08.03.2013

Irak – zehn Jahre später

zurück

Irak – zehn Jahre später

von Peter Harling

Audio: Artikel vorlesen lassen

Nach Jahren schrecklicher Gewalt, die einige hunderttausend Menschen das Leben gekostet und fast jeder irakischen Familie eine Tragödie gebracht hat, richtet sich das Land in einer neuen Normalität ein. Doch eine klare Entwicklungsrichtung oder konkrete Zukunftshoffnungen sind nirgends zu sehen. „Wie soll man die Geschichte der letzten zehn Jahre erzählen?“, fragt sich ein irakischer Schriftsteller, der genau das versucht. „Das Problem ist nicht der Anfang, sondern das Ende. Um die Geschichte des algerischen Befreiungskriegs zu erzählen, musste man warten, bis der Krieg vorbei war. Hier im Irak stecken wir noch mittendrin in einer Kette von Ereignissen, deren Ende nicht abzusehen ist.“ Selbst die Struktur des Buchs, an dem er schreibt und in dem jedes Kapitel die Geschehnisse eines bestimmten Jahres behandelt, macht ihn abhängig von einem politischen System, das weder stabil noch berechenbar ist.

Ein Jahrzehnt nach der US-Invasion, die das Herrschaftssystem von Saddam Hussein beendet hat, steckt der Irak immer noch in der Krise. Aber um das zu verstehen, sollte man nicht nach Bagdad fahren. Mörderische Attentate, ohne die der Irak in der internationalen Presse gar nicht mehr vorkommen würde, werden sehr viel seltener verübt – verglichen mit den Jahren, als die Kämpfer gegen die Besatzung und die konfessionellen Milizen serienweise Autobomben und andere Sprengsätze zündeten oder ihre Selbstmordattentäter losschickten.1

Selbst der Straßenverkehr in Bagdad, der durch unzählige Checkpoints und Betonbarrieren zum albtraumhaften Hindernisrennen wird, beginnt flüssiger zu werden. Viele Hauptstadtbewohner, die vor der Gewalt in die Kurdengebiete im Norden oder ins Ausland geflüchtet waren, sind nach Bagdad zurückgekehrt. Und die „Kollaborateure“ der USA gelten wieder als ganz normale Bürger.

Aber das Leben ist teuer geworden. Was die neue Schicht der Ölprofiteure allerdings nicht daran hindert, einem hemmungslosen Konsum zu frönen. Verglichen mit der wuseligen Geschäftigkeit der Straßenhändler tragen die Vertreter der verschiedenen Fraktionen ihre aktuellen Konflikte auf und hinter der politischen Bühne mit fast lässiger Routine aus.

Neues Mosaik der Konfessionen in Bagdad

Die Zahl der Kritiker von Ministerpräsident Nuri al-Maliki nimmt in dem Maße zu, wie dieser sich als starker Mann des Irak aufspielt. Den Konflikt mit der kurdischen Führung um die Verteilung der Öleinnahmen und die Aufteilung der „umstrittenen Gebiete“2 nutzte al-Maliki dazu aus, seinen Rückhalt beim arabischen Teil der Bevölkerung zu stärken, und zwar bei Schiiten wie bei Sunniten. Der Regierungschef behauptet, ihre Interessen zu vertreten und darüber hinaus die Einheit des Landes zu bewahren.

Zudem hat er die Bedrohung durch den Terrorismus instrumentalisiert, um seinen Finanzminister Rafi al-Issawi kaltzustellen, der als Sunnit seinen Posten aufgrund des konfessionellen Proporzes bekommen hatte. Nachdem der Regierungschef seinen Finanzminister der Kooperation mit al-Qaida verdächtigt hatte, erklärte dieser am 1. März seinen Rücktritt. Damit ist zu erwarten, dass die sunnitische Gemeinschaft ihre Demonstrationen gegen die Regierung al-Maliki noch verstärkt.

