhumanistische Bewegung hat sich inzwischen zu einer regelrechten Lobby entwickelt“, triumphiert der Soziologe James Hughes, der das Institute for Ethics and Emerging Technologies in Hartford, Connecticut, leitet.6 Futurismus hat Hochkonjunktur: Gegenwärtig werden vier Dokumentarfilme über das Thema gedreht.

Mit Nano-Nahrung aus Dreck und Algen

Um sich in den Geisteszustand zu versetzen, der zu den Studierenden an der Singularity University passt – was nicht heißt, sich den „extropianischen Prinzipien“ zu verschreiben –, genügt ein kleiner rhetorischer Trick. Man braucht es gar nicht so zu machen wie die Vereinten Nationen und im Ton der Anklage zu fordern, dass bis 2015 die Anzahl der Menschen, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben, halbiert werden müsse (Punkt eins auf der berühmten Liste der UN-Millenniumsziele). Vielmehr empfiehlt es sich, die Seminarteilnehmer am ersten Tag mit der folgenden Aufgabenstellung einzustimmen: „Sie müssen eine Milliarde Menschen auf dem Planeten satt bekommen. Wie stellen Sie das an?“ Richtig! Ein positiver, konstruktiver, pragmatischer Gedanke. Denken wir also nach: Was ist Nahrung anderes als organische Materie, die in einer für den Verdauungsapparat verwertbaren Form dargeboten wird? Wir brauchen also nur eine Maschine zu erfinden, die mithilfe von Nanorobotern aus Dreck oder Algen Nahrung herstellt. Problem erledigt, nächste Frage!

Nach Ansicht von Peter Diamandis, dem Gründer der SU, ist die Technologie der Zukunft imstande, nicht nur den Hunger zu besiegen, sondern langfristig sämtliche Übel der Menschheit zu beseitigen.7 Dies ist das Credo vieler, die im Schmelztiegel des Silicon Valley leben und arbeiten und zukunftsweisende Unternehmen oder Forschungsinstitute leiten.

Die Älteren unter ihnen – die Generation Babyboomer ist inzwischen um die fünfzig – stehen insofern unter Zeitdruck, als sie ja körperlich durchhalten müssen, bis die Menschheit so weit ist, dass sie „Nanobots“ herstellt, die in den Körper eingeschleust werden und den Zelltod verhindern. Das erklärt auch, weshalb gerade sie größten Wert auf ihre Ernährung und ihre körperliche Verfassung legen: Ray Kurzweil bekennt in seinem Buch, dass er täglich 250 Tabletten an Nahrungsergänzungsmitteln schluckt und sich ein halbes Dutzend Injektionen pro Woche verabreichen lässt. Auf der Agenda der SU steht die Verlängerung des Lebens an prominenter Stelle: Ein Vortrag über „Das Ende des Alterns“ befasst sich mit der „biologischen Unsterblichkeit“.

Bei einem Workshop im IBM-Forschungszentrum in Almaden bei San José diskutieren die Studenten über verschiedene Möglichkeiten, die Energiekrise zu lösen: Zerstörung von Bergen, um aus der Materie Energie zu gewinnen, Konstruktion von nanotechnologischen Solarzellen im Weltall oder, prosaischer, die Einrichtung eines Systems, mit dem die Energieversorger in Zeiten erhöhten Strombedarfs per Fernsteuerung die Klimaanlagen in Unternehmen abschalten können.

Sie besuchen Fabriken, in denen Algen und Bakterien herangezüchtet werden, die Biokerosin produzieren. Sie frühstücken mit Risikokapitalgebern. Sie spielen, als Tester noch vor der Markteinführung, mit der neuen Generation programmierbarer Legosteine. Aber einen Tag lang denken sie auch über Worst-Case-Szenarien nach: Die intelligenten Roboter beschließen, die Menschheit auszurotten; ein Bioexperiment gerät außer Kontrolle und die entwichenen Organismen erobern den Planeten …

So unausgegoren und verschwommen die vielfältigen Ideen, die bei diesen Zusammenkünften ausgebrütet werden, auch sein mögen, spannend sind sie fast immer. Teils geht es um alltägliche Belanglosigkeiten, teils um die wesentlichen Fragen der Menschheit. Aber angesichts der Aufgaben und der zukünftigen Lösungsmöglichkeiten ist es nicht ganz unwahrscheinlich, dass sich am Ende auch dieser Hightech-Elite – und das sind andere Leute als die Weltwirtschaftsstrategen in Davos – der Kopf zu drehen beginnt. Was sie eint, ist das Bewusstsein, an der Spitze aller Technologien zu stehen. Kein Postulat ist für sie wichtiger. Der britische Ingenieur Simon Daniel, der an der SU 2009 teilgenommen hat, berichtete darüber in einer Artikelserie in der Financial Times. Er schrieb: „Ein unausgesprochenes Thema dieses Seminars lautet, dass alles möglich ist: Wenn man es denken kann, dann kann es ein Geldgeber finanzieren, und die technologische Beschleunigung sorgt dafür, dass es womöglich viel schneller umsetzbar wird, als man heute meinen würde.“

Vielleicht müsste man noch hundert Jahre auf der Welt sein, um zu erleben, wie dieses Programm für Visionäre und Fantasten Realität wird. Aber seine Teilnehmer sind nicht nur sanfte Träumer, die eine Überdosis Science-Fiction abbekommen haben. Die erste Summerschool der Singularity University fand auf dem Gelände der Nasa statt. Einer ihrer Schutzengel ist Larry Page, der sich vor elf Jahren zum Ziel gesetzt hat, „die weltweite Information zu organisieren“. Herausgekommen ist dabei – beachtlich genug – Google.

Fußnoten: 1 Die „Singularity University. Preparing Humanity for Accelerating Technical Change“ (www.singularity.org) wird unter anderem von Google und der Nasa gesponsert. 2 Siehe Mateo Cueva, „Bastler auf engstem Raum“, Le Monde diplomatique, Oktober 2009. 3 Zitate von Ray Kurzweil aus: „The Singularity is Near“, 2005. Dieses Buch ist bislang nicht auf Deutsch erschienen; es ist aber eine Aktualisierung von „The Age of Spiritual Machines“, auf Deutsch: „Homo S@apiens. Leben im 21. Jahrhundert. Was bleibt vom Menschen?“, München (Econ) 1999. 4 Vernor Vinge, „What is The Singularity?“, Vortrag vor der Nasa im März 1993; http://mindstalk.net/vinge/vinge-sing.html. 5 Jean-Louis de Montesquiou, „Ray Kurzweil: serons-nous tous bientôt immortels?“, 27. Oktober 2009, www.booksmag.fr/opinions/b/ray-kurzweil-serons-nous-tous-bientot-immortels.html. 6 Elena Sender, „Vivre 1 000 ans, le transhumanisme y croit“, in: Sciences et avenir, Paris, Juni 2006. 7 Siehe die Reportage von David Gelles, „A crash course in emerging technologies“, Financial Times, London, 24. April 2009.

Aus dem Französischen von Barbara Schaden

Le Monde diplomatique vom 11.12.2009, von Philippe Rivière