14.06.2013

Einsame Wölfe

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Einsame Wölfe

Die Attentäter von Boston stammen aus dem Kaukasus, ihre Motive nicht von Murad Batal al-Shishani

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Nach dem Anschlag von Boston am 15. April, bei dem drei Menschen ums Leben kamen und 264 weitere verletzt wurden, war das Interesse an Tschetschenien auf einmal wieder groß. Das lag natürlich an der Herkunft der mutmaßlichen Täter Tamerlan und Dzhokhar Tsarnaev. Tamerlan, der ältere der beiden Brüder, starb am 18. April bei einem Schusswechsel mit der Polizei, Dzhokhar wartet im Gefängnis auf seinen Prozess.

Einen Tag nach dem Marathon kam die Meldung vom Tod des Historikers Moshe Gammer. Er hatte an der Universität Tel Aviv gelehrt und war neben der im Dezember 2012 verstorbenen Marie Bennigsen Broxup einer der ersten Wissenschaftler, die sich für die Gesellschaften, die Geschichte und die Kultur des Nordkaukasus interessierten. Bis heute gibt es nur vereinzelte Universitäten, an denen dieses Forschungsfeld beackert wird.

Moshe Gammer hinterlässt eine Reihe von Artikeln und Büchern über den Nordkaukasus im Allgemeinen und Tschetschenien im Besonderen. Sein letztes Buch „The Lone Wolf and the Bear“1 zeichnet die Geschichte des Widerstands dieses kleinen Volkes gegen die imperialen Bestrebungen seines mächtigen Nachbarn Russland nach. Dabei geht er auch der Behauptung nach, die tschetschenische Unabhängigkeitsbewegung habe sich nach dem Ende der Sowjetunion vom säkularen Nationalismus abgewandt und richte seither ihre Programmatik strikter an religiösen Prinzipien aus. „Der einsame Wolf und der Bär“ stand auch auf der Liste der Bücher, die Tamerlan Tsarnaev bei Amazon bestellen wollte.

In den US-Medien war nach dem Anschlag von Boston viel vom Vormarsch des Islamismus im Nordkaukasus die Rede. Doch die Tsarnaev-Brüder haben sich ganz eindeutig wie „einsame Wölfe“ verhalten, ein Begriff, der allerdings nichts mit dem tschetschenischen Wolf („borz“ auf Tschetschenisch) zu tun hat, dem Symbol des tschetschenischen Unabhängigkeitskampfes. In den Untersuchungen über den Terrorismus wird der „einsame Wolf“ als eine Person beschrieben, die ihre kriegerischen Ziele auf sich allein gestellt verfolgt, und zwar „angetrieben durch ein persönliches Motiv oder die Überzeugung, einer ideologischen Gruppierung anzugehören“.2

In seinem Buch mit dem Titel „Lone Wolf Terrorism“ erinnert Jeffrey Simon daran, dass die Geschichte der USA seit Beginn des 20. Jahrhundert viele Gewalttaten solcher „einsamen Wölfe“ kennt.3 Und natürlich verkörpert der Rechtsextreme Anders Behring Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordet hat, alle Eigenschaften des „Lone Wolf“-Terroristen.

Innerhalb des islamistischen Terrorismus gibt es zahllose „einsame Wölfe“, die durch den salafistischen Dschihadismus oder die Ideologie von al-Qaida geprägt wurden. Die meisten von ihnen sind in westlichen Ländern aufgewachsen. Diese jungen Muslime werden häufig von islamistischen Führern zu Anschlägen im Namen des dschihad al-fardi, des „individuellen Dschihads“, ermuntert, nach dem Grundsatz, den Osama bin Laden so formuliert hat: „Fragt niemanden um Rat, wenn es darum geht, Amerikaner zu töten.“

Nach offizieller Darstellung erklärte Dzhokhar Tsarnaev gegenüber dem FBI, er und sein Bruder hätten sich durch die Internetpredigten von Anwar al-Awlaki beeinflussen lassen, der im September 2011 durch eine CIA-Drohne im Jemen getötet wurde.4 Wenn das stimmt, würde es sich bei den Tsarnaev-Brüdern in der Tat um „einsame Wölfe“ handeln, die keinerlei Verbindungen zu tschetschenischen Kämpfern hatten. Trotz unbestätigter Berichte, wonach sich Tamerlan Tsarnaev während seines Aufenthalts in Tschetschenien 2012 mit Aufständischen getroffen habe, spricht vieles dafür, dass seine Radikalisierung nichts mit der Situation im Kaukasus zu tun hatte.

