12.02.2010

Teure Grenzen

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Teure Grenzen

Der Maghreb braucht mehr regionale Integration von Francis Ghilès

Wer sich von Oujda auf den Weg nach Algerien macht, stößt schon wenige Kilometer hinter der Hauptstadt der marokkanischen Ostprovinz auf eine absurde Szenerie. Wo man regen Grenzverkehr zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Maghrebstaaten erwarten könnte, herrscht merkwürdige Ruhe. Baumaschinen versperren die Straße, ein paar Sicherheitsbeamte stehen herum. Hier werden die Unstimmigkeiten zwischen Rabat und Algier greifbar, die vor allem durch den Streitfall Westsahara genährt werden.

Der Konflikt um die ehemalige spanische Kolonie, die 1975 von Marokko annektiert wurde, deren Unabhängigkeitsstreben aber von Algerien unterstützt wird, verhindert seit Jahrzehnten eine Annäherung der beiden Länder. Seit 1994 ist die Grenze geschlossen. Doch nicht überall ist sie undurchlässig: Weiter im Süden, am Übergang Figuig, stört sich niemand daran, wenn algerische Soldaten über die Grenze schlendern, um einen Kaffee im benachbarten Königreich zu trinken, oder die Marokkaner ihre Verwandten in der Republik Algerien besuchen.

Welchen Preis der Maghreb für die mangelnde Integration bezahlt, zeigt sich in ganz unterschiedlichen Bereichen wie Energiewirtschaft, Bankwesen, Transportwesen oder selbst Nahrungsmittelindustrie. Das Handelsaufkommen zwischen den Staaten Nordafrikas beträgt nur 1,3 Prozent ihres gesamten Außenhandels – der weltweit geringste Binnenhandel in einer Region. Auf zwei Tagungen zu diesem Thema in Spanien1 und in einem Bericht des amerikanischen Peterson Institute2 wurde deutlich, welche Vorteile ein Nordafrika der offenen Grenzen den Menschen bringen könnte. Auch in den Führungsetagen der Unternehmen der Region ist man sich einig: Mehr Geschäfte über die nationalen Grenzen hinweg wären ein großer Fortschritt.

Der gewaltige Wandel, der sich in der Welt seit 1945 vollzogen hat, scheint im Maghreb nicht angekommen zu sein. Die Unfähigkeit der politischen Eliten, eine gemeinsame Region zu gestalten, trifft hier Arm und Reich gleichermaßen. Die Länder Nordafrikas konnten der EU bislang kaum deutlich machen, welche Rolle sie innerhalb der 1995 begründeten Euro-Mediterranen Partnerschaft (Barcelona-Prozess)3 spielen wollen. Und auch ihr Interesse an der geplanten „Union für das Mittelmeer“ hält sich in Grenzen.4

Dabei verfügt der Maghreb über beträchtliche Ressourcen: große Vorkommen an Erdöl, Erdgas und Phosphat, hervorragende landwirtschaftliche Erzeugnisse und atemberaubende Landschaften, die Millionen von Touristen anziehen. Die Bevölkerung ist jung und das Ausbildungsniveau ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. Doch viele der jungen Leute, die zu Millionen auf den Arbeitsmarkt drängen, finden keinen Job – schon jetzt liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 50 Prozent.

Um diese bedrohliche Entwicklung zu stoppen, bräuchte die Region über zwanzig Jahre ein Wirtschaftswachstum, wie es China seit Jahren aufweist. Angesichts dessen sind die zwei Prozent Wachstum, die aufgrund der versiegelten Grenzen verloren gehen, keine Kleinigkeit. Jedes Jahr riskieren im Mittelmeer Tausende ihr Leben, die in Europa eine Arbeit finden wollen. Und weil die besseren Posten von der herrschenden Elite meist unter ihresgleichen verteilt werden, wandern auch die qualifizierten Arbeitskräfte ab. Das kann zum Beispiel ein halber Jahrgang von Ingenieuren sein. Die Kapitalflucht aus der Region wird auf jährlich 8 Milliarden Dollar geschätzt, die privaten Auslandsvermögen auf 200 Milliarden Dollar. Abderrahmane Hadj Nacer, der frühere Chef der algerischen Zentralbank, sieht die „Herausbildung einer modernen Bourgeoisie“ – nur eben im Ausland.

