12.07.2013

Wie produktiv ist ein Streichquartett?

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Wie produktiv ist ein Streichquartett?

Dienstleistungen, Roboter und der Wert der Arbeit von Pierre Rimbert

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Bewohner der Industrieländer können sich kaum des Gefühls erwehren, dass zwei widersprüchliche Tendenzen ihr Alltagsleben zerreißen: Auf der einen Seite werden immer mehr individuelle Dienstleistungen angeboten, die von immer leistungsfähigeren, praktischeren und preiswerteren Apparaten ausgeführt werden. Auf der anderen Seite werden die Dienstleistungen, bei denen man direkten Kontakt mit anderen Menschen hat, immer seltener und teurer – dabei stellen sie die Grundlage der Gesellschaft dar.

Die Verteilung öffentlicher Finanzmittel und privater Investitionen ebenso wie die intellektuelle Mode scheinen diese Dynamik zu verstärken. Um sie zu verstehen, muss man den Mechanismus nachvollziehen, der seit fast fünfzig Jahren sichtbar ist, aber von den politisch Verantwortlichen geflissentlich übersehen wird: die Baumol’sche Kostenkrankheit (cost disease).

Mitte der 1960er Jahre sammelten zwei junge Wirtschaftswissenschaftler aus Princeton, William Baumol und William Bowen, Theatertickets auf dem Broadway, um eine intuitive Annahme zu überprüfen: die ununterbrochene Steigerung der Eintrittspreise, welche nach Meinung der beiden Wissenschaftler mit dem Charakter künstlerischer Arbeit zusammenhing. Denn diese ist nicht reduzierbar: Um ein Mozart-Quartett aufzuführen, war im Jahr 1785 am Hofe Josephs II. in Wien die gleiche Menge an Arbeit notwendig wie zwei Jahrhunderte später in der New Yorker Carnegie Hall. Mit anderen Worten: Die Produktivität im Bereich der Kammermusik stagniert. In der verarbeitenden Industrie steigt sie jedoch, was zur Konsequenz hat, dass die relativen Kosten künstlerischer Darbietungen voraussehbar steigen.

Ein halbes Jahrhundert später ist die „Kostenkrankheit“ in vielen Bereichen diagnostizierbar, etwa im Bildungs- und im Gesundheitssektor. „Die Menge an Arbeit, die benötigt wird, um diese Dienste anzubieten, lässt sich nur schwer reduzieren“, erklärte Baumol in einer kürzlich erschienenen Studie zur Aktualität seiner alten Untersuchung.1 Er unterscheidet darin zwei Bereiche: Zum einen die Güter und Dienstleistungen, deren Herstellung sich leicht automatisieren lässt. Je mehr Maschinen den Menschen ersetzen, desto stärker sinkt die Menge an Arbeit, die für die Herstellung einer zusätzlichen Einheit notwendig ist. Die industrielle Produktivität wächst, die Löhne steigen mehr oder weniger schnell, aber der Preis der Produkte bleibt gleich.

Zum andern besteht die Produktion zu einem erheblichen und nicht verringerbaren Anteil aus menschlicher Arbeit. Die Produktivität stagniert, aber die Gehälter des Lehr- und des Pflegepersonals steigen dennoch. Das Resultat ist ein allmählicher Anstieg der Kosten. „Nach und nach kumulieren die Unterschiede in der Kostensteigerung und machen persönliche Dienstleistungen erheblich teurer als Industriegüter.“ In den Vereinigten Staaten etwa stieg der Preis für Krankenhausleistungen zwischen 1978 und 2008 dreimal so schnell wie der gesamtwirtschaftliche Durchschnitt. Im gleichen Zeitraum sind auch die Hochschulgebühren um 250 Prozent gestiegen. Eine ähnliche Entwicklung ist in den meisten Industrie- und auch in manchen Schwellenländern zu beobachten.

Die „Kostenkrankheit“ betrifft Reparaturen, Maßanfertigungen, juristische Dienstleistungen, soziale Dienste, die Post, die Straßenreinigung, Sicherheitsdienste, die Gastronomie, das Bestattungswesen und viele andere Bereiche. All diese Berufe verweigern sich der Automatisierung, denn sie verlangen menschlichen Kontakt. Baumols Konzept erklärt auch das Ende der berufsmäßigen Reparateure, der Tüftler und Bastler, denn Handwerkerkosten steigen im Verhältnis zum Preis für neue Apparate. Wenn ein neuer Staubsauger weniger kostet als die Reparatur des alten, zögert der Konsument nicht lange.

