12.03.2010

Irak 2010

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Irak 2010

Zwischen Nachkriegszeit und Demokratie von Nir Rosen

Wenige Wochen nach dem Einmarsch der USA in den Irak, im März 2003, drängten sich Tausende vor einer Villa, die einem Funktionär des Saddam-Regimes gehört hatte. Hier residierte jetzt die neu gegründete Vereinigung befreiter Gefangener. An der Hauswand hingen Namenslisten, die von der Geheimdienstzentrale stammten und die man bei der Plünderung des Gebäudes gefunden hatte. Verzweifelte Menschen studierten die Listen in der Hoffnung, etwas über das Schicksal ihrer verhafteten Angehörigen zu erfahren. Was sie erfuhren, war meist schrecklich. Eine Familie fand zum Beispiel den Hinweis auf ein Massengrab, aus dem sie vier ihrer Angehörigen bergen konnte. Sie waren als angebliche Mitglieder der verbotenen schiitischen Daua-Partei exekutiert worden. Drei Jahre später herrschte Bürgerkrieg, in Bagdad und andernorts wüteten Milizen und Todesschwadronen. Wieder standen die Menschen an, um Auskunft über verschwundene Familienangehörige zu bekommen – diesmal bei den Leichenhallen, wo die nicht identifizierten Toten eingeliefert wurden.

Nach dem Krieg versank das Land bald im Chaos, vor allem weil sich der Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zuspitzte. Schnell zeichnete sich ab, dass sich mit dem Sturz von Saddam Hussein die Machtverhältnisse zugunsten der schiitischen Mehrheit verschieben würden.1 Washington hielt das Ganze für einen rein religiösen Konflikt – und heizte ihn damit nur noch weiter an. Die USA sahen in der Baath-Partei eine Art Neuauflage des Naziregimes und nahmen fälschlicherweise an, dass deren Basis rein sunnitisch war. Damit war die sunnitische Gemeinschaft insgesamt zum „Feind“ erklärt, was sich als Selffulfilling Prophecy erweisen sollte.

Der konfessionelle Konflikt wurde auch durch die Präsenz der US-Truppen verschärft. Sie verhinderte den Aufbau einer von unten legitimierten Regierung. Die Folge war, dass die gegen die Besatzung kämpfenden religiösen Gruppierungen (vor allem auf sunnitischer Seite) auch solche Iraker ins Visier nahmen, denen sie Kollaboration mit den Besatzern vorwarfen.

Das Ergebnis ist bekannt: Weder das US-Militär noch die irakische Übergangsregierung konnte den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung verhindern, es kam zu zahlreichen Plünderungen, bis schließlich Milizen das Machtvakuum ausfüllten, meist kriminelle Banden, die sich teils mit dem schiitischen Turban, teils mit der Kafia des Widerstands tarnten.

Die Moschee spielt im religiösen, sozialen und politischen Leben der Muslime seit jeher eine wesentliche Rolle. Fünfmal am Tag ertönt von den Minaretten der Ruf zum Gebet, der den Tagesablauf der Gläubigen bestimmt. In der Moschee versammelt man sich nicht nur zum Gebet, man redet auch mit den anderen, lässt sich unterweisen oder zu Aktivitäten motivieren. Das Freitagsgebet (chutba) ist häufig ein Aufruf zum Handeln. Der Imam behandelt darin die Probleme der Gemeinde – von religiösen Fragen bis hin zur internationalen Politik. In den autoritär geführten Staaten bedeutet dies, dass von der Kanzel (minbar) auch Ansichten zu hören sind, die von den offiziellen Positionen abweichen. Deshalb konnte im Irak nach dem Zusammenbruch des Staats die Moschee zur wichtigsten Institution des Lande werden. Hier fanden die Gemeinschaften ihren Zusammenhalt, hier funktionierten die sozialen Dienste noch, und mit der Zeit entwickelten sich die lokalen Gemeinden auch zu Informationszentralen, zu Rekrutierungszentren und sogar Waffenlagern.