Die irakische Gesellschaft steht noch immer unter dem Eindruck der konfessionellen Gewalt, die zwischen 2006 und 2008 ihren heftigsten Ausbruch erlebte. Nur so sind die fast automatischen Selbstbehauptungsreflexe der schiitischen Gemeinschaft zu verstehen. Al-Maliki rekrutiert seinen Anhang praktisch nur noch aus dem schiitischen Bevölkerungsteil,3 wo er den Ausbau seiner persönlichen Macht zu nutzen versuchte, um den Einfluss seiner Rivalen – nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren – zu mindern. Angesichts dessen ist der Regierungschef neuerdings erstaunlich isoliert. Gegenüber den Kurden hat er ein schwaches Blatt. Unter der arabischen Bevölkerung muss er auf die konfessionelle Karte setzen, ohne sich jedoch auf alle schiitischen Gruppen verlassen zu können, die er zum Teil durch seine nationalistische Rhetorik verprellt hat. Dennoch hat al-Maliki noch ein paar Trümpfe in der Hinterhand.

Erstens kontrolliert er die staatlichen Finanzen. Zweitens können seine Gegner sich nicht auf einen Nachfolger als Regierungschef einigen. Und drittens sind sich Iraner und Amerikaner erstaunlich einig, dass die Stabilität des Landes über alles geht. Wobei man in Washington die eigene historische Malaise möglichst schnell vergessen will, während man in Teheran Angst hat, nach Syrien auch noch den Irak als Einflusssphäre zu verlieren. Zu guter Letzt kann al-Maliki auf das zynische Gesetz des Opportunismus setzen, das im politischen System des Irak alle anderen Prinzipien überlagert. Nach all den Jahren ist die Bevölkerung so müde und erschöpft, dass sie nur schwer zu mobilisieren wäre.

Dennoch ist eine erneute Konfrontation nicht ausgeschlossen. Denn die Frustration unter den Sunniten wächst, die ethnisch-konfessionelle Polarisierung spitzt sich zu, und bei den staatlichen Sicherheitskräften sind die moralischen und materiellen Defizite so groß, dass sie mangels jeglicher nationaler Legitimität für einen Einsatz zur Aufstandsbekämpfung kaum tauglich sind. Angesichts dessen ist ein Szenario des politischen Vakuums, das al-Maliki zum Rückzug zwingt, ohne dass man sich auf einen Nachfolger einigen könnte, nicht auszuschließen.

Iraks politisches System ist schwer zu klassifizieren. Die Gegner al-Malikis bezeichnen seinen Regierungsstil als autoritär. Unter ihm wurde die Exekutivgewalt so stark zentralisiert, dass es kaum verwunderlich wäre, wenn selbst einfache Visaanträge demnächst über sein Büro laufen müssten. Die Pose des vom Schicksal bestimmten, furchtlosen Mannes hat im Irak eine lange Tradition, und sie kommt bei den Leuten immer noch an. Verstöße gegen die Menschenrechte sind unter der Herrschaft al-Malikis fast ebenso alltäglich wie unter dem alten Regime.

Allerdings hat es der heutige Regierungschef mit einem politischen Pluralismus zu tun, der mittlerweile fest verwurzelt ist und jegliche diktatorischen Ambitionen illusorisch erscheinen lässt. Die Macht der Exekutive ist durch einen veritablen Parlamentarismus eingeschränkt. Vor allem aber ist al-Maliki den zwiespältigen Regeln eines politischen Spiels unterworfen, das auf einer ständigen flexiblen Neuverteilung der Ressourcen – und damit der Allianzen – in einem Klima permanenter Auseinandersetzungen beruht.