Seit der Gründung Karthagos, sieben Jahrhunderte vor der christlichen Zeitrechnung, nutzte Nordafrika seine strategisch bedeutende Lage, um weltpolitisch Einfluss zu nehmen. Im 17. Jahrhundert waren die Flotten der Hafenstädte Salé, Algier und Tunis berühmt und gefürchtet. 1660 lebten in Marokko und Algerien mehr Engländer als in den Kolonien der Neuen Welt, und die Herrscher des Maghreb waren gleichberechtigte Verhandlungspartner der europäischen Machthaber.5 Heute muss sich die Region nicht nur gegenüber Europa behaupten und die eigene Zerrissenheit bewältigen, sondern auch in der globalisierten Welt einen angemessenen Platz finden.

Warum gibt es keine maghrebinischen Autos?

Die Nachteile der mangelnden regionalen Kooperation zeigen sich exemplarisch im Rohstoffsektor: Algerien ist der Energieriese des Maghreb und nach Russland und Norwegen der drittgrößte Erdgaslieferant für Europa. Marokko verfügt über nahezu die Hälfte der weltweiten Phosphatvorkommen. Um daraus Düngemittel zu machen, benötigt es allerdings neben Schwefel und Ammoniak auch mehr Energie – alles drei könnte Algerien zur Genüge und relativ billig liefern.

Das königlich-marokkanische Amt für den Phosphathandel (OCP) zählt Indien, China und Brasilien zu seinen Großkunden. Eine Kooperation zwischen dem OCP und dem staatlichen algerischen Energieunternehmen Sonatrach könnte den Maghreb zum weltweit größten Düngemittelhersteller machen. Ein solches Projekt würde Investoren aus der ganzen Welt anlocken und weiterverarbeitende Betriebe mit vielen Arbeitsplätzen entstehen lassen.

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit der beiden Länder beschränkte sich bislang auf die Pipeline „Pedro Duran Farrell“, in der algerisches Gas über Marokko nach Spanien fließt, wofür Marokko Gebühren erhebt. Obwohl diese Leitung nicht voll ausgelastet ist, geht demnächst die neue „Medgaz“-Pipeline in Betrieb. Sie verbindet Algerien direkt mit der Iberischen Halbinsel und lässt Marokko links liegen.

Auch in der Automobilbranche gäbe es Kooperationsmöglichkeiten. Algerien sitzt dank seiner Energieexporte nach Europa auf enormen Devisenreserven. Doch in Algier kam niemand auf die Idee, sich mit diesen Geldern während der Branchenkrise bei einem Autohersteller einzukaufen und damit einen dringend benötigten Technologietransfer in Gang zu bringen. So hätte man Anteile an Renault erwerben und ein gemeinsames Projekt mit Marokko und Frankreich anstreben können: Renault baut heute im marokkanischen Tanger eine Fabrik, die ab 2012 jährlich 400 000 Fahrzeuge produzieren soll.

Dass solche strategischen Investitionen in Algerien nicht erwünscht sind, hat zwei Gründe: Zum einen will die Regierung die Kontrolle über die finanziellen Ressourcen des Landes nicht aus der Hand geben und scheut Transaktionen, die den international üblichen Transparenzregeln unterworfen wären. Zum anderen fehlt es in der algerischen FühFußnote: rungsriege an visionären Köpfen, die solche Projekte durchsetzen könnten.

