08.03.2013

Das slowenische Modell

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Das slowenische Modell

von Jean-Arnault Dérens

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Zu Zehntausenden gingen die Menschen auf die Straße – in Ljubljana und in allen anderen Städten des Landes. Slowenien erlebte in diesem Winter Demonstrationen von nie gekanntem Ausmaß. Dabei gilt die kleine Republik mit ihren 2 Millionen Staatsbürgern eigentlich als besonders gemäßigt, als Ort der Ruhe und der hohen Lebensqualität.

Aber die Sparmaßnahmen der konservativen Regierung unter Ministerpräsident Janez Jansa stießen auf Widerstand. Die Kundgebungen der immer noch mächtigen Gewerkschaften zogen viele an, die jetzt genug haben von der Korruption der politischen Klasse. In den Reihen der Protestierenden konnte man auch viele unfreundliche Kommentare zur Europäischen Union hören, der Slowenien seit 2004 angehört. Und auf keiner Demonstration fehlte die Fahne der alten Bundesrepublik Jugoslawien, aus der sich Slowenien 1991 verabschiedet hatte.

Politisch steht es nicht gut um Slowenien. Ministerpräsident Janez Jansa wurde Ende Februar durch ein Misstrauensvotum im Parlament abgesetzt, und eine neue Regierung ist noch nicht gebildet. Aber ist es um die Wirtschaft tatsächlich so schlecht bestellt, wie Jansa immer behauptete?

Seit mehr als einem Jahr jagte eine Katastrophenmeldung der Regierung die andere: Slowenien stehe kurz vor dem Bankrott, der Bankensektor sei durch ein gewaltiges Defizit gelähmt, die Staatsfinanzen seien tief im Minus. An den Wirtschaftsdaten lässt sich das allerdings nicht ablesen: „Sloweniens Staatsverschuldung bleibt unter 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP)“, stellt der Ökonom Dusan Kovac von der Universität Ljubljana fest. „Der Durchschnitt in den Ländern der Eurozone liegt bei 87 Prozent. Nur 8 Prozent der Erwerbsbevölkerung sind arbeitslos, und die Inflationsrate beträgt weniger als 3 Prozent. Lediglich das Haushaltsdefizit ist nach oben gegangen, auf 6 Prozent des BIPs. Damit dürften wir uns in Europa auf einem eher guten Platz im Mittelfeld befinden.“

Kovac ist überzeugt, dass die Krise nur als Vorwand dient, um das slowenische Sozialmodell infrage zu stellen. „Nach der Aufnahme in die Europäische Union galt Slowenien wegen seiner politischen Stabilität und seiner dynamischen Wirtschaft als Vorbild.“ Aus den Kriegen, die den Zerfall des alten Jugoslawiens begleiteten1 , konnte sich die kleine Republik heraushalten. 2008 übernahm Slowenien als erstes der neuen Mitgliedsländer die EU-Ratspräsidentschaft.

Zu den Besten zu zählen, ist den Slowenen nicht fremd, man sagt ihnen nicht nur Lebensart, sondern auch Verlässlichkeit nach. Schon im alten Jugoslawien galt ihr Land als Vorbild für die anderen Bundesrepubliken. Die blickten bisweilen mit Neid auf das kleine, reiche Slowenien, das seine Nähe zu Österreich und Italien nutzen konnte und konsequent auf seine verarbeitende Industrie und die Öffnung für den internationalen Markt setzte.

Bei den Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union konnte Ljubljana eine Reihe von Sonderregelungen durchsetzen. So wurden etwa bestimmte Schlüsselbranchen seiner Wirtschaft nicht vollständig für den Wettbewerb geöffnet: Slowenien ist heute das einzige Land in Zentral- und Westeuropa, das noch weitgehende Kontrolle über seinen Bankensektor besitzt, der von den beiden Branchenriesen Nova Ljubljanska Banka (NLB) und Nova Kreditna Banka Maribor (NKBM) dominiert wird. Es war allerdings weniger die Abneigung gegen wirtschaftsliberale Grundsätze, die so heftige Abwehr bei der politischen Führung hervorrief, als vielmehr die für das Land typische Aversion gegen Einmischungen von außen.

„Bei der Debatte über das Recht von Ausländern, in Slowenien Grundeigentum zu erwerben, spielten sich im Parlament wahre Psychodramen ab“, erinnert sich der Journalist Stefano Lusa, der zur italienischen Minderheit im Land gehört. „Für einige Abgeordnete ging es um nicht weniger, als den Ausverkauf der heiligen Erde des Vaterlands zu verhindern.“ Die großen Nachbarn Österreich und Italien, wo bedeutende slowenische Minderheiten leben, beäugen das kleine Land im Übrigen mit einem gewissen Misstrauen: Man befürchtet die Wiederbelebung alter Gebietsansprüche.2 Auch zu Kroatien sind die Beziehungen kompliziert. Jahrelang haben sich die beiden Länder um den Verlauf der Seegrenze in der Bucht von Piran gestritten, wo die Hoheitsgewässer vor der 37 Kilometer langen slowenischen Adriaküste vollständig von italienischen und kroatischen Hoheitsgewässern umschlossen sind.3