Nach Aussage des ehemaligen Vizepräsidenten Adil Abd al-Mahdi ist im Irak kein System mehr denkbar, „das von nur einer konfessionellen Gruppe, einer Partei oder einem Einzelnen beherrscht wird“. Die Sunniten hätten es versucht, und die Schiiten könnten es ebenfalls versuchen. „Aber das wird nicht funktionieren.“ Andererseits sei derzeit noch kein System denkbar, das auf einem säkularen Staatsbürgerverständnis beruht: „Pluralismus und Dezentralisierung sind in der jetzigen Situation unverzichtbar, vielleicht sogar eine föderative Struktur. Wir brauchen ein parlamentarisches System. Doch im Moment haben wir überhaupt kein bestimmtes System: Die staatlichen Institutionen funktionieren schlecht, und die Verfassung wird nicht wirklich eingehalten.“

Dieser Zustand ist eine der beiden Determinanten, an denen sich die „Erfolgsbilanz“ der USA misst. Zwischen der Invasion von 2003, die zunächst als „chirurgischer Eingriff“ ohne dauerhafte Verpflichtungen gesehen wurde, und dem beschleunigten Abzug – mit dem sich Präsident Barack Obama möglichst schnell der Altlasten seines Vorgängers entledigen wollte – beschränkte sich Washington auf ein „political engeneering“, das man bestenfalls als Flickwerk bezeichnen kann.

Man denke nur an die fatalen Anfangsfehler: Der gesamte Apparat des alten Regimes wurde kriminalisiert und aufgelöst und das politische System auf eine ethnisch-konfessionelle Grundlage gestellt. Dann wurden ausschließlich Politiker aus dem Exil gefördert, die keinen Kontakt zur Gesellschaft hatten. Die Verfassung wurde im Hinterzimmer ausgehandelt und beruhte auf einem Abkommen zwischen Kurden und Schiiten auf Kosten der Sunniten, deren Marginalisierung vollends durch die zahlreichen Wahlen besiegelt wurde.

Normale Folgen unnormaler Verhältnisse

All diese Irrtümer hätten nach und nach korrigiert werden können. Stattdessen kamen weitere Versäumnisse hinzu. Im Widerspruch zu ihren selbst gesteckten Zielen vollzogen die USA ihren militärischen Rückzug, ohne dass es eine Einigung über all die Fragen gegeben hätte, die den Irak noch lange plagen werden. Um nur die wichtigsten zu nennen: die Revision der Verfassung, der Zuschnitt der „umstrittenen Gebiete“, die Verteilung des Öls und anderer Ressourcen, die Beziehungen zwischen der Zentralregierung und den Provinzen, die Kompetenzen des Ministerpräsidenten, die institutionelle Balance der Gewaltenteilung, die Funktionsweise des Parlaments, die Struktur der Polizei- und Ordnungskräfte.

All diese Fragen müssen wieder und wieder, zwischen einer politischen Krise und der nächsten, ausgehandelt werden. Dieses unentschlossene Hin und Her haben die Verantwortlichen mittlerweile perfekt verinnerlicht, bekennt ein enger Berater al-Malikis: „All die Schwierigkeiten, die wir durchlaufen, sind normale Folgen unnormaler Verhältnisse. Diesen Übergangsprozess werden wir fortführen.“

Die zweite Determinante für die US-Bilanz ist die heikle Frage der irakischen Identität. Indem die USA der irakischen Gesellschaft ihre stereotypen und plumpen Kategorien von Baathismus, „Saddamismus“, Terrorismus, Konfessionalismus und Tribalismus aufdrückten, um auf Basis dieser Klischees das politische Gerüst des Landes zu errichten, haben sie aus dem Irak eine Parodie seiner selbst gemacht. Hier zeigt sich, obwohl die US-Invasion niemals zum Ziel hatte, den Irak im Wortsinne zu „kolonisieren“, die prägende Wirkung einer kolonialistischen Vorstellungswelt.