Die Landwirtschaft bietet ein weiteres Beispiel für die Nachteile, die dem Maghreb aus seiner Unfähigkeit zur Zusammenarbeit entstehen. Lange Zeit behinderten die strengen Regeln der europäischen Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) die Ausfuhr von Zitrusfrüchten und Tomaten aus Nordafrika in die EU. Inzwischen wurden die Einfuhrregeln gelockert und die Subventionierung der Getreideexporte durch den Westen generell abgebaut. Auch die neuen Strategien der internationalen Nahrungsmittelkonzerne und die veränderten Ernährungsgewohnheiten der Einheimischen ließen die Nachfrage weiter steigen. Zudem wächst in dieser Branche eine neue ambitionierte Unternehmergeneration heran.

Ein bedeutender Wachstumsfaktor ist der Handel innerhalb der einzelnen Branchen, und das gilt auch für die Landwirtschaft. Tatsächlich bietet der beschäftigungsintensive Agrarsektor des Maghreb einige Chancen, das dränFußnote: gende Problem der Arbeitslosigkeit anzugehen. Das zeigt zum Beispiel die Entwicklung in Tunesien: Dort ist es den Unternehmen gelungen, durch Partnerschaften mit spanischen Firmen den Export von Olivenöl erheblich auszuweiten. Ähnliche Vereinbarungen zwischen Unternehmen auf beiden Seiten des Mittelmeers – etwa zur Rekultivierung der lange Zeit vernachlässigten Weinanbaugebiete – erschließen neue Exportmärkte und bedeuten nicht nur größere Einnahmen, sondern auch einen höheren Technologietransfer.

In früheren Epochen galt der Maghreb als die „Kornkammer Europas“, heute ist er Nettoimporteur von Getreide. Das ist angesichts der weltweit steigendem Nahrungsmittelpreise eine bedrohliche Entwicklung. Zudem könnten Fortschritte im Landwirtschaftssektor auch dazu beitragen, den verarmten Bauern zu helfen und die Entwicklungsunterschiede zwischen den städtischen und ländlichen Gebieten zu verringern.

Aber ohne eine Öffnung der Grenzen wird die Region auch in diesem BeFußnote: reich ihr Potenzial nicht voll entfalten können. Viele Probleme, wie der Schutz der Fischbestände, die Frage der Wasserressourcen und die Folgen des Klimawandels, werden die Länder Nordafrikas nur gemeinsam lösen können.

Die Zukunft wird verspielt

Marokko und Tunesien exportieren Nahrungsmittel nach Europa und in andere Weltregionen. Auch in Algerien sind die privaten Investitionen in die Landwirtschaft deutlich gestiegen. Aber der Agrarhandel innerhalb der Region bleibt auf bescheidenem Niveau. Wenn sich die zwischenstaatlichen Beziehungen auf offizieller Ebene nicht verbessern, werden Marokko und Tunesien – nicht nur in diesem Bereich – immer stärker in Länder jenseits des Maghreb exportieren und die Kooperation eher mit diesen Handelspartnern ausbauen.

Dabei könnte man den Trend, dass die Lebensmittel aus dem MittelmeerFußnote: raum immer beliebter werden und auch die nordafrikanische Küche wachsendes Ansehen genießt, sehr viel besser nutzen. Aus dieser gemeinsamen Tradition lässt sich nur dann ein Mehrwert produzieren – in Form von Investitionen, neuen Betrieben und Arbeitsplätzen –, wenn länderübergreifende Unternehmen aufgebaut werden und mit internationalen Unternehmen kooperieren, die im Maghreb bereits Fuß gefasst haben.

Derzeit jedoch haben sich Privatunternehmer, die regionale oder internationale Geschäftsbeziehungen knüpfen wollen, mit den staatlichen Bürokratien herumzuschlagen. Ein Beispiel aus Algerien: Im August beschloss die Regierung eine Verordnung, die den Import von Waren durch private Firmen nur dann zulässt, wenn diese die Zahlungsgarantie einer staatlichen Bank vorlegen. Damit will Algier sein Handelsbilanzdefizit reduzieren. Die LeidtragenFußnote: den sind vor allem private Unternehmen, deren Produktion durch den schleppenden Materialnachschub aus dem Ausland ins Stocken gerät.