In Tschetschenien sind die ersten Dschihadisten 1995 aufgetaucht, also in dem Jahr, als der erste Tschetschenienkrieg begann. Für viele arabische Kämpfer, die bereits in Afghanistan gegen die Russen gekämpft hatten, war dieser Krieg ein Glückfall. Denn nach dem Abzug der sowjetischen Armee waren sie auf der Suche nach neuen Betätigungsfeldern. Einige von ihnen, wie Ibn al-Chattab (alias Samir Salih Abdullah as-Suwailim), schlossen sich den Islamisten im tadschikischen Bürgerkrieg (1992–1994) an.

Während des ersten Tschetschenienkriegs agierten die Dschihadisten jedoch nicht als eigenständige Bewegung. Sie zogen es vor, unter dem nationalistischen Banner von Dschochar Dudajew zu kämpfen, der 1991 die unabhängige Tschetschenische Republik Itschkeria ausrief und deren erster Präsident wurde. Nach dem Abzug der russischen Truppen 1997 wurde ein Friedensvertrag unterzeichnet. Damals sprach der russische Präsident Boris Jelzin von einem „historischen Abkommen“, das die 400 Jahre währende Feindschaft zwischen den Nachbarn beenden werde. Ein Jahr zuvor, am 21. April 1996, war Dudajew durch eine lasergesteuerte Bombe getötet worden, als er sich gerade per Satellitentelefon mit dem marokkanischen König Hassan II. besprach, der als Vermittler zwischen den Konfliktparteien auftrat.

Nach einer Wahl, die internationalen Beobachtern zufolge korrekt verlaufen war, wurde Aslan Maschadow zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Russland war aber entgegen den eigenen Versprechen nicht bereit, am Wiederaufbau des Landes mitzuwirken. Maschadow war wie Dudajew ein nationalistischer Militär und Laizist und hatte sich stets für eine politische Lösung des Konflikts eingesetzt. Die harte Haltung Russlands brachte ihn allerdings in die Klemme und trug zum Erstarken der Dschihadisten bei.

Die mit großzügigen Spenden5 ausgestatteten Dschihadisten halfen den einheimischen Islamisten, junge Nationalisten aus Tschetschenien oder den Nachbarrepubliken zu rekrutieren, Schariagerichte aufzubauen, die Gesellschaft zu islamisieren und vor allem Trainingscamps zu organisieren. Die fingen den mehr und mehr anwachsenden Zustrom junger arabischer Kämpfer auf. Zwischen 1997 und 1999 bewegten sich 45 Prozent der arabischen Afghanistanveteranen nach Tschetschenien (im ersten Tschetschenienkrieg waren es noch 30 Prozent gewesen). Der radikale Flügel der nationalistischen Bewegung unter Rebellenführer Schamil Bassajew ließ sich auf ein Zweckbündnis mit diesen Afghanistankämpfern ein. Mit der Folge, dass auch das benachbarte Dagestan destabilisiert wurde, weil die tschetschenischen Kämpfer auch dort den Aufbau eines islamischen Staats unterstützten, was wiederum die russische Armee zu einer Intervention provozierte. Diese Entwicklung nutzte Moskau als Vorwand, um 1999 Tschetschenien erneut zu besetzen.

Mit dem zweiten Tschetschenienkrieg begann für die kaukasischen Dschihadisten die nächste Phase des Untergrundkampfs. Obwohl die tschetschenische Bevölkerung für islamistische Losungen kaum zu haben war, konnte Moskau nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington die brutale Repression der Unabhängigkeitsbewegung als „Kampf gegen den Terror“ legitimieren. Unter diesem Etikett begingen die russischen Einheiten – unter dem Oberbefehl des neuen Präsidenten Wladimir Putin – massive Menschenrechtsverletzungen, die von der internationalen Öffentlichkeit kaum registriert wurden.

Während der beiden Kriege mit Russland wurde ein Viertel der tschetschenischen Bevölkerung vertrieben oder getötet. Ab 2003 zogen die meisten arabischen Kämpfer wieder ab. Einige gingen in den Irak, wo die US-Besatzung den Dschihadisten ein neues Kampffeld eröffnete. Der Sieg der Russen war perfekt, als sie Anfang März 2005 den moderaten tschetschenischen Präsidenten Maschadow umgebracht und in Grosny eine moskaufreundliche Regierung eingesetzt hatten, die der Unabhängigkeitsbewegung vollends den Garaus machte.