Auf die Zunahme der Guerillaaktivitäten reagierten die USA zunächst mit Vergeltungsaktionen, bei denen zehntausende von Irakern getötet oder inhaftiert wurden. In Washington erkannte man erst nach einiger Zeit, dass es sich um organisierten Widerstand handelte. Noch länger brauchte man zu der Einsicht, dass zwischen den schiitischen und den sunnitischen Milizen ein Bürgerkrieg entbrannt war.

Ende 2004 hatten die Sunniten die Stadt Falludscha zerstört und sich mit zehntausenden von Kämpfern im Westen von Bagdad festgesetzt. Die Schiiten flohen in andere Stadtviertel und verdrängten die dort lebenden Sunniten. Weder die irakische Regierung noch die USA sahen sich in der Lage, Sicherheit und eine soziale Mindestversorgung zu gewährleisten. Diese Aufgaben übernahmen dann die Milizen.

Erst 2006 kam die US-Regierung zu einem Schluss, den sie schon 2003 hätte ziehen können: Wenn der Grund für den anhaltenden Widerstand die eigene Militärpräsenz war, musste die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit den irakischen Behörden übergeben werden. Doch der Kurswechsel kam zu spät, längst schon betrieben die – mehrheitlich schiitischen – irakischen Sicherheitskräfte ihren konfessionellen Bürgerkrieg.

Als die Gewalt im Irak in einen regionalen Konflikt insbesondere mit dem Iran überzugehen drohte, warfen die USA das Steuer erneut herum. Die für die Aufstandsbekämpfung zuständigen Kräfte forderten die Entsendung weiterer Bodentruppen, vor allem nach Bagdad. Im Januar 2007 verkündete Präsident Bush einen neuen „surge“: die Aufstockung der US-Truppen um 20 000 Soldaten.2 Die neuen Einheiten kamen vor allem in der irakischen Hauptstadt zum Einsatz. Hier zogen sie zunächst gewaltige Betonmauern um bestimmte Stadtviertel hoch, um deren Bewohner besser kontrollieren zu können; hier führten sie, in Zusammenarbeit mit örtlichen Milizen, Volkszählungen durch; hier halfen sie aber auch der schwer geprüften Bevölkerung.

Sicherheitskräfte gegen Milizen

Gleichzeitig griffen die Sicherheitskräfte die Milizen sowie die sie stützende Zivilbevölkerung an und trugen so dazu bei, dass in Bagdad die Schiiten militärisch die Oberhand gewinnen konnten. Einige Stadtviertel wurden rein schiitisch, die verbliebenen Sunniten mussten ihre Häuser verlassen. Das führte zu einem Exodus von Millionen, die entweder in den Armenvierteln am Stadtrand, in ländlichen Gebieten oder in den Nachbarstaaten, vor allem Syrien und Jordanien Zuflucht suchten.

Die bewaffneten sunnitischen Gruppen änderten nach der Ankündigung der US-Truppenverstärkung ihre Taktik. Sie erkannten, dass Washington kein Interesse hatte, die Schiiten vorbehaltlos zu unterstützen oder gar den Iran zu stärken. Nachdem die Sunniten zuvor mit der durch die US-Aktionen (vor allem in der Provinz al-Anbar) geschwächten al-Qaida gebrochen hatten, strebten sie jetzt eine Art Rückversicherung in Washington an: Sie ließen sich auf eine finanzielle Unterstützung ein, ohne sich jedoch von den USA als Söldner einspannen zu lassen. Auf diese Weise hofften sie, zunächst die Konkurrenz der al-Qaida loszuwerden, um nach einem Abzug der Amerikaner wieder die Oberhand über die Schiiten zu gewinnen. Der Plan schien auch deshalb Aussicht auf Erfolg zu haben, weil Washington – gegen den Willen der irakischen Regierung – die Integration eines Fünftels der sunnitischen Kämpfer in die irakischen Streitkräfte durchgesetzt hatte.