Gerade weil die Besatzungsmacht die Sunniten pauschal als Anhänger Saddam Husseins abstempelte und politisch marginalisierte, widersetzten diese sich den neuen Herrschern und trauerten dem alten Saddam-Regime nach, unter dem sie ebenfalls gelitten hatten. Auch bei den irakischen Schiiten unterschieden die USA simplifizierend zwischen „Guten“ und „Bösen“ und denunzierten zum Beispiel die eher proletarische Bewegung der „Sadristen“4 fälschlicherweise als Handlanger Teherans. Mit dem Ergebnis, dass die soziale Spaltung innerhalb der schiitischen Bevölkerung noch vertieft wurde. Die Kurden hingegen erschienen den USA als natürliche Verbündete. So unterstützten sie auch deren Ansprüche auf politische Autonomie und die „umstrittenen Gebiete“.

Die Iraker wurden damit partiell zu Gefangenen einer in den USA geprägten Vorstellung ihrer selbst, die auch noch den Abzug der Amerikaner überdauert. So wirken im heutigen Irak jene Figuren, die sich betont zur Schau stellen, wie Karikaturen. Die Islamisten zum Beispiel demonstrieren ihre Gruppenzugehörigkeit über die Haare – mit kurzem oder langem Kinnbart, mit oder ohne Schnurbart, kahl rasiert oder auch nicht. Die irakischen Polizisten und Soldaten dagegen haben von ihren ehemaligen US-Partnern einen fast eitel gepflegten „Look“ übernommen, allerdings in einer irakischen Variante, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass sie ihre Knieschützer nicht auf Kniehöhe, sondern um die Knöchel tragen.

In fast allen Stadtvierteln von Bagdad lässt sich an den diversen Symbolen – vom „Märtyrer“-Porträt über Fahnen bis zu Graffiti – ablesen, welcher Gruppe sich die Bewohner des jeweiligen Viertels, und das oft exklusiv, zugehörig fühlen. Ähnliches gilt leider auch für die staatlichen Institutionen. Auch hier werden die nationalen Symbole häufig von partikularistischen Emblemen in den Schatten gestellt. So sind etwa auf den meisten Kontrollposten in Bagdad neben der irakischen Flagge schiitische Banner aufgepflanzt.

Selbst die Sprache ist von einem demonstrativen Konfessionalismus geprägt. Der war zwar vor 2003 in der irakischen Gesellschaft nicht unbekannt, spielte aber im öffentlichen Diskurs keine Rolle. Heute werden die gegenseitigen Ressentiments offen ausgetragen. Mit langatmigen Reden über die nationale Brüderlichkeit ist es vorbei. Es dauert nicht lange, da lässt ein x-beliebiger Gesprächspartner die Maske fallen. Nachdem er zum Beispiel die Protestbewegung im Westirak5 als gemischte Bande von Baathisten, Al-Qaida-Kämpfern und ausländischen Agenten denunziert hat, folgt unweigerlich der Spruch: „Jede Zeit hat ihre Führer, und jetzt sind wir Schiiten an der Reihe.“

Auch die Banner und Parolen der Opposition gehorchen dieser Logik. Anfangs schworen sie noch auf das alte Regime, dann aber zunehmend auf den Dschihadismus und den Geist der konfessionellen Rache. Solche Bekundungen sind allerdings nicht so sehr Glaubensbekenntnis, sondern eher unüberlegte Provokationen. Der Effekt ist jedoch derselbe: Durch die demonstrative Zurschaustellung der Gruppenzugehörigkeit werden die gegenseitigen Wahrnehmungen bestätigt und verstärkt.

Und doch trifft man in dem von Klischees besetzten öffentlichen Raum immer wieder auf Gegenbeispiele. Da gibt es etwa eine gemischte Gruppe von kurdischen, schiitischen und sunnitischen Jugendlichen, die jeden Abend zusammensitzen und diskutieren, manchmal sogar über die Konfessionsfrage. Oder der Fotograf, der 2006 vor der Gewalt in ein rein schiitisches Viertel geflüchtet ist und der sich auch heute noch offen zu seinem Atheismus bekennt. Oder ein schiitischer Arzt, der als Gefangener einer schiitischen Miliz Fürchterliches erlebt hat, während ihn sein sunnitischer Kollege davor warnt, eine von (sunnitischen) Al-Qaida-Kämpfern kontrollierte Straße zu benutzen.