Die Qualität solcher Dienstleistungen ist direkt abhängig von der Menge der Arbeit, die investiert wird. „Irgendwann“, so bemerkt Baumol, „wird es schwierig, die Zeit zu reduzieren, die notwendig ist, um bestimmte Aufgaben auszuführen, ohne dabei gleichzeitig die Qualität zu reduzieren. Wer versucht, die Arbeit von Chirurgen, Lehrern oder Musikern zu beschleunigen, hat gute Chancen, eine verpfuschte Operation, schlecht ausgebildete Schüler oder ein sehr merkwürdiges Konzert zu bekommen.“

Genau das ist es, was die politischen Entscheider nicht verstehen – oder nicht hören – wollen. Zwar werden gewisse Aktivitäten subventioniert, die andernfalls dem ökonomischen Darwinismus zum Opfer fallen würden. Doch die Bereitschaft schwindet, je mehr die Kostensteigerung bei persönlichen Dienstleistungen auf schlechtes Management oder unzureichende Produktivität zurückgeführt wird. Sparsamkeit als politischer Imperativ belastet Krankenhäuser, soziale Einrichtungen und Schulen durch weniger Mitarbeiter, relative Gehaltskürzungen und die Verpflichtung, Zeit einzusparen.

Chirurgen und Lehrer sollten nicht schneller arbeiten

Die Produktivitätssteigerung in Bereichen, wo menschliche Arbeit nicht reduziert werden kann, bedeutet automatisch einen Qualitätsverlust. Auch wenn bislang noch kein Intendant daran gedacht hat, einen Violinisten zu streichen, um die Produktivität des Streichquartetts zu erhöhen – diese geniale Idee wird an anderen Stellen durchaus umgesetzt, mit absehbarem Ergebnis: Nicht dringliche chirurgische Operationen werden mehrere Monate aufgeschoben, die Post wird seltener zugestellt, Schulzeiten werden verringert, Kindergärten umstrukturiert, an Schaltern bilden sich Warteschlangen. „Die beunruhigende Moral der Geschichte ist“, schreibt Baumol, „dass sich unter den am meisten von der Kostenkrankheit bedrohten Gütern lebensnotwendige Attribute zivilisierter Gesellschaften befinden“, die meist vom Staat sichergestellt werden. Diejenigen Sektoren, in denen die Produktivität steigt, gehören zur Privatwirtschaft, denn der überlegte Kapitalist erntet den Profit da, wo er wächst. So entsteht, nach der Kurzformel des US-Wirtschaftswissenschaftlers John Kenneth Galbraith, „privater Reichtum und öffentliche Armut“.

Dies hat auch eine anthropologische Folge: Die Kundenschalter von Postämtern, Banken, Behörden und Verkehrsbetrieben werden im Zuge von Einsparungen durch Automaten ersetzt. Allerdings werden nur die einfachsten und am meisten standardisierten Tätigkeiten den Maschinen übertragen. Der zwischenmenschliche Kontakt reduziert sich nunmehr auf die schwierigen und konfliktträchtigen Fälle.

Die Gleichzeitigkeit von Sparzwängen und von technologischen Innovationen, die enorme Produktivitätssteigerungen mit sich bringen, stellt die Politik vor die Entscheidung: Entweder sie treibt die Verschlechterung lebensnotwendiger Dienste noch weiter, oder sie entschließt sich, die Kostensteigerung bei öffentlichen Aufgaben nicht mehr als bilanztechnischen Fluch anzusehen.

Alles deutet auf die erste Variante hin. Wenn die Weltwirtschaft auf ihrem aktuellen Kurs bleibt, werden die Kosten menschlicher Dienstleistungen genauso rasant steigen, wie die Kosten maschineller Dienstleistungen sinken. Terry Gou, Chef des taiwanesischen Herstellers von Apple-Produkten, Foxconn, verkündete, er werde für seine Fertigung eine Million Roboter einkaufen, da „menschliche Wesen auch Tiere“ seien und ihm „das Verwalten von Millionen von Tieren Kopfschmerzen“2 bereite.

Damit führt er in einem wesentlichen Sektor die industrielle Mechanisierung weiter, die im 19. Jahrhundert begonnen wurde. Nachdem einfache manuelle Tätigkeiten und einfache Dienstleistungen bereits automatisiert wurden, ist nun auch die Automatisierung – genauer gesagt: die Digitalisierung – hochkomplexer Tätigkeiten auf dem Vormarsch. Bereits jetzt werden chirurgische Eingriffe von Präzisionsrobotern ausgeführt, Texte von Softwareprogrammen geschrieben und juristische Strategien auf der Grundlage computergestützter Analysen von Hunderttausenden Rechtsurteilen entwickelt.