Für die – inzwischen auch unter Iraks Schiiten als Räuberbanden verschrienen – schiitischen Milizen war das ein Rückschlag. Jetzt erklärte Ministerpräsident Nuri al-Maliki sie auch noch zu einer Bedrohung der Staatsmacht und beschloss, mit aller Härte gegen sie vorzugehen (wobei auch die Soldaten der „offiziellen“ Streitkräfte mehrheitlich Schiiten sind). Die Milizen stellten daraufhin ihre Aktivitäten vorläufig ein. Aber sie gehen, wie ihre sunnitischen Gegenspieler, davon aus, dass sie nach dem Abzug der Amerikaner erneut losschlagen können.

Zum Konzept des „surge“ gehörte auch eine wenig beachtete US-Offensive gegen die Stützpunkte, Rückzugsgebiete und Versorgungswege der Milizen. Nach außen sichtbar wurde sie vor allem durch die Militärpräsenz in den Wohnvierteln und die neuen Betonmauern zum Schutz der Bevölkerung. Doch die US-Soldaten gingen auch verstärkt gegen die schiitischen Milizen vor, und das nicht nur in Bagdad. Zwischen Februar und August 2007 wurden bei diesen Operationen viele Milizionäre getötet und noch weit mehr festgenommen (jeden Monat etwa 1 000).

2008 hatte die US-Armee den Irak wieder unter Kontrolle. Die Anschläge und andere Gewaltakte waren allerdings schon zuvor deutlich zurückgegangen, weil die „ethnischen Säuberungen“ inzwischen weitgehend abgeschlossen waren. Auch 2008 gab es noch Gewalttaten, aber von einem Bürgerkrieg konnte nicht mehr die Rede sein. Sichtbares Zeichen der neuen Zeit war, dass die reichen Iraker wieder in ihren Luxusautos herumfahren konnten.

„Die Flüchtlinge wissen immer am besten, wie es zu Hause steht“, meint Stefan de Mistura, UN-Vertreter im Irak. „Wenn sie zurückkehren, hat sich die Situation normalisiert.“ Im Irak allerdings sei die Zahl der Rückkehrer hinter den Erwartungen zurückgeblieben, zumindest im Vergleich zu de Misturas früherem Einsatzort Kosovo, wo es zwei Millionen waren. In seinen Augen zeigte sich bei den Regionalwahlen vom Januar 2009 ein neues Bild: „Bagdad hat sich stark verändert. Hier gab es konfessionelle Säuberungen. Seitdem ist die Stadt vorwiegend schiitisch.“

Diese Entwicklung lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Schon 2008 erklärte ein Berater von General David Petraeus, dem damaligen US-Oberbefehlshaber im Irak, der Bürgerkrieg werde erst zu Ende sein, wenn die Schiiten begriffen haben, dass sie die Sieger sind, und die Sunniten, dass sie verloren haben. Das ist inzwischen der Fall.

500 Kandidaten dürfen nicht antreten

Die Niederlage der Sunniten ist eine doppelte. Zum einen sind von den überwiegend sunnitischen Flüchtlingen nur wenige in den Irak zurückgekehrt. Zum anderen wurden die sunnitischen Milizen, untereinander zerstritten und auch geschwächt durch die Al-Qaida-Anschläge auf einige ihrer Anführer, von den Regierungstruppen attackiert. Deren Offensive vom März 2009 löste zwar noch einmal einen kurzen Aufstand in Fadhil, einem sunnitischen Stadtteil von Bagdad, aus, nachdem irakische und US-Truppen einen örtlichen Anführer festgenommen hatten. Doch zu dem befürchteten Wiederaufflammen des Bürgerkriegs kam es nicht. Die von den USA gewünschte allgemeine Versöhnung kam jedoch auch nicht zustande, weil die Schiiten auf der ganzen Linie gesiegt hatten.