Gemischt-konfessionelle Hochzeiten kommen auch heute noch vor. Offenbar ist zuweilen die soziale Herkunft noch immer stärker als der konfessionelle Reflex. Die Kluft zwischen aufwiegelnden Sprüchen und wirklichem Leben zeigt sich etwa im Verhalten eines sunnitischen Geschäftsmanns, der zwar öffentlich zu konfessionellen und überdies gewaltsamen Protesten aufruft, sich aber hinterher nicht einmal die Mühe macht, herauszubekommen, wie die Demos ohne ihn verlaufen sind. Im Grunde interessieren sie ihn gar nicht.

Annäherungen ergeben sich häufig auch aufgrund alter Freundschaften. Etwa wenn ein schiitischer Intellektueller, der zum moderaten Islamisten und Anhänger al-Malikis geworden ist, seine alten Genossen in der Zentrale der Irakischen Kommunistischen Partei (IKP) besucht und dort wie selbstverständlich seinen Teppich zum Gebet ausrollt.

Im Grunde gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die dazu beitragen könnten, die mentalen Hindernisse zu überwinden – selbst zwischen den verbohrtesten Konfessionalisten. Aber dazu braucht es etwas mehr Zeit, mehr Ruhe, vielleicht auch Erschöpfung. Denn noch immer schwebt das Gespenst der „schwarzen Tage“ und „konfessionellen Ereignisse“ über der Stadt: die alltägliche Gewalt, die man mit rhetorischer Schönfärberei zu bannen versucht.

In Bagdad hat jeder seine eigenen Stadtplan im Kopf – mit den vertrauten, als sicher geltenden Orten und mit den unsicheren Zonen, die man nicht mehr zu betreten wagt. Die Bewohner eines inzwischen ruhigen Viertels wundern sich, dass man ihre Nachbarschaft noch immer für lebensgefährlich hält, aber zugleich projizieren sie ihre eigenen Ängste auf andere Viertel, die ebenfalls schon weitgehend befriedet sind. Dieses Klima des Argwohns herrscht nahezu im ganzen Land. So trauen sich nur wenige Politiker noch, Provinzen zu besuchen, die als gegnerisches Revier gelten. Das Misstrauen ist also längst Ressource und Instrument in einem politischen Spiel, bei dem jeder skrupellos die Angst vor „den Anderen“ mobilisiert und damit auf die konfessionellen Reflexe und das volle Repertoire einer engstirnigen Interessenpolitik setzt.

Während sie auf eine in unbestimmter Zukunft liegende Normalisierung warten, haben sich die Iraker bemerkenswert gut im Heute eingerichtet: in einer derangierten Stadt, einem politischen System aus der Retorte, einer fragmentierten Gesellschaft und einer Wirtschaft, die großenteils nach dem Beuteprinzip funktioniert.

Ein Beispiel ist das wahnwitzige, aber längst bewährte System der Elektrizitätsversorgung. Die meisten Häuser in Bagdad beziehen ihren Strom aus drei verschiedenen Quellen: aus dem öffentlichen Netz, das meist nur wenige Stunden am Tag funktioniert, aus dem privaten Generator ihres Viertels und aus einem kleinen Zusatzaggregat, um die vielen Ausfälle zu überbrücken. Zur Normalität geworden ist auch die Korruption an den Checkpoints, von denen einige nur zum Zwecke der Schutzgeldeintreibung errichtet wurden.

An solcherart Merkwürdigkeiten haben sich die Leute bereits so gewöhnt, dass sie ihren Wortschatz ständig mit neuen Ausdrücken anreichern, um den ständig neuen Absurditäten gerecht zu werden. Ein Beispiel ist das unübersetzbare Wort „hawasim“, das der Saddam-Propaganda entstammt und ursprünglich eine „entschlossene Art und Weise“ bedeutete. Heute steht das Wort für die zahllosen kriminellen Betätigungen, die durch das allgemeine Chaos begünstigt werden.