Aufbruch in Maribor

„Trotz des Drucks aus Brüssel hat es unser Land geschafft, weiterhin eine Menge staatlicher Leistungen zu bieten“, meint Dusan Kovac. Tatsächlich verfügt Slowenien über ein Gesundheitssystem, das zu den besten der Welt gehört. Schule und Studium sind kostenfrei. Dieses „slowenische Modell“ stellte die Regierung Jansa mit ihren drastischen Sparplänen infrage – die Krise war dabei der Vorwand, eine „Schocktherapie“ anzuwenden, wie sie bereits einige andere Länder erleben mussten.

Nachdem die Immobilienblase geplatzt war, musste sich die Regierung allerdings Sorgen um die Banken machen, die den Bauboom in den 2000er Jahren, als das Land eine einzige Baustelle war, massiv finanziert hatten. Deswegen plante die Jansa-Regierung die Einrichtung einer „Bad Bank“ mit einem Volumen von 4 Milliarden Euro. Die sollte die faulen Kredite der wichtigsten Banken übernehmen, bei denen der Staat noch Hauptaktionär ist. Insgesamt allerdings sollen Hilfen in Höhe von etwa 6,5 Milliarden Euro nötig sein, das entspricht 18 Prozent des slowenischen Bruttoinlandsprodukts. Opposition und Gewerkschaften stellten sich gegen diesen von Finanzminister Sustersic initiierten Plan, da sie ihn als Auftakt zur Privatisierung des Bankensektors betrachten.

Der Rücktritt Sustersic’ am 23. Januar 2013 leitete das Ende der konservativen Regierung von Janez Jansa ein. Neben Jansas Slowenischer Demokratischer Partei (SDS) umfasste sie die Bürgerliste (Drzavljanska lista) des Wirtschaftsliberalen Gregor Virant, die Slowenische Volkspartei (SLS), die Demokratische Pensionistenpartei (DeSUS) und die Ultrakonservativen der NSi (Neues Slowenien – Christliche Volkspartei). Drei der fünf Parteien hatten bis Ende Februar die Regierungskoalition bereits verlassen. Am Ende konnte Jansa neben seiner eigenen Partei SDS nur noch auf die NSi zählen.

Bei den Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011 war überraschenderweise die erst Wochen zuvor gegründete Partei Positives Slowenien (PS) des Bürgermeisters von Ljubljana, Zoran Jankovic, stärkste Kraft geworden. Um eine Mehrheitsfraktion bilden zu können, mussten die Parteien der slowenischen Rechten also ihre Meinungsverschiedenheiten überwinden. Jankovic, in Serbien geboren, aber seit der Unabhängigkeit slowenischer Staatsbürger, ist kein klassischer Politiker.

Lange Zeit war er Chef des slowenischen, auf dem ganzen Balkan aktiven Großhandelsgiganten Mercator. 2006 war er unerwartet zum Bürgermeister von Ljubljana gewählt worden. Mehrfach hat er sich durch mutige Stellungnahmen ausgezeichnet, so zum Beispiel zugunsten der Roma-Gemeinschaft, die unter dem ausgeprägten Rassismus in der slowenischen Gesellschaft leidet. Trotzdem kann man ihn nicht den Linken zuordnen. „Er ist ein Oligarch, der beschlossen hat, in die Politik zu gehen, um seine Interessen zu vertreten“, erklärt Grega Repovz, Chefredakteur der Wochenzeitung Mladina.

Die Gründung von Positives Slowenien soll auch durch einige slowenische Linke gefördert worden sein, vor allem von Milan Kucan, schon in Jugoslawien ein führender Politiker und erster Staatspräsident Sloweniens nach der Unabhängigkeit. Das behaupten zumindest die Anhänger Jansas, der lange Zeit versucht hat, sich als Gegner des überkommenen jugoslawischen „Systems“ darzustellen, das Slowenien angeblich immer noch kontrolliere. Dieses System stütze sich vor allem auf die Direktoren der früheren Staatsunternehmen, den traditionellen Unterstützern der Mitte-links-Regierungen, die das Land von der Unabhängigkeit bis 2004 führten. Diese slowenischen Oligarchen haben sehr von den Privatisierungen profitiert, die zum größten Teil erst nach dem EU-Beitritt erfolgten.