Im November 2008 übertrug Washington die Befehlsgewalt über die knapp 100 000 Kämpfer, die sunnitischen Gruppierungen angehörten, auf die irakische Regierung. Die allerdings hat nicht einmal 5 Prozent dieser Milizionäre in die irakische Armee eingegliedert und stattdessen deren wichtigste Führer sowie etliche Kämpfer inhaftiert. Die Übrigen wurden aufgefordert, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Damit schaffte man es auf die sanfte Tour, die letzten Gruppen zu schwächen, die dem Staat noch gefährlich werden konnten.

Die Erfolge dieser sunnitischen Gruppen beruhten darauf, dass sie sich als Untergrundkämpfer unerkannt bewegen und durch die Bevölkerung geschützt fühlen konnten. Heute ist ein Teil dieser Exkämpfer staatlich erfasst und damit identifiziert: Die irakischen und die US-Regierungsstellen haben ihre Namen, ihre Adressen und ihre biometrischen Daten. Andere Exkämpfer sind untergetaucht, einige von ihnen im Ausland. Aufgrund dieser Erfahrungen bewerten viele sunnitische Führer ihre Allianz mit den USA im Rückblick als Fehler.

Bei den Parlamentswahlen vom 7. März durften über 500 Kandidaten nicht antreten, weil ihnen Verbindungen zur früheren Baath-Partei vorgeworfen wurden. Die Regierung beschwört also das Schreckgespenst des verhassten alten Regimes herauf, um jede Opposition zum Schweigen zu bringen und die Bevölkerung einzuschüchtern. Unter den abgelehnten Bewerbern sind Nationalisten, Sunniten, aber auch viele Schiiten. Ihr Ausschluss von den Wahlen ist ohne jede rechtliche Grundlage und ein deutliches Zeichen dafür, dass ein autoritäres Regime im Entstehen ist.

Die gegenwärtige Regierung ist korrupt, brutal und repressiv, aber auch stark. Mit dem Selbstbewusstsein des Siegers zeigt sie sich entschlossen, ihre Autorität durchzusetzen. Das heißt auch, dass mit einer Aussöhnung zwischen den Glaubensrichtungen nicht zu rechnen ist – Nuri al-Maliki braucht sie nicht mehr. Der Präsident entwickelt sich mehr und mehr zu einem Autokraten. Doch immerhin gibt es noch das Gegengewicht der anderen politischen Fraktionen und eines Parlaments, das sein Recht auf Kontrolle des Staatshaushalts entschlossen wahrnimmt.

So zerstritten es auch sein mag, das schiitische Lager hat, zum Nachteil von Sunniten und Laizisten, gesiegt. Die Schiiten bauen ihren Einfluss im Staatsapparat und in den Sicherheitsorganen kontinuierlich aus – und können sich auf den Rückhalt aus Washington verlassen. Währenddessen stürzen sich die USA wieder in ihren alten Krieg in Afghanistan und versuchen deshalb, ihren Rückzug aus dem Irak möglichst gut zu verkaufen. Dort könnte, nachdem eine neue Ordnung etabliert ist, tatsächlich wieder Ruhe einkehren. Die Bilanz des Irakkriegs bleibt: hunderttausende Tote, Millionen Flüchtlinge, ein zerstörtes Land und neue Instabilität in der gesamten Nahostregion.

Fußnoten: 1 Weder zu den Bevölkerungsanteilen der ethnischen Gruppen (Araber, Kurden und Turkmenen) noch zum zahlenmäßigen Verhältnis von Sunniten und Schiiten existieren verlässliche Angaben. Feststeht allerdings, dass die Schiiten die Mehrheit stellen. 2 Siehe Alain Gresh, „Trügerische Ruhe im Irak“, Le Monde diplomatique, März 2008.

Aus dem Französischen von Edgar Peinelt

Nir Rosen ist Journalist und wissenschaftlicher Mitarbeiter des New York University Center on Law and Security sowie Autor von: „In the Belly of the Green Bird – The Triumph of the Martyrs in Iraq“, New York (Free Press) 2006.

Le Monde diplomatique vom 12.03.2010, von Nir Rosen