Bei aller erzwungenen Kreativität, die auch einigen Humor freisetzt, halten die Iraker jedoch eisern an bestimmten Gewohnheiten fest, die ihnen heute teurer sind denn je. Die besten Bäckereien haben sich gehalten; ebenso zeitlos sind die bekanntesten Café-Adressen. Und mit ungebrochener Leidenschaft bereiten die Iraker das traditionelle Karpfengericht Masguf zu, bei dem der Fisch mit Knoblauch, Tomaten und Kräutern gedünstet wird.

Weitaus bedenklicher ist das Verhalten der politischen Klasse. Sie hat sich mit der bestehenden Situation eher arrangiert, als dass sie versuchen würde, sie zu ändern. Die neuen Herrscher sind gewissermaßen in die Kleider des alten Regimes geschlüpft. Die Politiker residieren in den Luxusvillen ihrer Vorgänger, die sie sich nach dem Ende der Saddam-Ära angeeignet haben – mit der sie ja eigentlich Schluss machen wollten.

In den letzten zehn Jahren wurden in Bagdad fast keine neuen Infrastrukturprojekte in Angriff genommen; einzige Ausnahmen sind die Straße zum Flughafen und einige Brücken. An den Straßenkreuzungen hängt an allen Unterständen für die Verkehrspolizisten ein Schild, auf dem steht: „Geschenk der Stadtverwaltung“. Das erinnert stark an das Saddam-Regime mit seinen angeblichen „Wohltaten“ (makarim), die den Leuten das Gefühl geben sollten, sie seien persönlich gemeint.

Die unzureichenden Gehälter im öffentlichen Dienst zwingen die Staatsdiener, sich nach – legalen oder illegalen – Nebenverdiensten umzusehen. Im Übrigen wird das hohe Korruptionsniveau toleriert, aber auch registriert, um es bei Bedarf als Druckmittel zu verwenden. Die Institutionen sind insgesamt ein einziger Hort des Nepotismus und der Inkompetenz.

Der Republikanische Palast in Bagdad, um den herum nach der Invasion 2003 die „Grüne Zone“ errichtet wurde, ist Sinnbild für die schlimmsten Auswüchse der neuen Ordnung, ganz so wie schon unter dem alten Regime. Das streng bewachte Gelände ist zum exklusiven Ort der Politik geworden, zu einer gigantischen Zone der Privilegierten: ein von der übrigen Gesellschaft abgekapseltes Universum. Mit der Zeit hat sich eine vielstufige Hierarchie von Eintrittsscheinen entwickelt, die ihre Besitzer zu einer neuen Elite macht.

Dagegen werden viele Bagdader zu riesigen Umwegen gezwungen, weil die Verbindungsstraße zwischen den Stadtteilen Karrada und Mansour, die durch die Grüne Zone führt, für den normalen Verkehr gesperrt wurde. Vermutlich wäre es ohne großen Aufwand möglich, die Straße wieder zu öffnen, aber darum geht es gar nicht: Die Grüne Zone symbolisiert das unveräußerliche Vorrecht einer politischen Kaste, die damit demonstrieren will, dass sie niemandem Rechenschaft schuldig ist.