Seitdem hat sich die Aufstandsbewegung in die Nachbarrepubliken verlagert. Am 31. Oktober 2007 rief der tschetschenische Rebellenführer Doku Umarow ein Islamisches Kaukasus-Emirat aus – ein deutliches Zeichen für die Verwurzelung der Islamisten in Dagestan, Inguschetien und Kabardino-Balkarien. Das harte Regime Moskaus, unter dem die einheimische Bevölkerung leidet, hat eine neue Generation von Aufständischen hervorgebracht. Sie brauchen den Aufruf zum weltweiten Dschihad gar nicht, denn sie wollen vor allem die russischen Herren bekämpfen. So haben sich Anhänger des Kaukasus-Emirats zu mehreren Attentaten auf russischem Boden bekannt, wie etwa zum Selbstmordanschlag auf die Moskauer U-Bahn im März 2010. Dagegen haben sie jede Verantwortung für die Bomben von Boston entschieden von sich gewiesen.

Im Nordkaukasus kommen derzeit zwei Entwicklungen zusammen. Zum einen orientieren sich islamistische Kämpfer, die bis vor Kurzem noch auf arabische und andere ausländische Ideologen gehört haben, an eigenen Vordenkern wie Said Burjatski, Ansor Astemirow oder Abu Dudschana. Zum anderen nimmt aber auch das Interesse der internationalen Dschihadisten am Nordkaukasus wieder zu. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass viele ihrer Propagandatexte neuerdings in russischer Übersetzung erscheinen, oder auch in den vielen Beiträgen zu Internetforen, die sich auf das Kaukasus-Emirat beziehen. Trotz all ihrer Bemühungen konnten die kaukasischen Dschihadisten ihren russischen Erzfeind bisher allerdings noch nicht in ernsthafte Schwierigkeiten bringen.

Offenbar hegten die Tsarnaev-Brüder größere Sympathien für Dagestan, wo ihre Mutter aufgewachsen war, als für die Vereinigten Staaten, wo die Familie schon seit vielen Jahren lebte. Dieses Dagestan hat sich in den letzten Jahren innerhalb der kaukasischen Krisenregion zu einem besonderen Unruheherd entwickelt, allein 2010 wurden hier rund 300 terroristische Zwischenfälle gezählt.

Allerdings deutet nichts darauf hin, dass für die Tsarnaev-Brüder ein Zusammenhang bestand zwischen der Lage in Dagestan und ihrem Anschlag in Boston. Deshalb fragt der tschetschenische Historiker Mairbek Watchagajew zu Recht: „Warum hat Tamerlan Tsarnaev nie ein Ende des Blutvergießens in Dagestan gefordert, sich aber sehr wohl für die Ereignisse im Irak und in Afghanistan interessiert?“6 Die Antwort auf diese Frage dürfte lauten, dass die Radikalisierung des Boston-Attentäters mit der Situation im Nordkaukasus nichts zu tun hatte.

Dass die Dschihadisten im Nordkaukasus Anhänger gewinnen können, liegt vor allem am lokalen Nährboden, an Unzufriedenheit, extremer Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption, Menschenrechtsverletzungen – und an der hegemonialen Politik Russlands. Folglich waren ihre bisherigen Angriffe auch alle gegen den Feind in Moskau gerichtet. Die Bluttat der Tsarnaev-Brüder lässt sich kaum in das nordkaukasische Puzzle einfügen. Die beiden waren gewiss „einsame Wölfe“, aber „tschetschenische Wölfe“ waren sie nicht.

Fußnoten: 1 Siehe Moshe Gammer, „The Lone Wolf and the Bear: Three Centuries of Chechen Defiance – A History“, London (C. Hurst & Co Publishers Ltd) 2005. 2 Raffaello Pantucci, „A typology of lone wolves: preliminary analysis of lone islamist terrorists“, International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR) – King’s College, London, März 2011. 3 Siehe Jeffrey Simon, „Lone Wolf Terrorism: Understanding the Growing Threat“, Amherst (Prometheus Books) 2013. 4 Awlaki besaß die US-amerikanische und die jemenitische Staatsbürgerschaft. Siehe Daniel Klaidman, „The Awlaki/Tsarnaev Connection“, 26. April 2013: www.thedailybeast.com/articles/2013/04/26/the-awlaki-connection.html. 5 Die Gelder stammten vor allem von Stiftungen wie Taiba und Al-Haramain; Letztere ist eine saudische Stiftung, die wegen ihrer Nähe zu al-Qaida seit 2004 auf der UN-Verbotsliste steht. 6 Mairbek Vatchagaev, „Why Tamerlan Tsarnaev Is Outside of Chechen Mentality“, Eurasia Daily Monitor, Bd. 10, Nr. 83, Jamestown Foundation, 2. Mai 2013. Aus dem Französischen von Jakob Horst Murad Batal al-Shishani ist Politikwissenschaftler in London, sein Spezialgebiet ist der Islamismus im Nahen Osten und im Nordkaukasus.

Le Monde diplomatique vom 14.06.2013, von Murad Batal al-Shishani