08.03.2013

China und Russland

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China und Russland

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Als im vergangenen Sommer zum Nationalfest Naadam im ganzen Land die Flaggen wehten, tauchte in einigen Presseberichten plötzlich die Meldung auf, sie seien in China genäht worden, was ja wohl eine „Beleidigung der Nation“ sei. Die Behauptung erzielte sofort die beabsichtigte Wirkung. Die Leute waren empört. Diese Anekdote beleuchtet gleich beide Aspekte der problematischen Beziehung zwischen der Mongolei und China: die wirtschaftliche Abhängigkeit der Mongolei vom Reich der Mitte und das tiefe Misstrauen der Mongolen gegenüber dem mächtigen Nachbarn.

70 Prozent der mongolischen Exporte gehen nach China, vor allem Rohstoffe wie Kohle. Außerdem arbeiten viele Chinesen in den mongolischen Bergwerken – in der riesigen Kupfermine von Oyu Tolgoi, die der angloaustralische Konzern Rio Tinto betreibt, sind es allein 6 000, das sind 40 Prozent des Personals.

Anfang der 1990er Jahre tauchte in Europa eine in Taiwan hergestellte Weltkarte auf, auf der die Mongolei als chinesischen Provinz dargestellt ist. Für viele Mongolen war der Fall klar: China habe die Unabhängigkeit der Mongolei niemals wirklich akzeptiert und würde mit allen Mitteln die Vernichtung der Mongolen anstreben, indem es etwa vergiftete Lebensmittel in Umlauf bringe, chinesische Männer mit mongolischen Frauen verkuppeln oder heimlich Tunnel graben würde, um sich die Bodenschätze anzueignen.1

Diese fantastischen Geschichten basieren weniger auf einem angeblich tradierten Misstrauen, das bis zu den Feldzügen des Dschingis Khan zurückreicht, als vielmehr auf der Rivalität zwischen Peking und Moskau, die 1962 zum Bruch führte. Die Mongolei gehörte damals zum Moskauer Lager.

Dschingis Khan und andere mongolische Führer hatten sich zwar seit dem 13. Jahrhundert des gesamten chinesischen Kaiserreichs oder Teilen desselben bemächtigt – daher der Bau der Großen Mauer –, aber die Chinesen haben tatsächlich niemals die Mongolei angegriffen. Die Eroberung durch die Mandschuren (1644–1911) gilt jedoch als koloniales Trauma, auch wenn diese den Mongolen ursprünglich kulturell und sprachlich nahestanden – bevor sie dann in der Tat von den Han-Chinesen assimiliert wurden.

Heute geht es in der mongolischen Politik im Wesentlichen darum, potenzielle Übergriffe Chinas bereits im Vorfeld abzuwehren. Im Frühjahr 2012 wurde ein Gesetz verabschiedet, um ausländische Investitionen in drei Bereichen, darunter auch der Rohstoffsektor, neu zu regeln. Alles deutet darauf hin, dass das Parlament dabei vor allem die chinesischen Staatsbetriebe im Auge hatte, die einige Lagerstätten in der Mongolei erschließen wollten.

Außerdem beschloss man, die neue Eisenbahnstrecke aus den Bergbauregionen im Süden nicht in Richtung des näher gelegenen China, sondern Richtung Russland auszubauen. In Ulan-Bator hat man die vorübergehende Blockade des mongolisch-chinesischen Grenzübergangs Erlian noch gut in Erinnerung, mit der die chinesische Führung 2002 auf den Besuch des Dalai Lama in der Mongolei reagiert hatte.

Darüber hinaus versucht der einstige Satellitenstaat Moskaus seine beiden einzigen Nachbarländer China und Russland durch eine Strategie des „dritten Nachbarn“ in Schach zu halten. Ulan-Bator knüpft Beziehungen zu den USA, Europa oder Südkorea und vertraut die bedeutendsten Minen, die an der chinesischen Grenze liegen, großen Betreiberunternehmen aus dem Westen an. Régis Genté

Fußnote: 1 Siehe Franck Billé, Grégory Delaplace und Caroline Humphrey, „Frontier Encounters: Knowledge and Practice at the Russian, Chinese and Mongolian Border“, Cambridge (Open Book Publishers) 2012.

Le Monde diplomatique vom 08.03.2013, von Régis Genté