All das erinnert an die Zustände unter dem alten Regime, die für viele Iraker unerträglich waren. In der Tat greifen die Kritiker von heute des Öfteren auf die damaligen Formulierungen zurück. Die Parallelen zur Saddam-Ära sind selbst für die Leute kein Tabu, die sich diese Zeit auf keinen Fall zurückwünschen. Wie jener Mann, der mir erklärte: „Saddam war allein, als er sich satt gefressen hat. Heute haben wir das Problem, dass die neuen Machthaber viele sind, und dazu unersättlich.“

Zum Schluss stellt sich die schmerzhafte Frage: Hat der Irak ein weiteres Jahrzehnt des Leidens umsonst durchlebt? Natürlich war der Sturz des Saddam-Regimes notwendig; nur so konnte das Land aus der Sackgasse herauskommen und einen Neuanfang versuchen. Heute verfällt das ehemals elegante Offiziersviertel Jarmuk, während im früher vernachlässigten Stadtteil al-Jawadein bereits ein neuer Kindergarten und sogar ein Tennisplatz gebaut wurden. Aber für die Möglichkeit, nach Feierabend eine Partie Tennis zu spielen oder ein paar Beamte im Staatsapparat auszutauschen, haben die Iraker einen hohen Preis gezahlt.

Im heutigen Irak, wo die Gesellschaft so viel Mühe hat, ein gemeinsames Ziel zu definieren, scheint es nur zwei Alternativen zu geben: Emigration oder persönliche Bereicherung. Dafür kann man die neue Elite im Irak kaum verantwortlich machen, denn sie ist weniger Verursacher als Produkt einer Entwicklung, die durch eine sehr lange Reihe von Brüchen und Katastrophen geprägt ist.

Was die nostalgischen Anhänger des alten Regimes betrifft, so leiden sie an Gedächtnisschwund. Sie erinnern sich nicht mehr an die vom Saddam-Sohn Udai rekrutierten Häscher, die in den irakischen Urlaubsorten die Töchter aus besseren Familien gejagt und vergewaltigt haben, ohne je vor Gericht gestellt zu werden.

Heute erleben wir eine Stunde null. Und weil noch alles zu tun bleibt, können wir auch alles erhoffen. Die Möglichkeiten dazu sind vorhanden, oder zumindest die Ressourcen. Der Irak hat reiche Ölvorkommen, obgleich die Korruption dafür sorgt, dass davon nicht viel übrig bleibt. Irgendwann könnte auch der Exodus der Hochqualifizierten zu Ende sein und sich umkehren – vorausgesetzt der Staat besinnt sich wieder auf seine eigentlichen Aufgaben, statt die Gefolgsleute, Getreuen, Freunde und Verwandten der Herrschenden zu versorgen. Aber zu allererst gilt es, das Land von einem politischen System zu befreien, dessen lähmende Unentschlossenheit das Provisorium zu einem Dauerzustand macht.

Fußnoten: 1 Siehe etwa die Reportage von Stephen Grey „Bagdad Blues“, Le Monde diplomatique, März 2004. 2 Diese Gebiete mit gemischter kurdischer und arabischer Bevölkerung sind ein Streitpunkt zwischen der Zentralregierung in Bagdad und der regionalen Regierung von Irakisch-Kurdistan, das weitgehende Autonomierechte genießt. Bei dem Streit geht es vor allem um den Status der Stadt Kirkuk und die Ausbeutung der Ölvorkommen, die in den umstrittenen Gebieten lagern. 3 Siehe Peter Harling und Hamid Yasin, „Wie einig sind die Schiiten des Irak?“, Le Monde diplomatique, September 2006. 4 Der „Sadrismus“ ist eine Bewegung, die sich an dem religiösen Führer Mohammed Sadiq as-Sadr orientierte. As-Sadr stieg in den 1990er Jahren zum Fürsprecher der benachteiligten sozialen Schichten auf. Sein mutiger Widerstand gegen das Saddam-Regime führte 1999 zu seiner Ermordung. Einer seiner Söhne, Muqtada, ist seit 2003 bemüht, das Erbe seines Vaters weiterzuführen. 5 Vor allem in der westirakischen Provinz al-Anbar wird die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung durch die schiitische Machtelite diskriminiert. Aus dem Französischen von Jakob Horst Peter Harling arbeitet als Projektleiter für die International Crisis Group in Damaskus. Zwischen 1998 und 2004 lebte er im Irak.

Le Monde diplomatique vom 08.03.2013, von Peter Harling