Durch die steigende Bedeutung von Online-Colleges könnte die Technologie auch die Universität, die traditionelle Festung menschlichen Geistes, völlig verändern. Ein Jahr nach seiner Gründung im April 2012 verzeichnet das US-amerikanische Ausbildungsunternehmen Coursera bereits mehr als 3 Millionen Nutzer. Angeboten werden Unterrichtsvideos, die an Partneruniversitäten aufgenommen wurden, sowie Übungen und Prüfungen, die automatisch korrigiert werden. Am Ende des Studiums kann der Student ein (kostenpflichtiges) Zertifikat erwerben. Die Gründer von Coursera überlegen bereits, wie künftig damit noch mehr Profit zu machen ist, etwa mit einem teureren „Premiumservice“ oder dem Verkauf von Informationen über die Studenten an Unternehmen.

Dass das menschliche Gehirn das Monopol auf eine wachsende Anzahl komplexer Aufgaben verliert, bedeutet jedoch nicht, dass die Mechanisierung allumfassend wäre. Während der Normalsterbliche sich über die Maschinen aufregt, kann eine wohlhabende Klientel weiterhin auf „menschliche“ Dienstleistungen zugreifen.

„In unsern Tagen“, sagte Karl Marx bereits in einer Rede vom April 1856, „scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen. Wir sehen, daß die Maschinerie, die mit der wundervollen Kraft begabt ist, die menschliche Arbeit zu verringern und fruchtbarer zu machen, sie verkümmern läßt und bis zur Erschöpfung auszehrt. Die neuen Quellen des Reichtums verwandeln sich durch einen seltsamen Zauberbann zu Quellen der Not […] All unser Erfinden und unser ganzer Fortschritt scheinen darauf hinauszulaufen, daß sie materielle Kräfte mit geistigem Leben ausstatten und das menschliche Leben zu einer materiellen Kraft verdummen.“

Die „Kostenkrankheit“, ebenfalls schwanger mit ihrem Gegenteil, könnte ihr eigenes Heilmittel hervorbringen, indem sie die Wirtschaftsordnung über deren eigene Kapazitäten hinaus fordert. Eine von Baumol berechnete Prognose verdeutlicht dies: 1960 machten die Gesundheitsausgaben 5 Prozent des US-amerikanischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus, 2012 waren es 18 Prozent. Wenn sich dieser Anstieg fortsetzt, werden im Jahr 2100 die Gesundheitskosten bei etwa 60 Prozent des BIPs liegen. Natürlich sind die USA ein extremes Beispiel, und derart gewagte Hochrechnungen sind mit Vorsicht zu behandeln. Wenn man diese Prognose jedoch um andere von der Kostenkrankheit betroffene Bereiche erweitert, lässt sich eine Tendenz erkennen: In dem Maße, in dem der Anstieg der Produktivität die für die Herstellung industrieller Güter notwendige Arbeitsmenge schrumpfen lässt, leitet sich der Wert menschlicher Arbeit immer mehr aus Dienstleistungen ab, die in hohem Maße auf sie angewiesen sind. Meistens sind das Dienste für die Allgemeinheit und im öffentlichen Sektor.

Genau hier ist der springende Punkt: Wenn sich der Schwerpunkt des Werts von Arbeit hin zu Dienstleistungen für die Allgemeinheit hin verlagert, werden sich die Konflikte um ihre Rationalisierung verstärken. Industrielle und Politiker bemühen sich bereits mit vereinten Kräften, die Kosten für soziale Dienstleistungen zu senken, indem sie deren Produktivität steigern. Für jene gesellschaftlichen Kräfte, die sich um den Wiederaufbau öffentlicher Dienstleistungen bemühen und die den emanzipatorischen Aspekt moderner Technologien fördern wollen, ist das Feld künftiger Auseinandersetzungen damit abgesteckt.

Fußnoten: 1 William Baumol, „The Cost Disease. Why Computers Get Cheaper and Health Care Doesn’t“, New Haven (Yale University Press) 2012. Wenn nicht anders angegeben, sind Zitate und Beispiele dieser Studie entnommen. 2 John Markoff, „Skilled Work, Without the Workers“, New York Times, 18. August 2012. Aus dem Französischen von Constanze Fröhlich

Le Monde diplomatique vom 12.07.2013, von Pierre Rimbert