Auffällig wenig Interesse zeigen die politischen Führungen auch daran, die nordafrikanische Diaspora in Europa, Amerika und im Nahen Osten zu nutzen. Gerade die jungen Migranten können eine Vermittlerrolle spielen und die Verbindungen zu anderen Ländern stärken. China und Indien haben das eindrucksvoll vorgemacht. Im Maghreb sucht man derartige Initiativen vergeblich.

Die Devisensummen, die im Ausland lebende Marokkaner jedes Jahr nach Hause schicken, übertreffen heute bereits das Volumen der ausländischen Direktinvestitionen. Und das Guthaben der Exilmarokkaner auf heimischen Bankkonten beläuft sich auf etwa 6 Milliarden Euro und damit auf 38 Prozent der gesamten Bankeinlagen. In Tunesien, Algerien und Marokko muss man endlich begreifen, dass die Migranten als Botschafter der Modernisierung Fußnote: ihrer Herkunftsländer fungieren könnten. Wann wird es also das maghrebinische Gegenstück zu dem Wirtschaftsförderungsprojekt geben, das die Inder bereits 1992 im kalifornischen Silicon Valley gegründet haben?6

Aber auch die EU-Länder halten sich zurück; anspruchsvolle Gemeinschaftsprojekte mit den Nachbarländern im Süden stehen nicht auf der Tagesordnung. Allzu häufig wird in Europa durch den Verweis auf den radikalen Islam das Misstrauen gegen die muslimischen Anrainerstaaten geschürt. Die EU-Visabestimmungen sind kafkaesk, selbst Mitglieder der Eliten aus dem Maghreb können nicht ungehindert reisen. Europa verweigert sich damit der Einsicht, dass Nordafrika zur Lösung der Probleme beitragen könnte, die sich dem Norden angesichts seiner überalterten Bevölkerung stellen.

Fußnoten: 1 „Du Coût du Non-Maghreb au Tigre Nord-Africain“, Madrid, Mai 2006 und November 2007 (IEMed und ToledoPax). Siehe www.toledopax.org. Fußnote: 2 Maghreb Regional and Global Integration: A Dream to be fullfilled. Peterson Institute for Global Economics, Washington D. C. , Oktober 2008. Siehe www.petersoninstitute.org. 3 Der „Barcelona-Prozess“ wurde 1995 als gemeinsame Initiative von EU und zehn Mittelmeer-Anrainer-Staaten (darunter die Palästinensische Autonomiebehörde) eingeleitet. Ziel war eine wirtschaftliche, politische und kulturelle Partnerschaft zwischen den Ländern beiderseits des Mittelmeers. Diese Pläne wurden durch den Zusammenbruch des Nahost-Friedensprozesses gestoppt. Im Juli 2008 erneuerte Frankreichs Staatspräsident Sarkozy den Barcelona-Prozess unter dem Titel „Union für das Mittelmeer“. Die politischen Hindernisse sind damit jedoch nicht beseitigt. 4 Das liegt auch daran, dass die sicherheitspolitischen Vorgaben der EU im Mittelmeerraum einigen Staatschefs im Maghreb nicht gefallen. 5 Nabil Matar, „Turks, Moors and Englishmen in the Age of Discovery“, New York (Columbia University Press) 2001; ders., „Europe through Arab Eyes 1578–1727“, New York (Columbia University Press) 2009. 6 Das Projekt namens „Indus Valley Entrepreneurs“ ist heute zu einem Netzwerk indischstämmiger Unternehmer angewachsen, dem über 12 000 Mitglieder in zwölf Ländern angehören. Siehe Francis Ghilès, „Omar Alaoui und Guillaume Alméras, A l’Horizon 2013. Un scénario incertain pour le Maghreb“, Barcelona (CIDOB) Juli 2009. www.cidob.org. 7 Siehe www.tie.org.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Francis Ghilès forscht am Zentrum für Internationale Studien der Fundación CIDOB, Barcelona.

Le Monde diplomatique vom 12.02.2010, von Francis Ghilès