Dass die Regierung Jansa seit Anfang des Jahres bröckelte, lag vor allem an einem Bericht der Kommission zur Korruptionsbekämpfung, der enthüllte, dass sowohl Jansa als auch Jankovic jahrelang ihr Einkommen nicht versteuert hatten. Zudem soll Jansa für seine Unterstützung beim Kauf finnischer Panzer durch die slowenische Armee Provisionen erhalten haben.4 Seit Monaten zieht sich der Prozess um diese Affäre hin, ohne dass der Beschuldigte auch nur einmal in Ljubljana vor Gericht erschienen wäre. Wegen der Anschuldigungen gegen Jansa hatten auch Außenminister Karl Erjavec und Gesundheitsminister Tomaz Gantar (beide DeSUS) am 22. Februar die Regierung verlassen.

Jankovic hatte im Januar seinerseits die Konsequenzen aus den Anschuldigungen gegen ihn gezogen und den PS-Vorsitz an seine Parteifreundin Alenka Bratusek abgegeben. Seit dem 27. Februar ist Bratusek, die bei den Wahlen 2011 erstmals ins Parlament eingezogen war, nun Sloweniens neue Ministerpräsidentin. Zuvor hatte die PS ein Misstrauensvotum gegen Jansa beantragt, bei dem 55 der 90 Abgeordneten für seine Absetzung stimmten. Bis zur Bildung einer neuen Regierung bleibt er jedoch geschäftsführend im Amt.

Bereits Jansas erste Regierung zwischen 2004 und 2008 hatte damit begonnen, den Sozialstaat zu demontieren, und damit heftige Reaktionen der Gewerkschaften ausgelöst. „Diesmal wollte er sich mit Brachialgewalt durchsetzen, obwohl er einen Korruptionsprozess am Hals hat“, schimpft der Politikwissenschaftler Darko Strajn. Der Aufstand der Bürger gegen die Korruption, der das Land seit letztem Herbst erschüttert und mit der Mobilisierung der Gewerkschaften zusammenfällt, machte ihm jedoch einen Strich durch die Rechnung.

Angefangen hatte es in Maribor, der zweitgrößten Stadt Sloweniens,5 als Bürgermeister Franc Kangler Radargeräte aufstellen ließ und eine private Firma mit dem Einzug der Geldstrafen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung beauftragte. Dieser triviale Anlass wurde zum Auslöser für eine Bewegung, die am 6. Dezember 2012 den Rücktritt des ungeliebten Bürgermeisters erzwang und die sich rasch über das ganze Land ausbreitete. Nun traf es auch Ministerpräsident Jansa, der bis vor Kurzem behauptet hatte, vorgezogene Neuwahlen „würden dem Ansehen Sloweniens schaden“.

„Die Slowenen sind an ein gutes Leben gewöhnt. Zum ersten Mal seit 1945 haben die Leute Angst. Sie sagen sich, dass sich ihre Lebensverhältnisse verschlechtern und ihre Kinder weniger gut leben werden als sie selbst“, sagt der Journalist Stefano Lusa. „Jansa benutzte diese Angst, um sein Gesellschaftsmodell durchzusetzen. Sein Hauptargument war die Drohung, Slowenien könnte seine Souveränität verlieren und unter fremde Aufsicht gestellt werden, wie Griechenland.“

Ob eine neue Regierung unter der Ministerpräsidentin Bratusek die Austeritätspolitik Jansas fortsetzen wird, ist fraglich. Am Tag ihrer Wahl kritisierte Bratusek zumindest die Ausgabenkürzungen und kündigte an, die „eklatantesten Fehler“6 ihres Vorgängers korrigieren zu wollen.

Fußnoten: 1 Slowenien erlebte nur den „10-Tage-Krieg“ vom 27. Juni bis zum 7. Juli 1991, in dem sich die slowenische Territorialverteidigung der jugoslawischen Armee entgegenstellte. 2 In Italien lebt die slowenische Minderheit vorwiegend im Friaul und in der Gegend um Triest, zwei Gebieten, die zwischen Jugoslawien und Italien lange umstritten waren; in Österreich lebt sie in Kärnten, der Hochburg der extremen Rechten. 3 Slowenien geht es vor allem um den freien Zugang zu internationalen Gewässern. Im September 2009 wurde in einem bilateralen Abkommen die Einsetzung einer Schiedskommission vereinbart. 4 Die Affäre wurde 2008 durch Recherchen des finnischen Fernsehens bekannt. Die Firma Patira soll 21 Millionen Euro an verschiedene einflussreiche Personen in Slowenien gezahlt haben, um einen Auftrag für 135 Patria-AMV-Radpanzer zu erhalten. 5 Siehe auch Boris Cizej, „Brief aus Maribor“, Le Monde diplomatique, Februar 2013. 6 Siehe „Misstrauenvotum gegen den Ministerpräsidenten Jansa“, Neue Zürcher Zeitung, 28. Februar 2013. Aus dem Französischen von Edgar Peinelt und Claudia Steinitz Jean-Arnault Dérens ist Chefredakteur der Website Le Courrier des Balkans sowie Autor unter anderem von: „Voyage au pays des Gorani“ (mit Laurent Geslin), Paris (Cartouche) 2010.

Le Monde diplomatique vom 08.03.2013, von Jean-Arnault Dérens